er sei
„der derzeit radikal beste mozart-dirigent“, liest man am vormittag in der „süddeutschen
zeitung“, in einer geradezu euphorischen
besprechung seiner „tito“-première bei den salzburger festspielen. am abend erlebt
man, entsprechend konditioniert und gespannt, diesen teodor currentzis dann
live, mit mozarts requiem in ingolstadt. der magere, bleiche grieche trägt ein
freifallendes schwarzes hemd mit stehkragen und eine hautenge schwarze hose.
dieses eher atypische outfit unterstützt die dynamik seines dirigats und unterstreicht
sein showtalent und seinen spirituellen zugang zum werk gleichermassen. und
tatsächlich: so hat man mozarts requiem noch nie gehört. mit ungewohnten tempi,
ungewohnten pausen, ungewohnten akzenten – so frisch, so aufgekratzt, so zornig
und so innig. die mitglieder von currentzis´ musicaeterna-orchester und –chor
aus dem russischen perm dürften im schnitt exakt so alt, resp. so jung sein wie
mozart, als er diese musik kurz vor seinem tod komponierte. das gleiche gilt
für die vier solisten, darunter – hingebungsvoll und sphärisch – der luzerner
mauro peter (vom programmheft als „shootingstar unter den jungen
tenören“ gefeiert). die durchgehende jugendlichkeit dieses ensembles schafft
phänomenale klanggebilde, ein vom ersten bis zum letzten takt aufwühlendes mozart-erlebnis.
nicht enden wollender beifall. dass sich der audi-konzern, der gerade mit
beiden beinen tief im diesel-morast steckt, für den abschluss seiner
traditionellen ingolstädter sommerkonzerte ausgerechnet ein requiem aussuchte,
ist eine andere geschichte.
Sonntag, 30. Juli 2017
Freitag, 28. Juli 2017
MÜNCHEN: TIEFER SCHWEB
mit
marthaler-inszenierungen verhält es sich wie mit freitag-taschen: alles schon gesehen,
alles schon gehabt, es gibt immer wieder neue und sie gleichen immer wieder den
alten. more of the same. jetzt also "tiefer schweb“ an den münchner
kammerspielen. der tiefe
schweb ist die tiefste stelle des bodensees, 251 meter unter der oberfläche;
hier trifft sich der nationale sicherheitsrat der vereinigten bodenseeverwaltung
in der klausurdruckkammer 55b, die bei marthaler – natürlich – mit schwerer
eiche getäfelt und mit einem stolzen kachelofen bestückt ist. die acht
mitglieder treffen sich, um… ja um was eigentlich? um über die zukunft der über
ihnen in schiffen parkierten „menschen mit temporärheimat“ und ihre
nebenwirkungen zu beraten. sie machen das an ihrem sitzungstisch wie die
garstigsten vereinsmeier, singen dazu unvermittelt liedli der geschwister
schmid und bach-kantaten, also ziemlich alles, was nicht zusammengehört. ueli
jäggi und walter hess (das ensemble wird je hälftig von den kammerspielen und
der marthaler-familie gestellt) diskutieren am pissbecken nicht-könnend über
das nicht-wollen im sinne heideggers, hassan akkouch muss als bajuwarisierter
libanese fehlerfrei sämtliche zutaten der weisswurst aufzählen und zeigt dann
auch gleich noch die artverwandtschaft von schuhplattler und breakdance, annette
paulmann gibt grossartig selbstverliebt die „fischerin vom bodensee“ – und als
ob das alles nicht reichen würde, geraten die jungs mit drei hammondorgeln auch
noch ganz übel ins simonandgarfunkeln. das ganze ist nicht der ultimative
beitrag zur lösung der migrationskrise, aber eine bitterböse persiflage auf
all jene behörden, die auch nicht können und/oder nicht wollen. ein bunter
abend mit, jawohl, tiefgang (251 meter). irgendwie passt halt in so eine
marthaler-inszenierung einfach doch mehr hinein als in eine freitag-tasche. und
jeder redundanz-fetischist wird sich auch die nächste wieder angucken.
Donnerstag, 27. Juli 2017
ROMA: NABUCCO, OUTDOOR
erst
mussten die zahllosen prostituierten weg. als in den fünfziger jahren die
tradition der opernaufführungen in den ruinen der caracalla-thermen ihren
anfang nahm, wurden jeweils am nachmittag alle prostituierten vom riesigen areal
beim circo massimo vertrieben. auf dass der kulturgenuss der römer society
ungetrübt sei. und die flugzeuge flogen ciampino an diesen abenden von süden an,
um die klassische musik nicht zu stören. tempi passati. geblieben ist das
sommerliche festival, geblieben ist die grandiose kulisse. federico grazzini
nimmt die wuchtigen ruinen zum ausgangspunkt seiner „nabucco“-inszenierung, er
ergänzt sie im vordergrund mit resten eines zerbombten bunkers: in diesem
umfeld von terror und zerstörung erzählt er die geschichte der hebräer zeitlos
und ewiggültig - als trauma eines volkes, das auf der flucht ist vor
herrschern, die ihre macht missbrauchen, eines volkes, das sich nach freiheit
sehnt und einer neuen zukunft. es sind bilder, wie wir sie aus syrien, aus
afghanistan, aus afrika kennen. und von der balkanroute und der italienischen
südküste. sie wirken umso beklemmender, weil dirigent roberto rizzi brignoli
der versuchung widersteht, einfach auf die süffigen effekte und die publikumswirksamen
hits von verdis musik zu setzen, sondern mit dem orchestra del teatro
dell’opera di roma vor allem den menschlichen regungen, abgründen und
hoffnungen in diesen melodien nachspürt, vielschichtig und präzis. auch die
solisten, allen voran csilla boross als abigaille und gevorg hakobyan als
nabucco, ziehen charakterporträts der grossen opernpose vor. ein rundum
geglückter abend also, der beweist, dass man eine oper auch auf einer riesigen
bühne und vor 3500 zuschauerinnen und zuschauern anrührend aufführen kann, fern aller
diven-gesten.
Mittwoch, 26. Juli 2017
ROMA: LA MAGNANI
„sono
contenta di stare qui in casa mia da sola per giorni, quando sono da sola, non
mi annoio mai. ma anche quando io non sono sola fisicamente, posso essere sola
spiritualmente, è facile per me essere sola anche in mezzo una folla. poi, a
livello spirituale, sono stata da sola tutta la vita.” da sola per giorni, da
sola tutta la vita. das italienische „solo/sola“ kann sowohl „einsam“ als auch „allein“
bedeuten. anna magnani (1908-1973) hatte eine schwierige jugend (den vater hat
sie nie gekannt, die mutter hat sich nach ägypten davongemacht) und wenig glück
mit ihren beziehungen als erwachsene. vielleicht sind es vor allem diese bitteren
erfahrungen, die sie zu einer so aussergewöhnlichen und aussergewöhnlich
authentischen filmschauspielerin gemacht haben. das vittoriano, mitten im
touristischen zentrum roms, zeigt jetzt bisher unveröffentlichte schwarzweissbilder,
die diva hinter den kulissen, bei partys mit freunden, in ihrer wohnung, dazu sorgfältig
ausgewählte wochenschau- und interviewsequenzen, die einem, wenn man sich zeit
lässt, diese frau sehr nahe bringen – und noch sympathischer machen. mamma
roma, ganz privat. „non ho fatto mai il minimo sforzo per sembrare un’altra.“
was für ein satz für eine grosse schauspielerin.
Montag, 24. Juli 2017
ROMA: CROSS THE STREETS
metro, s-bahnen und regionalzüge wurden und werden in keiner stadt der welt so konsequent und kontinuierlich besprayt wie in rom (und so wenig in ihren ursprünglichen zustand zurückversetzt). das rollmaterial, das das magliana-depot im süden der stadt verlässt, ist ein gigantischer querschnitt durch über 30 jahre jugendkultur, auflehnung, farben- und formensprache. das macro (museo d'arte contemporanea roma) widmet dem phänomen mit "writing a roma 1979-2017" jetzt eine eigene schau. sie zeigt, wie die graffiti-ausstellung in der galleria la medusa, die erste ausserhalb der usa, 1979 die initialzündung gab, wie sich das erscheinungsbild der stadt durch die writings mehr und mehr zu verändern begann, wie die jungen künstler ihre nächtlichen werke tagsüber mit fotos und videos in einer geradezu atypischen sorgfalt dokumentieren. dieser ebenso faszinierende wie liebevolle einblick bringt viel lokalkolorit zur parallel laufenden, umfassenden ausstellung "cross the streets", die den grössten der zunft (keith haring, obey the giant, wk interact) grosszügig raum gewährt. street art im museum? ein widerspruch, gewiss. bei 36 grad im schatten lässt sich damit allerdings recht gut leben. dass die exponate hier aus dem zusammenhang gerissen sind, ermöglicht neue zugänge, eine art sehschule. sie öffnet die augen für eine entwicklung, die im untergrund begann und uns heute im alltag vielfältig begegnet, in der mode, in der kunst, in der werbung: einst protest, jetzt pop-communication. die welt ist farbiger geworden.
Donnerstag, 20. Juli 2017
MÜNCHEN: SCHWANGER IM KIRSCHGARTEN
"brigitte hobmeier wird mutter! die rolle der scharlotta iwanowna übernimmt daher bis zur sommerpause ensemblemitglied thomas hauser." was für eine umbesetzung, die der beizettel im programmheft da knapp annonciert: mann statt frau, newcomer statt diva, die münchner kammerspiele kennen gar nichts. hauser geht die rolle der gouvernante in tschechows "kirschgarten" leise und subtil an, flüsternd fast, die einzige figur, die weiss, dass sie nicht weiss, wer sie ist; die einzige, die zugibt, dass sie keine lösung hat in diesen zeiten des wandels; die einzige, die die anderen allesamt durchschaut, was sich gleich nach der pause zeigt, wo iwanowna/hauser in einem fulminanten "was bisher geschah"-solo die anderen elf figuren im höllentempo imitiert und karikiert und sortiert. coole umbesetzung, die hobmeier muss sich während der schwangerschaft nicht grämen. eigentlich haben wir uns diese vorstellung aus einem ganz anderen grund angeschaut: sie trägt den stempel von nicolas stemann (hausregisseur) und benjamin von blomberg (chefdramaturg), das sind die beiden, die am schauspielhaus zürich als co-leitung die nachfolge von barbara frey antreten. hier machen sie gleich klar: nicht nur im kirschgarten ist gröberer umbruch angesagt, sondern auch im theater, das alte wird abgeholzt, das neue hat - nicht bloss an den kammerspielen - noch keine klaren konturen. die bühne ist bis auf ein paar mikroständer leergefegt, der schwere rote samtvorhang mit goldkante wird in wilder choreografie hin und her gezogen und schliesslich runtergerupft. unruhe, ungewissheit, planlosigkeit, lethargie - den tschechowschen blues, den kriegt diese inszenierung ganz trefflich hin. trefflich und zukunftsschwanger.
Sonntag, 9. Juli 2017
GISWIL: SEELENVERWANDTE AUS GEORGIEN
14 männer
in wadenlangen schwarzen röcken, edler stoff, elegant geschnitten. man könnte
sie für priester halten oder für magier, wären da nicht die säbel vor dem
bauch, die patronentaschen über der brust und die steinschleuder auf der
schulter. so hat die georgische tracht, die der didgori choir aus tiflis trägt,
etwas martialisches und auch opernhaftes. doch diese männer singen keine
kriegshymnen und keine opern. sie singen die lieder aus georgien, polyphone, teils dissonante
gesänge, die im alltag ihrer heimat wurzeln und seit generationen grösstenteils
mündlich überliefert wurden und werden: lieder über die landarbeit, über die
sonne, über die karge landschaft, über die liebe. kräftige stimmen, archaische
melodien mit vielen vokalen und vielen obertönen – und die naturkulisse mit den
bäumen im vorder- und den felsen im hintergrund könnte passender nicht sein. „obwald“.
das volkskulturfest im wald bei giswil. schon zum zwölften mal. und wieder mit
einer grandiosen entdeckung. es berührt tief, als die didgoris ein melancholisches
schlaflied anstimmen, wie es in georgien eben nicht nur grossmütter und mütter
singen, sondern auch kräftige bärtige männer. alle klischees werden überwunden
und einmal mehr bei obwald alle grenzen: nach dem begeisterten schlussapplaus
setzen die jodlerklubs bärgsee lungern und echo sörenberg gemeinsam zu einem
weiteren naturjuiz an und die georgier gesellen sich zu ihnen und stimmen ein. seelenverwandte.
martin hess, der obwald-zampano mit der genialen spürnase, hat sie gesucht und
einmal mehr gefunden. zutiefst seelenverwandte.
Sonntag, 2. Juli 2017
RIGA: WASSER VOLLER SEELEN
ich überquerte alle flüsse,
ihr wasser ist voller seelen.
(aus einem lettischen volkslied)
doch ich konnte die daugava nicht überqueren,
ich konnte die daugava nicht überqueren,ihr wasser ist voller seelen.
(aus einem lettischen volkslied)
die gesänge und die gedichte der letten sind meistens in moll gehalten, voller melancholie, poesie gewordene komplizierte vergangenheit. doch jetzt tanzen sie wieder am ufer der daugava und sie singen und sie trinken, auch auf den plätzen der altstadt schlagzeug- und bierorgien. selten in einer nördlichen stadt so viel südliche lebenslust erlebt. deutlich mehr dur als moll. das tut den toten seelen gut und den lebenden.
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