„wir
machen’s mit circa 80 musikern weniger als üblich!“ simon brusis als wunderbar
überdrehter conférencier, dem es dann grössten spass macht, im weiteren verlauf
des abends auch noch den advokaten dr. blind, den sturzbetrunkenen
zellenschliesser frosch und adeles ziemlich tuntige schwester ida zu spielen,
warnt das publikum gleich zu beginn: das wird hier keine handelsübliche
„fledermaus“. 80 musiker weniger, nämlich genau zwei. und wie sich markus
reschtnefki am klavier und mit gitarre und martin huber mit schlagwerk von
pauke bis flasche johann strauss‘ walzerseligkeit erobern, um sie immer wieder
auf die spitze zu treiben und aufs übelste, also grossartigste zu parodieren,
das allein schon lohnt den gang ins theater neumarkt in zürich. operette wird
hier normalerweise nicht gespielt und jetzt dafür radikal. ganz nach dem motto:
wenn wir schon nicht singen können, dann aber wenigstens zünftig. frisch und
frech und pointe um pointe demontiert regisseurin friederike heller mit dem
siebenköpfigen ensemble den schönen schein – kurz: was sie immer schon über die
feine wiener gesellschaft wissen wollten, hier bleibt ihnen nichts erspart,
hier gibt’s neben dem lametta-regen die abgrundtiefen blicke hinter bademäntel
und smokings, in décolletés und höschen, hier gibt’s intrigen und champagner à
discretion und kokain für alle, „allerdings erst ab fünf“. der feine „ball beim
prinzen orlofsky“ im zweiten akt ist hier kein ball, sondern eine orgie der
gröberen sorte, wo nichts, wirklich gar nichts ausgelassen wird, dekadenz
total. „die fledermaus unplugged“ quasi. ja, liebe leute, so war es wirklich, damals an der schönen
blauen donau. oma diesmal vielleicht also doch eher dispensieren vom
operettenbesuch.
Donnerstag, 23. März 2017
Montag, 20. März 2017
MÜNCHEN: PASOLINIS SCHWEINESTALL
dreckgeschäfte
während dem krieg, dreckgeschäfte nach dem krieg, schweinische verworfenheit.
julian, der sohn des rüstungsindustriellen klotz, den pier paolo pasolini
ziemlich unverblümt dem rüstungsindustriellen krupp nachempfunden hat, hält das
alles nicht aus: die perversionen und verbrechen im imperium seines vaters,
dessen widerlicher geschäftsfreund, ein ehemaliger kz-arzt, die mutter, die nur
aus oberfläche besteht. mit "der schweinestall" ("porcile") schrieb pasolini 1966 eine
bitterböse satire auf das kapitalistische nachkriegsdeutschland. der kroatische
regisseur ivica buljan zeigt sie im marstall des münchner residenztheaters als
knallbunten bilderbogen mit trash-kostümen und italo-schnulzen – ohne ihr
allerdings die provokative schärfe zu nehmen. im gegenteil: er verdeutlicht,
wie sehr der tanz auf dem vulkan auch in zeiten der zunehmenden globalisierung
der ultimative modetanz geblieben ist. das grosse welttheater also. und julian?
philip dechamps spielt ihn als zunächst abgekehrten, dann zunehmend angewiderten
und verzweifelten jungen mann, der den vielfältigen albträumen mit heissblütigen
monologen begegnet, um schliesslich – blass und nackt – wärme und widerstand
nur noch bei den schweinen im stall zu finden. pasolini schickt, hübscher
theatertrick, den philosophen spinoza zu julian in den koben, hier sibylle
canonica mit funkelnden augen und roter mähne ganz grossartig als kritischer
und warmherziger lehrer und freund. er kommt zu spät. am ende wird julian von
den schweinen aufgefressen. musik! scheinwerfer! showtime! die drei schweine
sind echt.
Sonntag, 19. März 2017
MÜNCHEN: TAGE DER DUNKELHEIT
ein
grauenvoller, herzzerreissender schrei beendet die „tage der dunkelheit“ am
münchner volkstheater. es ist der schrei von ghandari. der schrei einer mutter.
vor ihr, zwischen zwei wie vom blitz gespaltenen riesigen metallplatten, die
auf der kleinen bühne das schlachtfeld bilden, liegt ihr ältester sohn
duryodhana, mit zerschmetterten lenden, sterbend. im letzten quälenden schmerz
stammelt er noch: „das ist die folge unersättlicher gier.“ die blutgetränkte
rivalität der kauravas und der pandavas, eine episode nur im unerschöpflichen
mahabharata, veranlasste den indischen dramatiker bhasa im 5.jahrhundert zu
einem einakter, den der junge indische regisseur sankar venkateswaran am
volkstheater mit einer schauspielerin und fünf schauspielern als mehrstimmiges
klagelied inszeniert. ist es möglich, den ozean von blut zu überwinden? sie
beklagen die rache und die regelverstösse, sie beklagen die schlachten und die
parteilichkeit des gottes krishna. sie beklagen das alles, ohne ihm entrinnen
zu können. gerade mal 50 minuten dauert das stück und wirkt doch in seiner
dramatischen und politischen wucht wie ein abendfüllendes epos. in wechselnden
rollen sind die jungen männer handelnde und beobachtende, mal haben sie wie
gierige tiger das feuer der kämpfer in den augen, mal die tränen der opfer. durch
die von den - sichtlich mitgenommenen - jungs mit gewalt geladene atmosphäre
irrlichtert ghandari, die mutter, wie eine blinde seherin, wie eine braut des
todes: „was übrig blieb, war krieg. seit siebzehn tagen tobt der kampf. heute
ist der achtzehnte.“
Donnerstag, 16. März 2017
BEIJING: SILBERSALZ GEGEN WOLKENFÄUSTE
„erst wochen später, und nur als ein
von vielen widersprüchen durchzogenes gerücht, sollte in der purpurstadt und am
ende selbst in den gassen von beijing geflüstert werden, dass es die astrologen
gewesen waren, die astrologen!, die eine drohende widerlegung ihrer günstigen
wetterprognose abwehren wollten, indem sie feuerwerksraketen mit silbersalz
befüllt und damit eine tagelang vor den höhenzügen des shan-gebirges gestaute
wolkenwand beschossen hatten. das hoch über den gipfeln am himmel ausgesäte
silbersalz sollte die wolkenfäuste öffnen und regen, hagel, schnee oder was
immer sie enthielten, weit vor der stadt und vor allem: weit vor den augen des
erhabenen, herabrauschen, hageln oder schneien lassen. aber wie von den
krachenden, im tageslicht blass wie wasserzeichen an den himmel gekritzelten
feuerwerksgarben angezogen, hatte sich zu den von felswänden und aus den
schluchten des shan-gebirges schlagenden echos der explosionen ein böiger wind
erhoben, der die schneeschauer noch hoch über dem erdboden verdichtete und
davontrug, bis in die himmelsareale über der verbotenen stadt – und seine
kristalline fracht erst dort endlich los und fallen liess.“ (christoph ransmayr,
"cox oder der lauf der zeit", s. fischer, s.56) – wieder mal so ein exzellentes stück literatur,
vor dessen sprachmacht und -reichtum man in ehrfurcht erstarrt und nur eines zu
denken vermag: ich schreibe nie wieder einen satz.
Montag, 13. März 2017
MÜNCHEN: NŌ THEATER
immer
wieder wird die tokioter u-bahn-station roppongi, die dominic huber auf die
bühne der münchner kammerspiele gebaut hat, in psychedelisches grün und lila
getaucht. dann erscheint aus dem hintergrund schleichend stefan merki, macht
zur heulenden musik von kazuhisa uchihashi eigenartige schlurfschritte, rudert
zeitlupenartig mit den armen und deklamiert dazu japanische wirtschaftsgeschichte:
plaza-abkommen, bubble economy, staatsanleihen, lost decades. merki ist der
geist eines investmentbankers, der sich hier vor die u-bahn geworfen hat und
bei einem jungen passanten jetzt vergebung sucht für seine sündenfälle. während
die worte wikipediamässig klingen, haben die bewegungsmuster von geist und
jungem mann etwas ungewohntes, undurchschaubares, einlullendes. das nō theater ist
ein theater der übergänge; geister suchen mit kollektiven erinnerungen aufgeladene
orte und verunsichern mit kryptischen anspielungen. regisseur toshiki okada
führt diese stark strukturierte traditionelle form an den kammerspielen mit
neuem inhalt und europäischen schauspielern eindrücklich zusammen. nach dem
schräg-witzigen intermezzo (ebenfalls fixes nō-element), in dem anna drexler
die u-bahn-station und das publikum lustvoll an verschiedenen varianten des
rollen-lernens teilhaben lässt, taucht im zweiten teil der „geist des
feminismus“ auf: eine politikerin, die im parlament von tokio bessere
unterstützung für schwangere und mütter forderte, weil das land sonst keinen
nachwuchs und keine zukunft habe – und dafür mit sexistischen zwischenrufen
niedergemacht wurde. sie steht da, kalt, aseptisch, ein dunkler engel. alles in
allem eine ausgesprochen depressive bilanz für japan: „über 30 jahre hat sich
dieser ort in eine wüste verwandelt.“ ich war noch nie in japan. ich sah nō
theater noch nie im original. ich habe keine vergleichsmöglichkeiten. geister
habe ich mir bis jetzt eindeutig sinnlicher vorgestellt.
Sonntag, 12. März 2017
MÜNCHEN: JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN
die
einzigen warmen worte im ganzen stück kommen von rovo (jeff wilbusch), dem
geistig behinderten jungen, in dem alle nur den dorfdeppen sehen. in seiner
grenzenlosen verzweiflung lehnt er sich im unterholz an abram (katja bürkle),
den alle nur „du schwule drecksau“ nennen. er fühlt sich wohl bei ihm und sagt
ihm das auch. sonst: in jeder ecke dieses dorfes nur missgunst und kleinkrieg,
in jedem gesicht verbitterung, in jeder bemerkung kaltherzigkeit („und ich
dachte, der ganze dreck mit dir sei liebe“, „hätt´ ich dich doch gleich nach
der geburt erwürgt“). martin kušej inszenierte martin sperrs „jagdszenen aus
niederbayern“ vor zwei jahren an den münchner kammerspielen und übernahm sie
jetzt an sein residenztheater. er strich das „nieder“ aus dem stücktitel
(reinöd ist überall) und beginnt die szenenfolge von hinten, wo die
dorfgemeinschaft den aussenseiter abram jagt und erschiesst; in abweichung zum
original, wo er eingesperrt wird. bayern unmittelbar nach dem krieg, jeder
gegen jeden, opfer als täter als opfer. kušej illustriert „das phänomen der
jagbarkeit des menschen“ mit archaischen bildern: eine dunkle bretterwand, eine
weiss getünchte mauer, bedrohliche schlagschatten, viel blut von tieren und
menschen – und dazwischen fallen die einzelnen sätze wie axthiebe. axthiebe.
axthiebe. die metzgerin, der knecht, die dorfhure, die kriegswitwe, alle säen
und ernten rotz und mist und niedertracht. „ich komme aus exakt einem solchen
dorf und kenne das alles zu genau“, wird kušej auf der ersten seite im
programmheft zitiert. es ist ein kosmos, den wir kennen müssen, wenn wir uns
kennen wollen.
Donnerstag, 9. März 2017
WIEN: VERGESST ARTHOUSE
josef hader, kabarettphilosoph, schauspieler und neuerdings auch filmregisseur ("wilde maus") skizziert für die "süddeutsche zeitung" den typischen österreichischen arthouse-film: "demenzkranker ehemaliger kz-kommandant hält ein kind im keller gefangen. und vergisst es."
Donnerstag, 2. März 2017
BASEL: DON GIOVANNI IN DER DACKELKACKE
was
bei diesem „don giovanni“ am theater basel zuerst stört: das hässlichste
bühnenbild seit mindestens mozarts tod, schäbige dunkelgraue stellwände und
dutzende von schäbigen dunkelbraun lackierten türen, der ganze abend wird auf
diese weise in die modefarbe dackelkacke getaucht – und das für „die oper aller
opern“ (e.t.a. hoffmann). was zweitens stört: mit seinem berüchtigten applaudierzwang
(xeirokrotorrhoe, siehe auch 19.1.2014) zerlegt das basler publikum leporellos
registerarie an der falschesten stelle in zwei teile; biagio pizzutis
meisterlicher gesang wird zerklatscht und zerhackt. was drittens stört: chefdirigent
erik nielsen kämpft den ganzen abend mit der koordination zwischen den solisten
oben auf der bühne und dem orchester unten (oder kämpft er gar nicht?). daneben
allerdings viel freude! ein bezaubernd junges und attraktives ensemble lässt
sich von regisseur richard jones zu höchstleistungen animieren. noch nie haben
wir donna anna, donna elvira und zerlina so vielschichtig erlebt, die ganze
ambivalenz der verführten erleidend, vom verzehrenden zum verzweifelnden und
wieder zurück. und der erst 25jährige mailänder bass riccardo fassi als don giovanni
ist schlicht hinreissend, tolle stimme, tolle figur, süchtig nicht bloss nach
den frauen, ihren düften, ihrer wärme, ihrer haut, sondern süchtig auch nach
den nebenwirkungen: immer wieder tritt er in den hintergrund und betrachtet
geniesserisch das emotionale chaos, das er mit seinen affären überall
anrichtet. den finalen höllensturz tritt der elegante schuft hier
konsequenterweise gar nicht selber an, sondern schickt seinen diener vor. und
amüsiert sich weiter. das erotische prinzip überlebt die ganze dackelkacke.
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