Donnerstag, 23. März 2017

ZÜRICH: DIE FLEDERMAUS, UNPLUGGED

„wir machen’s mit circa 80 musikern weniger als üblich!“ simon brusis als wunderbar überdrehter conférencier, dem es dann grössten spass macht, im weiteren verlauf des abends auch noch den advokaten dr. blind, den sturzbetrunkenen zellenschliesser frosch und adeles ziemlich tuntige schwester ida zu spielen, warnt das publikum gleich zu beginn: das wird hier keine handelsübliche „fledermaus“. 80 musiker weniger, nämlich genau zwei. und wie sich markus reschtnefki am klavier und mit gitarre und martin huber mit schlagwerk von pauke bis flasche johann strauss‘ walzerseligkeit erobern, um sie immer wieder auf die spitze zu treiben und aufs übelste, also grossartigste zu parodieren, das allein schon lohnt den gang ins theater neumarkt in zürich. operette wird hier normalerweise nicht gespielt und jetzt dafür radikal. ganz nach dem motto: wenn wir schon nicht singen können, dann aber wenigstens zünftig. frisch und frech und pointe um pointe demontiert regisseurin friederike heller mit dem siebenköpfigen ensemble den schönen schein – kurz: was sie immer schon über die feine wiener gesellschaft wissen wollten, hier bleibt ihnen nichts erspart, hier gibt’s neben dem lametta-regen die abgrundtiefen blicke hinter bademäntel und smokings, in décolletés und höschen, hier gibt’s intrigen und champagner à discretion und kokain für alle, „allerdings erst ab fünf“. der feine „ball beim prinzen orlofsky“ im zweiten akt ist hier kein ball, sondern eine orgie der gröberen sorte, wo nichts, wirklich gar nichts ausgelassen wird, dekadenz total. „die fledermaus unplugged“ quasi. ja, liebe leute, so war es wirklich, damals an der schönen blauen donau. oma diesmal vielleicht also doch eher dispensieren vom operettenbesuch.

Montag, 20. März 2017

MÜNCHEN: PASOLINIS SCHWEINESTALL

dreckgeschäfte während dem krieg, dreckgeschäfte nach dem krieg, schweinische verworfenheit. julian, der sohn des rüstungsindustriellen klotz, den pier paolo pasolini ziemlich unverblümt dem rüstungsindustriellen krupp nachempfunden hat, hält das alles nicht aus: die perversionen und verbrechen im imperium seines vaters, dessen widerlicher geschäftsfreund, ein ehemaliger kz-arzt, die mutter, die nur aus oberfläche besteht. mit "der schweinestall" ("porcile") schrieb pasolini 1966 eine bitterböse satire auf das kapitalistische nachkriegsdeutschland. der kroatische regisseur ivica buljan zeigt sie im marstall des münchner residenztheaters als knallbunten bilderbogen mit trash-kostümen und italo-schnulzen – ohne ihr allerdings die provokative schärfe zu nehmen. im gegenteil: er verdeutlicht, wie sehr der tanz auf dem vulkan auch in zeiten der zunehmenden globalisierung der ultimative modetanz geblieben ist. das grosse welttheater also. und julian? philip dechamps spielt ihn als zunächst abgekehrten, dann zunehmend angewiderten und verzweifelten jungen mann, der den vielfältigen albträumen mit heissblütigen monologen begegnet, um schliesslich – blass und nackt – wärme und widerstand nur noch bei den schweinen im stall zu finden. pasolini schickt, hübscher theatertrick, den philosophen spinoza zu julian in den koben, hier sibylle canonica mit funkelnden augen und roter mähne ganz grossartig als kritischer und warmherziger lehrer und freund. er kommt zu spät. am ende wird julian von den schweinen aufgefressen. musik! scheinwerfer! showtime! die drei schweine sind echt.

Sonntag, 19. März 2017

MÜNCHEN: TAGE DER DUNKELHEIT

ein grauenvoller, herzzerreissender schrei beendet die „tage der dunkelheit“ am münchner volkstheater. es ist der schrei von ghandari. der schrei einer mutter. vor ihr, zwischen zwei wie vom blitz gespaltenen riesigen metallplatten, die auf der kleinen bühne das schlachtfeld bilden, liegt ihr ältester sohn duryodhana, mit zerschmetterten lenden, sterbend. im letzten quälenden schmerz stammelt er noch: „das ist die folge unersättlicher gier.“ die blutgetränkte rivalität der kauravas und der pandavas, eine episode nur im unerschöpflichen mahabharata, veranlasste den indischen dramatiker bhasa im 5.jahrhundert zu einem einakter, den der junge indische regisseur sankar venkateswaran am volkstheater mit einer schauspielerin und fünf schauspielern als mehrstimmiges klagelied inszeniert. ist es möglich, den ozean von blut zu überwinden? sie beklagen die rache und die regelverstösse, sie beklagen die schlachten und die parteilichkeit des gottes krishna. sie beklagen das alles, ohne ihm entrinnen zu können. gerade mal 50 minuten dauert das stück und wirkt doch in seiner dramatischen und politischen wucht wie ein abendfüllendes epos. in wechselnden rollen sind die jungen männer handelnde und beobachtende, mal haben sie wie gierige tiger das feuer der kämpfer in den augen, mal die tränen der opfer. durch die von den - sichtlich mitgenommenen - jungs mit gewalt geladene atmosphäre irrlichtert ghandari, die mutter, wie eine blinde seherin, wie eine braut des todes: „was übrig blieb, war krieg. seit siebzehn tagen tobt der kampf. heute ist der achtzehnte.“

Donnerstag, 16. März 2017

BEIJING: SILBERSALZ GEGEN WOLKENFÄUSTE

„erst wochen später, und nur als ein von vielen widersprüchen durchzogenes gerücht, sollte in der purpurstadt und am ende selbst in den gassen von beijing geflüstert werden, dass es die astrologen gewesen waren, die astrologen!, die eine drohende widerlegung ihrer günstigen wetterprognose abwehren wollten, indem sie feuerwerksraketen mit silbersalz befüllt und damit eine tagelang vor den höhenzügen des shan-gebirges gestaute wolkenwand beschossen hatten. das hoch über den gipfeln am himmel ausgesäte silbersalz sollte die wolkenfäuste öffnen und regen, hagel, schnee oder was immer sie enthielten, weit vor der stadt und vor allem: weit vor den augen des erhabenen, herabrauschen, hageln oder schneien lassen. aber wie von den krachenden, im tageslicht blass wie wasserzeichen an den himmel gekritzelten feuerwerksgarben angezogen, hatte sich zu den von felswänden und aus den schluchten des shan-gebirges schlagenden echos der explosionen ein böiger wind erhoben, der die schneeschauer noch hoch über dem erdboden verdichtete und davontrug, bis in die himmelsareale über der verbotenen stadt – und seine kristalline fracht erst dort endlich los und fallen liess.“ (christoph ransmayr, "cox oder der lauf der zeit", s. fischer, s.56) – wieder mal so ein exzellentes stück literatur, vor dessen sprachmacht und -reichtum man in ehrfurcht erstarrt und nur eines zu denken vermag: ich schreibe nie wieder einen satz.

Montag, 13. März 2017

MÜNCHEN: NŌ THEATER

immer wieder wird die tokioter u-bahn-station roppongi, die dominic huber auf die bühne der münchner kammerspiele gebaut hat, in psychedelisches grün und lila getaucht. dann erscheint aus dem hintergrund schleichend stefan merki, macht zur heulenden musik von kazuhisa uchihashi eigenartige schlurfschritte, rudert zeitlupenartig mit den armen und deklamiert dazu japanische wirtschaftsgeschichte: plaza-abkommen, bubble economy, staatsanleihen, lost decades. merki ist der geist eines investmentbankers, der sich hier vor die u-bahn geworfen hat und bei einem jungen passanten jetzt vergebung sucht für seine sündenfälle. während die worte wikipediamässig klingen, haben die bewegungsmuster von geist und jungem mann etwas ungewohntes, undurchschaubares, einlullendes. das nō theater ist ein theater der übergänge; geister suchen mit kollektiven erinnerungen aufgeladene orte und verunsichern mit kryptischen anspielungen. regisseur toshiki okada führt diese stark strukturierte traditionelle form an den kammerspielen mit neuem inhalt und europäischen schauspielern eindrücklich zusammen. nach dem schräg-witzigen intermezzo (ebenfalls fixes nō-element), in dem anna drexler die u-bahn-station und das publikum lustvoll an verschiedenen varianten des rollen-lernens teilhaben lässt, taucht im zweiten teil der „geist des feminismus“ auf: eine politikerin, die im parlament von tokio bessere unterstützung für schwangere und mütter forderte, weil das land sonst keinen nachwuchs und keine zukunft habe – und dafür mit sexistischen zwischenrufen niedergemacht wurde. sie steht da, kalt, aseptisch, ein dunkler engel. alles in allem eine ausgesprochen depressive bilanz für japan: „über 30 jahre hat sich dieser ort in eine wüste verwandelt.“ ich war noch nie in japan. ich sah nō theater noch nie im original. ich habe keine vergleichsmöglichkeiten. geister habe ich mir bis jetzt eindeutig sinnlicher vorgestellt.

Sonntag, 12. März 2017

MÜNCHEN: JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN

die einzigen warmen worte im ganzen stück kommen von rovo (jeff wilbusch), dem geistig behinderten jungen, in dem alle nur den dorfdeppen sehen. in seiner grenzenlosen verzweiflung lehnt er sich im unterholz an abram (katja bürkle), den alle nur „du schwule drecksau“ nennen. er fühlt sich wohl bei ihm und sagt ihm das auch. sonst: in jeder ecke dieses dorfes nur missgunst und kleinkrieg, in jedem gesicht verbitterung, in jeder bemerkung kaltherzigkeit („und ich dachte, der ganze dreck mit dir sei liebe“, „hätt´ ich dich doch gleich nach der geburt erwürgt“). martin kušej inszenierte martin sperrs „jagdszenen aus niederbayern“ vor zwei jahren an den münchner kammerspielen und übernahm sie jetzt an sein residenztheater. er strich das „nieder“ aus dem stücktitel (reinöd ist überall) und beginnt die szenenfolge von hinten, wo die dorfgemeinschaft den aussenseiter abram jagt und erschiesst; in abweichung zum original, wo er eingesperrt wird. bayern unmittelbar nach dem krieg, jeder gegen jeden, opfer als täter als opfer. kušej illustriert „das phänomen der jagbarkeit des menschen“ mit archaischen bildern: eine dunkle bretterwand, eine weiss getünchte mauer, bedrohliche schlagschatten, viel blut von tieren und menschen – und dazwischen fallen die einzelnen sätze wie axthiebe. axthiebe. axthiebe. die metzgerin, der knecht, die dorfhure, die kriegswitwe, alle säen und ernten rotz und mist und niedertracht. „ich komme aus exakt einem solchen dorf und kenne das alles zu genau“, wird kušej auf der ersten seite im programmheft zitiert. es ist ein kosmos, den wir kennen müssen, wenn wir uns kennen wollen.

Donnerstag, 9. März 2017

WIEN: VERGESST ARTHOUSE

josef hader, kabarettphilosoph, schauspieler und neuerdings auch filmregisseur ("wilde maus") skizziert für die "süddeutsche zeitung" den typischen österreichischen arthouse-film: "demenzkranker ehemaliger kz-kommandant hält ein kind im keller gefangen. und vergisst es."

Donnerstag, 2. März 2017

BASEL: DON GIOVANNI IN DER DACKELKACKE

was bei diesem „don giovanni“ am theater basel zuerst stört: das hässlichste bühnenbild seit mindestens mozarts tod, schäbige dunkelgraue stellwände und dutzende von schäbigen dunkelbraun lackierten türen, der ganze abend wird auf diese weise in die modefarbe dackelkacke getaucht – und das für „die oper aller opern“ (e.t.a. hoffmann). was zweitens stört: mit seinem berüchtigten applaudierzwang (xeirokrotorrhoe, siehe auch 19.1.2014) zerlegt das basler publikum leporellos registerarie an der falschesten stelle in zwei teile; biagio pizzutis meisterlicher gesang wird zerklatscht und zerhackt. was drittens stört: chefdirigent erik nielsen kämpft den ganzen abend mit der koordination zwischen den solisten oben auf der bühne und dem orchester unten (oder kämpft er gar nicht?). daneben allerdings viel freude! ein bezaubernd junges und attraktives ensemble lässt sich von regisseur richard jones zu höchstleistungen animieren. noch nie haben wir donna anna, donna elvira und zerlina so vielschichtig erlebt, die ganze ambivalenz der verführten erleidend, vom verzehrenden zum verzweifelnden und wieder zurück. und der erst 25jährige mailänder bass riccardo fassi als don giovanni ist schlicht hinreissend, tolle stimme, tolle figur, süchtig nicht bloss nach den frauen, ihren düften, ihrer wärme, ihrer haut, sondern süchtig auch nach den nebenwirkungen: immer wieder tritt er in den hintergrund und betrachtet geniesserisch das emotionale chaos, das er mit seinen affären überall anrichtet. den finalen höllensturz tritt der elegante schuft hier konsequenterweise gar nicht selber an, sondern schickt seinen diener vor. und amüsiert sich weiter. das erotische prinzip überlebt die ganze dackelkacke.