Freitag, 13. Januar 2017

ZÜRICH: GERÖLL IM SALAT

wie stellt man sich herrn geiser vor, den protagonisten aus „der mensch erscheint im holozän“, der in einem abgeschiedenen tessiner tal mit dem unwetter und der unbill der vergesslichkeit hadert? vielleicht wie max frisch selber. oder wie onkel sepp, bei dem jetzt auch alzheimer diagnostiziert wurde. wohl eher nicht wie martin butzke. der schauspieler am neumarkt-theater in zürich ist 42, lange dünne blonde strähnen, stoppelbart – aber keinesfalls eine fehlbesetzung. wie er diesen 85-minuten-monolog eines um eine generation älteren menschen hinlegt, das ist grosse schauspielkunst. er spricht in der dritten person von herrn geiser und ist gleichzeitig herr geiser, distanz und intime nähe in einem, ein überzeugender ansatz von neumarkt-chefdramaturg ralf fiedler. der kahle raum an der chorgasse wird unvermittelt zum tessiner rustico, weil martin butzke so bildhaft spricht, weil er uns bei geisers denken zuschauen und auch mitleiden lässt, weil er pausen setzt, wenn die bilder sich überschlagen: geröll im salat, geröll im kopf. herr geiser wird zunehmend unruhiger, zunehmend aggressiver. auf einem baustellenplastik versucht er den goldenen schnitt zu rekapitulieren, klebt als gedankenstützen dutzende von zetteln an die wände, den wodka für die bloody mary kippt er in die pelati-büchse – das chaos im hirn wird zum chaos im raum. schliesslich baut er eine kleine luftseilbahn quer durchs zimmer, mit der er ebenso liebevoll wie umständlich seine letzte bergwanderung illustriert, die auch eine nahtoderfahrung sein soll: "ein weg ist ein weg auch im nebel, ein weg ist ein weg auch in der nacht." so wird aus max frischs grossartiger demenz-etüde ein intensiver und berührender theaterabend.

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