der kultfilm "les enfants du paradis" von marcel carné und jacques
prévert (1945) hat es dem brasilianischen choreographen fernando melo
angetan: liebe zum theater, liebe im theater, grosse gefühle, bitteres
ende, was für ein stoff. melo nimmt fragmente dieser tragischen
liebesgeschichte, die in den oberen rängen des theaters spielt, im olymp
eben, auf den billigen plätzen, und komponiert daraus einen
zauberhaften tanzabend fürs luzerner theater; mit musik von chopin,
debussy und peteris vasks, live und ausgesprochen stimmig dargeboten von
einem streichquartett und einem pianisten. der abend besticht vor allem
durch seine phänomenalen visuellen effekte: menschen im spiegel werden
lebendig, zu erotischen träumen tauchen zärtlich arme und beine der
ersehnten abwesenden aus dem nichts in den betten auf, tänzer fliegen
scheinbar schwerelos durch die lüfte, ein liebhaber verschwindet hinter
einem vorhang und nach sekundenbruchteilen nur gibt dieser vorhang einen
anderen liebhaber frei. freundinnen und freunde der akrobatik und der
zauberei kommen hier eindeutig noch mehr auf die rechnung als jene des
tanztheaters. da wird getrickst, was das zeug hält, und man guckt und
guckt und staunt und kann es weder verstehen noch glauben. diese "kinder
des olymp" sind eine überzeugte und überzeugende liebeserklärung ans
theater, an seine magie und seine poesie.
Dienstag, 31. Januar 2017
Sonntag, 29. Januar 2017
EMMENBRÜCKE: VERNEIGUNG VOR MAX VON MOOS
figuren. fratzen. finsterlinge.
fischfragmente. fäkalien. feldherren. fleischmonster. friedhöfe. fegefeuer.
gezeichnet mit dem filzschreiber, dem federkiel, dem farbstift. das
zeichnerische werk von max von moos (1903-1979) ist ein schelmischer flirt mit
der apokalypse. die menschen auf seinen zeichnungen sind verpanzert, verknotet,
verzerrt, versehrt: dieses personal könnte den späteren figuren von hr giger
modell gestanden haben. konsequent verspielt in der form, konsequent verzweifelt
in der aussage; ein hellwacher blick auf eine düstere welt. unter dem titel „versöhnlich
unversöhnlich“ zeigt die hochschule luzern – design & kunst an ihrem
standort in der viscosistadt in emmenbrücke jetzt einen querschnitt durch max
von moos‘ schaffen. die schule ehrt damit einen prägenden zentralschweizer
künstler des vergangenen jahrhunderts und eröffnet mit ihm den reigen zu ihrem
140-jahr-jubiläum. max von moos war selber student an der kunsti und später
während 40 jahren dozent. diese ausstellung ist eine grosse verneigung der
schule vor ihrem ausnahmekünstler.
Donnerstag, 26. Januar 2017
BASEL: CALIGULA IN TRUMP-WOCHE 1
er
ist ein autokratischer herrscher. er agiert blindwütig und kompromisslos. er
fällt willkürliche entscheide. er verachtet seine gegner und lässt sie aus dem
weg räumen. ein verrückter. trump? erdogan? nein, caligula, römischer kaiser
von 37 bis 41 nach christus. albert camus‘ auseinandersetzung mit dieser figur kommt
am theater basel zur passenden zeit. die inszenierung von antonio latella
verzichtet auf jede aktualisierung und will das absurde nicht erklären, sondern
erfahrbar machen. in einem dreieckigen blutroten raum ohne fenster und ohne
türen trifft caligula freunde und feinde; in dieser enge entwickelt er jeden
kontakt, jede kommunikation ins negative, alle energie ist schwarz. „er
verwandelt seine philosophie in leichen“, sagt einer. „regieren heisst stehlen,
das weiss doch jeder“, sagt caligula. thiemo strutzenberger in der titelrolle ist
kein aufgedonnerter trump, er nähert sich dem aktiven nihilismus mit weichem
singsang und verklärten glasigen augen. mal sitzt er im schwarzen tütü
verträumt auf dem boden und lackiert sich die zehennägel orange, mal wirft er
sich ins marie-antoinette-kostüm – die herrschaft eines wahnsinnigen in
beängstigenden bildern: macht ist macht, auch wenn sie lächerlich ist. „wenn
man ihn immer weitergehen lässt, wird er sich irgendwann selbst zerstören.“
oder: „wenn er sich mit den richtigen beratern umgibt und auf sie hört, dann
besteht noch hoffnung.“ so denken und hoffen hier viele. sie denken und hoffen
falsch. seine engsten freunde? seine mitstreiter? ohne chance. er erledigt sie
alle – mit einem fluch, mit einem wutausbruch oder mit einem sanften, dreckigen
satz. am ende sind alle tot. ausser caligula. er sitzt im publikum. er betrachtet
das desaster, das er angerichtet hat. und lacht.
Mittwoch, 25. Januar 2017
BASEL: RAMON VARGAS ALS PÄDAGOGE
1988 debütierte der mexikaner ramon
vargas am luzerner theater, heute gehört er zu den bedeutendsten tenören seiner
generation. er singt in münchen und mailand, in wien und in new york. und er
unterrichtet junge sängerinnen und sänger, gegenwärtig die mitglieder von
operavenir, des opernstudios am theater basel. so einen lehrer möchte man
haben, so viel empathie ist selten. während der öffentlichen meisterklasse auf
der kleinen bühne ist jede minute zu spüren, dass vargas vor seiner
sängerkarriere pädagogik studierte – er liebt die musik und er liebt die jungen leute, die
sich ihr widmen: die tasmanische sopranistin bryony dwyer (sie singt
donizetti), der kanadische tenor nathan haller (mozart), die koreanische
sopranistin ye eun choi (donizetti), der bolivianische bass josé coca loza
(händel) und die italienisch-deutsche mezzosopranistin sofia pavone (bellini).
sie alle sind mit kleineren partien schon zu erleben in basel und es wird in fünf oder zehn jahren interessant sein, wer
von ihnen sich – auf vargas‘ spuren – wie weit nach oben gesungen hat. tolle
stimmen haben sie, technische fertigkeiten haben sie auch. woran der maestro
mit ihnen vor allem arbeitet, das sind die emotionen; wie sich mit kleinsten
variationen, minimsten pausen, leichten akzentverschiebungen eine ganze palette
von neuen gefühlen ergibt, die eine melodie glänzen, schimmern, strahlen lassen.
ein unglaubliches feuer packt ihn immer wieder, es
wärmt diesen aussergewöhnlichen unterricht. was diese jungen von ramon vargas
auch lernen können: bescheidenheit. in einem interview mit radio srf sagte er
zum thema starkult einmal, ein tenor müsse immer darauf achten, dass sein ego
nicht grösser werde als seine stimme. genau dies strahlt er auch nach 30 jahren
im opernolymp noch aus. très sympa.
Donnerstag, 19. Januar 2017
LUZERN: WHAT ABOUT NORA?
unten
fällt eine tür dröhnend ins schloss. dann ist die frau weg. weg von mann und
kindern. so endet ibsens „nora“, die zur literarischen hymne der
emanzipationsbewegung wurde. und so, mit dem donnernden scheppern der türe,
beginnt der holländische regisseur bram jansen in der box des luzerner theaters
seine sicht auf den stoff. unter dem titel „what about nora?“ nötigt er ibsens
figuren bei nüchternem neonlicht zur familienaufstellung, er begegnet der welt
von damals mit einer methode von heute. helmer, rank, krogstad, linde – sie alle
sitzen im kreis, umgeben vom publikum, und erinnern ihre sicht der dinge. ibsens
textfetzen (1879) und gedanken der schauspieler (2017) werden zu intensiven
monologen vermengt, die dem beziehungsnetz von nora schärfere konturen geben
und die zentralen fragen der sekundärliteratur gleich mitinszenieren: warum
gibt ein mensch seine sicherheit auf? kann man die rolle, die man spielt,
einfach wechseln? sind träume luxus für wenige? hat die gesellschaft recht oder
ich? immer wieder positionieren sich die figuren im raum neu und immer wieder
fällt die tür dröhnend ins schloss, die vergangenheit und die gegenwart finden
zusammen. nora steht hier nicht im zentrum, sondern flaniert gleichsam durch
diese wechselnden konstellationen und befragt ihr leben neu. starker ansatz,
starke momente. doch diesen klaren fokus gibt die regie immer wieder preis:
indem sie reclam-hefte verteilt und zuschauer daraus vorlesen lässt, indem sie
von der familienaufstellung unvermittelt zur parodie einer familienaufstellung
wechselt, indem sie die arme nora-darstellerin einen exhibitionistischen befreiungstanz
aufs parkett legen lässt. so wirkt, was ein richtig guter theaterabend hätte werden
können, zwischendurch furchtbar aufgesetzt, angestrengt, peinlich.
Freitag, 13. Januar 2017
ZÜRICH: GERÖLL IM SALAT
wie
stellt man sich herrn geiser vor, den protagonisten aus „der mensch erscheint
im holozän“, der in einem abgeschiedenen tessiner tal mit dem unwetter und der
unbill der vergesslichkeit hadert? vielleicht wie max frisch selber. oder wie
onkel sepp, bei dem jetzt auch alzheimer diagnostiziert wurde. wohl eher nicht
wie martin butzke. der schauspieler am neumarkt-theater in zürich ist 42, lange
dünne blonde strähnen, stoppelbart – aber keinesfalls eine fehlbesetzung. wie er
diesen 85-minuten-monolog eines um eine generation älteren menschen
hinlegt, das ist grosse schauspielkunst. er spricht in der dritten person von
herrn geiser und ist gleichzeitig herr geiser, distanz und intime nähe in
einem, ein überzeugender ansatz von neumarkt-chefdramaturg ralf fiedler. der
kahle raum an der chorgasse wird unvermittelt zum tessiner rustico, weil martin
butzke so bildhaft spricht, weil er uns bei geisers denken zuschauen und auch
mitleiden lässt, weil er pausen setzt, wenn die bilder sich überschlagen:
geröll im salat, geröll im kopf. herr geiser wird zunehmend unruhiger,
zunehmend aggressiver. auf einem baustellenplastik versucht er den goldenen
schnitt zu rekapitulieren, klebt als gedankenstützen dutzende von zetteln an
die wände, den wodka für die bloody mary kippt er in die pelati-büchse – das chaos
im hirn wird zum chaos im raum. schliesslich baut er eine kleine luftseilbahn
quer durchs zimmer, mit der er ebenso liebevoll wie umständlich seine letzte
bergwanderung illustriert, die auch eine nahtoderfahrung sein soll: "ein weg ist
ein weg auch im nebel, ein weg ist ein weg auch in der nacht." so wird aus max
frischs grossartiger demenz-etüde ein intensiver und berührender theaterabend.
Mittwoch, 11. Januar 2017
HAMBURG: DAS KLEINOD
war das jetzt norddeutsches understatement, die originellste untertreibung des abends oder einfach eine wortfindungsstörung einer übermüdeten frau? bundeskanzlerin angela merkel nannte die elbphilharmonie im pauseninterview mit dem ndr ein "kleinod". zehn jahre bauzeit, 789 millionen euro kosten, spitzenarchitektur, ein signature building, von dem die ganze welt spricht. und dann dies: "das ist ein kleinod, was wir hier erleben."
Montag, 9. Januar 2017
LUZERN: DER TÄTER GRÜSSTE OHNE MOTIV
als er irgendwann in den siebziger-
oder achzigerjahren im luzerner stadtbild auftauchte, reagierten die
erwachsenen zunächst irritiert und die kinder teilweise verängstigt: emil
manser, ein mann im militärmantel, mit einem adventskranz auf dem kopf und
mehrheitlich mürrisch. erst bei der dritten oder fünften begegnung erkannte man
auch den schalk in den augen des zugereisten appenzellers, der in der folge
gleich eine ganze reihe von in der stadt luzern schlecht vertretenen berufen
übernahm: philosoph, strassenkünstler, provokateur, stadtoriginal, hofnarr. mit
riesigen selbstgemalten plakaten setzte er sich ins stadtzentrum, vorzugsweise
vor die kantonalbank: „der täter grüsste ohne motiv“ – „glück (für sie). bettle
sonndags zum halben breis“ – „intelikenz ist gerecht verteilt. jede(r) meint
genug zu haben“. mansers kreativ eingesetzte schreibfehler
erheiterten die ganze stadt. mal verlangte er mit diesen hinguckern einfach
geld fürs nächste bier, mal lieferte er bedenkenswertes weit über niveau. vor
allem warb dieser vom leben immer wieder gequälte aussenseiter für toleranz,
das war die wahre motivation hinter der schrägen performance. und das bringt
die ausstellung im dachstock des historischen museums luzern jetzt sehr schön
zum ausdruck, mit objekten aus seinem nachlass, mit einem video und mit einer farbigen
und repräsentativen auswahl aus über 150 seiner plakate: „wer mich kennt liebt
mich“ schrieb er auf eines; luzern hatte den mürrischen mann längst ins herz
geschlossen. in einer nacht im sommer 2004 liess sich emil manser mit 53 in die
reuss fallen. seither fehlt der stadt ein geistreicher entschleuniger.
Mittwoch, 4. Januar 2017
ISTANBUL: EIN POLIZIST
erstens: der istanbuler promi-club
reina, wo zum jahreswechsel 39 menschen einem anschlag zum opfer fielen, galt
schon länger als gefährdet, als mögliches terror-ziel. zweitens: der club
bietet platz für rund 600 feiernde. drittens: zur bewachung des clubs war in
der silvesternacht ein polizist
aufgeboten. viertens: nachdenken ist wie googeln, nur krasser.
Sonntag, 1. Januar 2017
GENOVA: TRATTORIA DELL'ACCIUGHETTA
l’acciuga,
die sardelle. l’acciughetta, das sardellchen. das diminutiv ist bei der
trattoria dell’acciughetta an der piazza sant’elena in genova durchaus
angebracht. das lokal ist nur wenig grösser als ein wohnzimmer, es bietet
gerade mal 24 gästen platz und man würde es in den schmalen und verwinkelten
gassen der grössten altstadt europas ohne hinweis (in unserem fall aus dem
freundeskreis) wohl kaum entdecken. und das, muss man sagen, wäre ausgesprochen
schade, weshalb wir den geheimtipp gerne weitergeben. die quirlige chefin ist
gerade mal 29 und hat, weil sie der festen überzeugung ist, dass die jugend in
italien mehr chancen bekommen muss, einen 21jährigen chefkoch angestellt. nach
dem silvesterdiner darf man festhalten: die chefin und die gäste wurden und
werden reichlich belohnt, dieser simone hat seine chance genutzt und verdient. vom
ersten bis zum letzten gang zauberte er mit seinen nur zwei kollegen ein
kreatives kulinarisches feuerwerk auf die teller, ein streifzug durch meere und
gärten, eine lust für augen und gaumen. mein persönlicher favorit war der
dritte gang, ein wunderbar cremiges champagner-risotto, üppig garniert mit einem
misto aus dünnen scheiben von roten krebsen und austern, ingwer und limetten.
ein gedicht. man freut sich bereits auf den nächsten besuch hier, es muss ja
nicht immer ein silvester-mehrgänger sein. diese sympathische kleine trattoria
hat alles, um das warten auf die fähre nach sardinien oder das
schlechtwetterprogramm der cinque-terre-wanderwoche massiv aufzuwerten oder
auch ganz ohne weiteren grund nach genova zu fahren. nirgendwo liegt uns
schweizern das meer näher.
Abonnieren
Posts (Atom)