Dienstag, 19. Dezember 2017

MÜNCHEN: RICHARD III.

er ist ein widerliches arschloch, ein gemeiner egozentriker, ein irrer machtmensch. er verhöhnt seine nächsten, begrapscht wahllos frauen und geht über leichen. hauptsache: der grösste sein. natürlich muss man den ganzen abend an trump denken, obwohl michael thalheimer in seiner inszenierung von shakespeares „richard III.“ am residenztheater in münchen den allzu offensichtlichen bezug vermeidet: norman hacker trägt schulterlange, verschwitzte haarsträhnen und haust in einem turmhohen bretterverlies (von olaf altmann), auf dessen boden permanent schwarzes laub raschelt, eine düstere szenerie, durch die wummernden bassakkorde aus dem off noch düsterer aufgeladen. ein ort des grauens. so richtig irr, beängstigend irr wird dieser richard nach der pause, als er ganz oben, als er endlich könig ist. da faucht und feixt er, zerkaut brüllend jede silbe der thomas-brasch-übersetzung mit dem unterkiefer, wechselt mitten im gespräch idiotisch die tonart richtung knabensopran, juckt plan- und ziellos durch die gegend – und immer wieder an die rampe: so einer sucht das publikum, so einer braucht das publikum, er weiss zwar, dass er nackt ist („oft handeln männer ohne tiefern sinn“), aber er glaubt auch, dass sein publikum, das er irre glotzend fixiert, dies nicht weiss. norman hacker spielt diese zynische rampensau, und ihre abgründe spielt er genial mit. in seinem vertrackten system von machtgier, schuld und rache macht dieser richard die gegenspieler, die immer von hinten aus dem dunkel durchs laub angeraschelt kommen, zu unfreiwilligen mitspielern. doch die rampe, die gehört nur ihm. und er weiss, wie schrecklich einsam man ganz vorne im scheinwerferkegel sein kann: „i am myself alone.“ endzeitstimmung.

Sonntag, 17. Dezember 2017

MÜNCHEN: TIEF INS GLAS GESCHAUT

"wenn man einen schluck hefeweizen nimmt, dann ist das eine fast spirituelle erfahrung. jeder, wirklich jeder kann die spirituellen und philosophischen aspekte erfahren, die sich in so etwas einfachem wie einem schluck weissbier offenbaren." kann man es schöner sagen als der us-künstler jeff koons, der eine zeitlang in münchen lebte?

Montag, 11. Dezember 2017

KASTANIENBAUM: AUSGESTEMPELT

als er pensioniert und seine post in 6047 kastanienbaum geschlossen wurde, machte sich posthalter ruedi zurflüh mit einer schachtel voller trouvaillen auf den weg ins museum für kommunikation (ehemals postmuseum) in bern, mit dem vorschlag, einen teil dieser aussergewöhnlichen dokumente, briefe und postkarten dort auszustellen. bescheid negativ, es gebe zu viel sammelgut von zu vielen ex-posthaltern. nun allerdings haben ruedi zurflüh und sein vater und sein grossvater, die die postkunden in kastanienbaum zusammen während 98 jahren betreuten, ein viel attraktiveres denkmal erhalten: „ausgestempelt“, der sensible und kurzweilige dokumentarfilm von kurt koller und franz szekeres. nein, es ist kein jammerfilm über nicht nachvollziehbare poststellenschliessungen und den abbau des service public. dass sich die zeiten immer wieder und immer schneller ändern, schwingt zwar durchaus mit, doch im zentrum steht ein liebevoller, anekdotenreicher rückblick auf drei posthalter-generationen und ihre teils illustre kundschaft: der belgische könig leopold III. (der hier kurz vor dem tödlichen unfall mit seiner gemahlin astrid bereits einen töffunfall baute), der schillernde luzerner bankier ernst brunner, geheimdienstoffiziere, judenhasser und reihenweise musiker von rafael kubelik über claudio abbado zu dj bobo. der grosse toscanini kam jeweils zu zurflühs, um mit seiner schwester (offizielle version für seine frau), respektive seiner geliebten in italien (inoffizielle version) zu kabeln. ja, die post unmittelbar neben dem hotel war die seele von kastanienbaum, andere treffpunkte gab und gibt es kaum. dieser film ist eine liebeserklärung auch an dieses spezielle dorf. wie sagt doch die off-sprecherin im film lakonisch: „ein ort, an dem zu wohnen man es sich leisten können möchte.“

Sonntag, 10. Dezember 2017

ZÜRICH: MEISTER UND MARGARITA

der teufel besucht moskau. jan bluthardt gibt ihn am diesmal zum intimen variété umgebauten theater neumarkt in zürich total chic im schwarzen sakko mit schmetterlingsmotiven und viel gel im haar, ein ausgesprochen intelligenter und cleverer typ. er nennt sich hier voland und gibt sich als deutscher professor für schwarze magie aus. der teufel ist die zentrale figur in michail bulgakows kultroman „meister und margarita“, der gerne als „der russische faust“ bezeichnet wird, ein überbordender roman über kunst und politik, über liebe und andere leidenschaften. in peter kastenmüllers vortrefflicher regie stürzt dieser teufel das moskau der 30er jahre nicht ins chaos, sondern in eine abgrundtiefe verunsicherung. er beisst sich fest am verordneten atheismus und der absurden bürokratie, er umschleicht die menschen, horcht sie aus (mit mehr erfolg als die miliz) und durchschaut sie. durchschaut sie und ihre unterwerfungen, ihre lügengeschichten, ihre skandale. kurz: der kerl verfolgt eine nicht unsympathische mission. bulgakows grandioses kaleidoskop ist ein gefundenes fressen für die spielfreudige neumarkt-truppe: die dreieinhalbstündige zickzack-wanderung durch die russische seele wird hier zu einer ebenso klugen wie kurzweiligen revue, realistisch, satirisch, phantastisch, mit schrägen videoclips und parodien auf sandalenfilme, mit russischen schnulzen und schäbigen zaubertricks. die gesellschafts- und systemkritik entwickelt so einen geradezu opernhaften rausch – und nüchtern bleibt, natürlich, nur der teufel: „wozu dem nachjagen, was zu ende ist?“ fragt er final, derweil moskau und das publikum im trockeneisnebel wegdämmern.

Samstag, 9. Dezember 2017

WIEN: DROHKULISSE

"ich weiss, wie man im strafraum beton anmischt."
sagt nicht edinson cavani, stürmer bei paris saint-germain.
sagt nicht mario himsl, fussball-lehrer aus otterskirchen.
"ich weiss, wie man im strafraum beton anmischt."
sagt martin kušej , der designierte direktor des wiener burgtheaters (im interview mit der "süddeutschen zeitung"). da bahnt sich was an im österreichischen nationalheiligtum.
warm anziehen, wien!

Mittwoch, 6. Dezember 2017

PRANGINS: WORLD PRESS PHOTO

80‘000 bilder hat die jury des internationalen wettbewerbs „world press photo“ dieses jahr visioniert. 80‘000 bilder von 5000 fotojournalisten. bilderflut, reizüberflutung, realität 2017. die teilweise ikonischen fotos der preisträger sind jetzt im musée national im château de prangins bei nyon ausgestellt. das attentat auf den russischen botschafter während einer vernissagenrede in einer galerie in ankara (aus nächster nähe fotografiert), die blutigen opfer des vom philippinischen präsidenten duterte verschärften drogenkriegs mitten auf der strasse (in diffusem licht), in ruinen vegetierende menschen in ukrainischen unstädten (trost- und perspektivenlose porträts)  – es sind bilder oft hart an der grenze. 80‘000 bilder dürften in etwa auch dem entsprechen, was ein durchschnittlicher mensch im lauf eines jahres wahrnimmt, bewusst und unbewusst. die präsentation in prangins, grossformatig, sorgfältig, unaufgeregt, soll auch ein anreiz sein, dieser bilderflut im alltag wieder anders zu begegnen, bilder wirken zu lassen, bilder zu lesen, zu interpretieren, konsequenzen daraus zu ziehen. in den räumen darunter läuft parallel die ausstellung „swiss press photo“. ein eigenartiger kontrast: gerhard pfister stochert im nebel, doris leuthard küsst, samih sawiris protzt, kühe fahren schiff. die direkte gegenüberstellung mit den brutalen szenen weltweit mag zweierlei auslösen: wir leben auf einer insel der glückseligen / wir leben auf einer insel der naiven.

Donnerstag, 30. November 2017

LUZERN: MANON

diese oper ist zu kurz. ja, das gibt es. die unmögliche liebe einer lebenslustigen jungen frau, die ins kloster soll, und eines theologiestudenten, ihr unaufhörliches hin und her zwischen rauschhaftem leben und wahrer liebe, ihre immer wieder schmerzhaften trennungen wegen echten und falschen gefühlen und wegen wertvollen und falschen freunden – das alles braucht zeit, um sich nachvollziehbar zu entwickeln. diese zeit gönnte schon jules massenet seiner „manon“ (und ihrem publikum) nur knapp, das geht hopp-hopp vom liebhaber zum nebenbuhler, vom hoch zum tief, vom ballsaal ins priesterseminar, von der provinz nach paris und wieder zurück. und was machen dirigent yoel gamzou und regisseur marco štorman am luzerner theater? sie kürzen noch mehr, lassen diverse chorszenen, ballette und zwischenspiele ebenso weg wie bühnenbilder und blicken in einer unterkühlten neon-welt spotartig auf dieses leben und diese liebe: ein „manon“-konzentrat, das die komplexe geschichte dieser frau nur mehr erahnen lässt. zum glück entfaltet massenets musik mit ihren wirkungsvollen motiven und emotionalen wechselbädern selbst in dieser kastrierten fassung eine phantastische dramatische wucht. und zum glück schafft es das hervorragende junge ensemble, diese zum kammerspiel reduzierte lyrische tragödie immer wieder kraftvoll und glaubhaft aufzuladen: nicole chevalier als manon, diego silva als des grieux und bernt ola volungholen als manons cousin lescaut sind als permanente wandler zwischen ihren überschäumenden träumen und verzweifelter einsamkeit sowohl stimmlich wie auch darstellerisch eine spitzenbesetzung. der zuschauerraum des luzerner theaters war bei dieser vorstellung halb leer. der halb volle teil applaudierte begeistert.

Donnerstag, 23. November 2017

LUZERN: RADICAL HOPE NO1 / PILATUSBLICK

sie tanzen sich die seele aus dem leib. 14 jugendliche aus afghanistan, eritrea, somalia, äthiopien und der schweiz, die meisten von ihnen unbegleitete minderjährige asylsuchende, die zurzeit im zentrum pilatusblick in kriens wohnen. im südpol zeigen sie die tanzperformance „radical hope no1 / pilatusblick“, die die beiden choreografinnen beatrice fleischlin und anja meser mit ihnen einstudiert haben. bilder aus ihrer vergangenheit tauchen auf: mal liegen sie in leichensäcken auf kriegsversehrtem terrain, mal führen sie lustvoll körperbetonte tänze aus ihrer heimat vor, mal sind sie eine flüchtlingsgruppe, die es fast nicht schafft, keinen zu verlieren. dazwischen tritt immer wieder einer frontal vors publikum und erzählt seine geschichte: wie er weg musste aus seinem land, wie er seine familie verlor, wie ihn die flucht immer wieder an seine grenzen brachte. das geht unter die haut, denn sie sind erst 14, 15, 16 jahre alt und haben schon unmenschlich viel hässliches erlebt. doch aus diesen alten geschichten schöpfen sie glücklicherweise energie für neue: dann tanzen sie wieder, wild und raumgreifend, und ihr tanz ist ein drang nach leben, nach gemeinschaft, nach zukunft, nach einer anderen, neuen form von heimat. „what is hope for me? what is hope for you?“ fragt anouk singend. man schaut in die grossen augen dieser jungen menschen, so gross wie ihre hoffnungen und ihre träume. nicht wut, sondern mut leitet sie; das ist beeindruckend, zutiefst beeindruckend.

Dienstag, 14. November 2017

MÜNCHEN: KATASTROPHE #2

„katastrophe“ heisst vielsagend die reihe, in der ensemblemitglieder der münchner kammerspiele einen abend selber gestalten. unter dem nicht näher ausgeführten titel "nigorozorudoka" bestreitet der tolle jungschauspieler thomas hauser die runde 2 dieser reihe mit einem speedrun zum thema mediatisierung total. eingestimmt werden wir mit der aktuellen tagesschau – ohne bilder. dann monologisiert hauser im eidottergelben sweatshirt und mit glatter glitterfrisur die tragische geschichte eines familienvaters, der in und trotz anwesenheit seiner liebsten gänzlich der tv-serie „mash“ anheimfällt, die in einem feldlazarett der us army während des koreakrieges spielt (eine sequenz aus david foster wallace´ kultroman „infinite jest“). schliesslich vergnügt er sich mit seinem kumpel niklas herbert wetzel 70 (!!) minuten lang beim videospiel „the legend of zelda – breath of the wild“; die beiden jagen uns via grossleinwand über immer neue hochplateaus zu immer neuen schreinen mit immer neuen monstern, derweil sie über das "ministerium der euphorie" im menschlichen gehirn, epileptische anfälle und ihre auswirkungen auf lustzentren, rivalitäten um einen teller suppe und den unterschied zwischen freiheit von etwas und freiheit für etwas philosophieren (auch wieder foster wallace). erkenntnis 1 (nicht neu): jungs haben beim gamen nicht nur gewaltphantasien und quasseln nicht nur dummes zeug. erkenntnis 2: ich habe, akustisch und inhaltlich, nicht alles verstanden. erkenntnis 3 (nicht neu): videogames machen mich, in dieser reihenfolge, unruhig, ungeduldig, aggressiv – wann geht das endlich, endlich zu ende? erkenntnis 4: die münchner kammerspiele haben meinen bedarf an performance-impro-spontan-spektakel auf eher durchschnittlichem niveau jetzt ausreichend gedeckt; ich möchte wieder mehr kluges theater sehen und weniger "katastrophen".

Samstag, 11. November 2017

MÜNCHEN: MAUSER

leichen werden herbeigeschafft und auf haufen geworfen. immer wieder erhebt sich ein toter aus den leichenbergen, stellt sich mit flatternden beinen auf die anderen und denkt laut nach über das töten und die gewalt als mittel zur veränderung. im hintergrund schaut heiner müller kritisch-distanziert zu, auf einem bühnenhohen und bühnenbreiten schwarz-weiss-porträt. „wofür sind wir bereit zu töten? wofür sind wir bereit zu sterben?“ heiner müller erzählt in „mauser“ eine geschichte aus dem russischen bürgerkrieg, als der leiter des revolutionstribunals von witebsk das töten plötzlich nicht mehr als arbeit, sondern als lust empfindet und damit für die revolution unbrauchbar wird. zum müller-text entwickelt der kroatische regisseur oliver frljić im marstall des münchner residenztheaters mit einer schauspielerin und vier schauspielern eine bildwuchtige phantasie voller gewaltexzesse und erniedrigungen, unterlegt mal mit fegigem balkan-brass, mal mit düsteren requiem-sequenzen. teilweise lässt er die spieler nackt agieren, beim holzhacken zum beispiel und in interviewszenen, um den terror der gedanken über die körper zu illustrieren und die verletzlichkeit des individuums in der revolutionären masse. frljićs ansatz verdeutlicht, wie sehr revolutionen mehr schwierige fragen aufwerfen als brauchbare antworten liefern. und: dass lehrstücke nicht als politische pamphlete taugen, sondern allenfalls als spielerischer beitrag zu kontroversen. am schluss zerschmettert nora buzalka mit dem beil eine heiner-müller-büste aus eis. der autor nimmt´s gelassen; er tritt aus dem off hinzu und kippt das zerbrochene eis ins whisky-glas. schon zuvor hatte er den drastischen diskurs wieder auf normalmass gestutzt: „ich schreibe mehr als ich weiss.“

Donnerstag, 9. November 2017

MÜNCHEN: DIE KOMPLIZIN DER MUSIK

das büro der verstorbenen stararchitektin zaha hadid, herzog & de meuron, jean nouvel, henning larsen, david chipperfield – die champions league der architekten beteiligte sich am wettbewerb fürs neue münchner konzerthaus. doch abgeräumt hat das international kaum bekannte büro cukrowicz nachbaur aus bregenz. die vorarlberger entwarfen als hülle um die drei konzertsäle eine sich nach oben verjüngende, transparente scheune, die nächtens, wenn die musik spielt, in die stadt hinaus leuchtet. eine bestechende idee. „die architektur ist die komplizin der musik. es ist ihre rolle, die sucht des musikliebhabers zu verstärken.“ das schrieb jean nouvel in seinem konzept für münchen; es trifft, genau so poetisch und genau so ultimativ, auch auf das siegerprojekt zu. jetzt, wo die 31 ergebnisse des wettbewerbs mit modellen, plänen und visualisierungen zu besichtigen sind, darf man auch sagen, dass cukrowicz nachbaur den mit abstand wärmsten, elegantesten grossen konzertsaal präsentieren. bei den anderen: mehrheitlich schummrige höhlen oder kubische kühlräume, wo die musik wahlweise ersticken oder erfrieren würde (diese architekten waren vermutlich noch nie in einem konzert). bei den siegern dagegen: viel holz, weiche linien, behaglichkeit. nur mit dem standort der neuen musikscheune wird man sich noch anfreunden müssen. das werksviertel, hinter den gleisen des münchner ostbahnhofs, ist eher ein ort für tatort-kommissare als für konzertbesucherinnen. doch man kann es auch anders drehen. es gibt neben brachen und werkhallen auch ein paar coole läden hier und ein paar coole clubs; das werksviertel ist quasi das hafenviertel einer stadt ohne hafen. und hafenviertel sind ja, von riga bis lissabon, nach wie vor ziemlich hip.

Mittwoch, 8. November 2017

MÜNCHEN: BEWERBUNG BEIM PUBLIKUM

cyril manusch ist woyzeck. und sein hauptmann. und sein doktor. wie auf einer slackline setzt der 24jährige behutsam einen fuss vor den anderen, bewegt sich spastisch und akrobatisch, spricht dazu die monologe und dialoge, verrenkt sich und verklemmt sich, plötzlich rennt er die wand hoch, mehr verzweiflung als befreiung, wirft sich runter, breakdance trotz fussverletzung, auf alle viere, auf den bauch, das innen wird nach aussen gekehrt, es ist die tortur eines gejagten und geplagten. diese zehnminütige büchner-body-performance ist der höhepunkt des diesjährigen absolventenvorsprechens der otto-falckenberg-schule an den münchner kammerspielen. und sie ist ausgesprochen typisch für diesen jahrgang: denn auch wenn vera flück und louis nitsche aus „mamma medea“ von tom lanoye spielen, lea johanna geszti und anna platen woody allens „central park west“ oder max krause kafkas „brief an den vater“, immer ist dies ein theater von ausgeprägter körperlichkeit. kein wunder, wenn man in ihren künstlerbiografien die rubrik „körper“ studiert: aikido, bodypercussion, capoeira, voltigieren, hiphop, surfen, bauchtanz (wo früher allenfalls mal „fechten“ stand). mit diesem versprechen, texte und gedanken immer auch physisch und sinnlich zu steigern, haben die fünf frauen und fünf männer der abschlussklasse ihr casting, ihre bewerbung beim publikum, bestens bestanden. man darf sich auf ihre weitere entwicklung freuen, auf momente des zaubers und der kraft, auf viel bewegung in den theatern.

Dienstag, 7. November 2017

EBIKON: (DEAD) MALL OF SWITZERLAND

abweisende, dunkle korridore. sale-schilder in zerbrochenen schaufenstern. rostende rolltreppen, bei denen einzelne stufen fehlen. verdorrte pflanzen am rand von grüngrauen pfützen. einstürzende galerien und bröckelnde deko-elemente. schnee fällt durchs kaputte dach. kein mensch, nirgends. – das sind die trostlosen bilder aus den „dead mall series“ auf youtube. die klickraten zeigen: kult. 44 folgen hat der 40jährige amerikanische filmemacher dan bell bis jetzt gedreht. völlig unspektakuläre aufnahmen von den konsumtempeln seiner jugend, die mittlerweile ausgestorben sind und nicht einmal mit dem charme von friedhöfen mithalten können. dead malls. die grosse zeit der shoppingcenter geht zu ende, die umsatzzahlen brechen regelrecht ein. einkaufstourismus und internet sind die sterbehelfer; die schweizerinnen und schweizer gaben 2016 im schnitt 2400 franken für online-einkäufe aus, total 11,2 milliarden (gemäss netcomm suisse und srf). das centro ovale in chiasso überlebte gerade mal drei jahre. und morgen wird jetzt also, allen trends zum trotz, die mall of switzerland in ebikon eröffnet, mit 65´000 quadratmetern das grösste einkaufszentrum der zentralschweiz, das zweitgrösste der schweiz, gebaut mit öligem geld aus abu dhabi. wie lange wollen wir ihr geben? auch drei jahre? fünf jahre? zwanzig jahre, die hälfte davon von heftigem röcheln begleitet? die bilder, wie´s danach aussieht, stehen schon jetzt im netz.

Montag, 6. November 2017

BASEL: FOREVER YOUNG

„die zeit im jungen theater hat mich aufgerüttelt, wütend und empört gemacht, gab mir den mut, mit lauter stimme zu sprechen.“ noemi steuerwald ist eine von hunderten, die als 14- bis 24jährige im jungen theater basel spielten und im und mit diesem theater erwachsen wurden. das jtb ist eine institution: 40 jahre, 75 produktionen, manche über 100 mal aufgeführt, internationale gastspiele und preise, beginn zahlreicher theater- und filmkarrieren (marie leuenberger, ueli jäggi als rollschuhfahrender orgasmus, dani levy, rafael sanchez). zum 40-jahr-jubiläum hat der basler kulturjournalist alfred schlienger für den christoph merian verlag einen liebe- und lustvollen, detailreichen und prachtvoll illustrierten band gestaltet: „forever young – junges theater zwischen traum und revolte.“ zusammen mit dramatikern und psychologinnen, mit spielerinnen und soziologen macht sich schlienger auf die suche nach dem rezept dieses durchschlagenden erfolgs. das ergebnis ist nicht einfach ein hübsch eingebundenes kompliment zum geburtstag, sondern intensives nachdenken über aufgabe und wirkung zeitgenössischen theaters – und deshalb für theaterleute und -publikum auch anderswo von interesse. was in basel so toll funktionierte und immer noch funktioniert, lässt sich so zusammenfassen: jugendliche frische und authentizität, intensive auseinandersetzung mit identität und integration, inhaltliche dringlichkeit, innovation als konzept und motor, grosse ernsthaftigkeit und sorgfalt der erwachsenen profis im umgang mit den jugendlichen – und immer wieder: magische momente. „dieses theater ist eine übung in sachen gesellschaft“, sagt der kulturtheoretiker dirk baecker auf seite 182. applaus fürs jtb.

Freitag, 27. Oktober 2017

ZÜRICH: BUDDENBROOKS

in einer tragenden rolle: die motorsäge. der zu beginn die ganze bühnenbreite füllende stattliche, weisse tisch wird während der dreistündigen aufführung etappenweise zerstückelt, erledigt, entsorgt. ein ziemlich drastisches, bisweilen albernes bild, um den „verfall einer familie“ zu illustrieren, wie thomas mann seinen roman „buddenbrooks“ im untertitel nannte. in den trümmern dieses (selbstredend) mit videokameras in nahaufnahme dokumentierten sägemassakers gelingt regisseur bastian kraft am schauspielhaus zürich allerdings eine beachtliche, teilweise bezaubernde familienaufstellung. kann ja nicht jeder, 800 seiten roman einfach so eindicken. claudius körber spielt den hanno, den letzten stammhalter der buddenbrooks, der mit 15 an typhus stirbt: lustvoll und empathisch erzählt er die geschichte vom fall der lübecker kaufmannsdynastie aus seiner sicht, wie ein wichtel wirbelt er durch die familienchronik und die tischtrümmer, da kommt ganz viel von thomas manns sanft-ironischem zugriff auch auf heikelste episoden rüber. mit tempo und leichtigkeit verbindet dieser hanno die szenen und die menschen, die zunehmend gefangen sind in der diskrepanz zwischen grossbürgerlichen zwängen, geschäftlichen traditionen und dem wunsch, frei atmen zu können und auch den musen und der musse ihren platz zu geben. geschäfte fallieren, ehen zerbrechen, träume werden zu albträumen. ein erstklassiges ensemble schafft diesen permanenten tanz zwischen heiss und kalt, zwischen fassung und verzweiflung, zwischen hochmut und abstiegsangst, es jagt durch diesen eskalierenden familienirrsinn, der auch ohne motorsäge ganz schön an die nieren ginge.

Montag, 23. Oktober 2017

FREIBURG IM BREISGAU: HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN

der französische tenor sébastien guèze tritt so smart auf wie der leibhaftige österreichische steilstarter sebastian kurz, verfügt über eine helle, lyrische stimme – und: er wusste am mittwoch noch nicht, dass er am sonntag in der première von „hoffmanns erzählungen“ am theater freiburg im breisgau die hauptrolle singt, als ersatz für den erkrankten rolf romei. einspringen ist daily business im theaterbetrieb, doch mit nur zwei tagen proben in eine derart komplexe inszenierung einzusteigen, und dies mit zunehmend betörender brillanz, das ist schon eine meisterleistung. denn das französische regiekollektiv clarac-deloeuil > le lab liefert keine handelsübliche lesart von offenbachs oper. die bühne ist ein weiss gekachelter raum, labor und studio in einem, in dem eine blonde moderatorin auf acht bildschirmen als erstes bekannt gibt, dass der literaturpreis 2017, in anerkennung seiner herausragenden impulse für die zeitgenössische literatur, an e. t. a. hoffmann geht. die zweifel und selbstzweifel des toten dichters, sein scheitern in liebe und kunst, nehmen die regisseure zum anlass, ganz generell über dichtung und ihre wirkung nachzudenken. „wozu dichter in dürftiger zeit?“ fragen sie mit hölderlin. eine schauspielerin und ein schauspieler, die hoffmanns muse assistieren, zitieren in dutzenden von intermezzi dutzende von dichtern und denkern, die ihre rolle und ihre grenzen reflektieren. diese intellektuellen exkurse funktionieren erstaunlich gut, zumal fabrice bollon offenbachs romantischen rausch bisweilen überraschend unromantisch dirigiert. auch dies unterstreicht: dichter leben gefährlich. dieser freiburger hoffmann wird am schluss erschossen, auftragsmord eines politikers, doch er lebt weiter durch seine kunst. ja, gerade in dürftigen zeiten tun dichter not: „es ist uns aufgegeben, wahrheiten auszusprechen.“ viel applaus für einen eindrücklichen, klugen opernabend.

Freitag, 20. Oktober 2017

MÜNCHEN: DIE LUSTIGE WITWE

hitlers lieblingsoperette also. über 30 mal soll er sie sich angeschaut haben. ausgerechnet „die lustige witwe“ eröffnet jetzt das totalsanierte staatstheater am gärtnerplatz, münchens volksoper. intendant josef e. köpplinger verlegt die zickzack-romanze der reichen witwe hanna glawari und des lebenslustigen grafen danilo an den vorabend des ersten weltkriegs. er erfindet den tod als omnipräsente stumme figur dazu, die der tänzer und choreograf adam cooper zur faszinierenden hauptrolle macht: mit kahlem kopf und schwarzem mantel, dezent im hintergrund, elegant im vordergrund, der tod streut rosenblätter, der tod küsst mit, der tod tanzt im drei-viertel-takt den gesellschaftlichen und staatspolitischen abgründen entlang. er führt am schluss die männer in den krieg und nimmt sich die witwe, kein happy-end. so weit, so bitter. daneben allerdings gönnt sich köpplinger reichlich platz für operettenroutine und -kitsch, mit viel tempo und auf höchst professionellem niveau, aber von allem a bisserl zu viel: drehbühne im dauerbetrieb, trockeneisorgien, kostümorgien, champagnerorgien, schlüpfrige pointen. da wünscht man sich dann immer mal wieder den tod herbei, den so stilsicheren. tolles leisten der neue chefdirigent anthony bramall und die neue akustik im orchestergraben: dieser lehár kommt nie klebrig daher, er knistert und funkelt und sprüht. da können die beiden hauptdarsteller camille schnoor (witwe) und daniel prohaska (danilo) mit ihren doch eher durchschnittlichen stimmen nicht immer mithalten, machen das aber mit viel charme wett. apropos charme: hitler, das ist verbürgt, soll zuhause vor dem spiegel selbstverliebt den grafen danilo nachgespielt haben, mit zylinder und johannes-heesters-schal. ach, wäre er doch zur operette.

Montag, 16. Oktober 2017

MÜNCHEN: EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT

im hintergrund, hübsch aufgereiht, vier schminktische mit persönlichen utensilien: der rückzugsort für die vier wanderschauspieler, wenn sie gerade keinen einsatz haben. im vordergrund eine riesige verspiegelte platte als spielfläche, aufgehängt an vier drahtseilen und deshalb immer in bewegung: leben im schwebenden zustand, leben auf unsicherem terrain – das ist es dann auch schon weitgehend, thomas dannemanns regiekonzept für eugene o´neills „eines langen tages reise in die nacht“ im münchner cuvilliés-theater. dass die absolut trostlose geschichte der schauspielerfamilie tyrone (die o´neills eigene familiengeschichte abbildet) trotzdem packt, ist allein dem höchstklasse-ensemble zu verdanken, das die ausweglosen abhängigkeiten penetrant und präzis zu einem immer dichteren netz spinnt: sibylle canonica, die mutter, bemüht sich als morphium-ruine so hartnäckig wie erfolglos um fassung, oliver nägele, der vater, ist ein vom geiz zersetzter einstiger starschauspieler, aurel manthei als älterer sohn mäandert brillant zwischen minderwertigkeitskomplex, zorn und alkohol, franz pätzold als jüngerer sohn kämpft mit hochpoetischen kabinettstücken gegen seine eltern und seine tuberkulose an. alles ist krank in diesem haus, alles ist anfauchen, angiften, anwidern. das dauert zwei stunden und zehn minuten. bei o´neill dauerte es 65 jahre. „ich gehe aus von der theorie, dass die vereinigten staaten, anstatt das erfolgreichste land der erde zu sein, der grösste fehlschlag sind. wir hatten so viele möglichkeiten und haben einen falschen weg gewählt.“ mit diesem satz o´neills im ohr sieht man sein familienstück aus dem jahr 1956 auch als parabel auf ein zutiefst verunsichertes und polarisiertes land im jahr 2017.

Mittwoch, 4. Oktober 2017

LUGANO: WOLFGANG LAIB

gibt es eine ursprüngliche sprache, die verschiedenen kulturen und zivilisationen gemein ist? diese frage beschäftigt den 67jährigen deutschen künstler wolfgang laib seit seiner jugend. wenn die grosse laib-ausstellung im museo d’arte della svizzera italiana in lugano eine antwort auf diese frage ist, dann bewegt sich so eine ur-sprache im grenzgebiet zwischen natur und spiritualität. laib studierte ursprünglich medizin und schrieb seine doktorarbeit über die trinkwasserhygiene in der region nördlich der indischen stadt madurai. enttäuscht von der vom gewinnstreben geprägten westlichen medizin wandte er sich dann früh ab und beschäftigte sich mit antroposophischen grundfragen – und in der folge, als künstler, mit einfachsten materialien: blütenstaub, reis, milch, bienenwachs sind zentrale elemente seiner plastiken und installationen. immer wieder blütenstaub. „zeit war und ist ein zentraler knotenpunkt in meiner arbeit und in meinem leben. blütenstaub zu sammeln bedeutet, für tage, wochen, monate auf einer wiese zu sitzen … und, nach einem monat hat man ein gläschen voll blütenstaub.“ das herz der ausstellung in lugano ist ein würfelartiger mildgrauer raum, in dessen mitte auf dem boden ein grosses quadrat aus blütenstaub von kiefern hellgelb leuchtet. unfassbar schlicht, unfassbar schön, eine einladung zur meditation. das publikum setzt sich diesem sinnlichen sog sichtlich gern aus. und wenn in einer anderen ecke reis in einer messingschale je nach perspektive wie ein kleines häufchen oder wie ein unüberwindbarer berg erscheint, dann sind wir dabei mit seele und laib: poesie nicht als selbstzweck, sondern als ausgangspunkt für eine tiefgründige reflexion der realitäten und relationen.

Donnerstag, 21. September 2017

VENEZIA: MADAMA BUTTERFLY

ganz eng stecken cio-cio-san und ihre bedienstete suzuki die köpfe zusammen und blicken in die ferne, weit hinaus aufs meer. „un bel dì, vedremo“ singt cio-cio-san, die grandios-anrührende arie einer verzehrenden leidenschaft: eines tages wird das schiff kommen, das ihr den geliebten amerikaner zurückbringt. auch nach drei jahren hat sie die hoffnung nicht aufgegeben. fast scheint auch suzuki daran zu glauben, doch dann erstarrt sie, fixiert nicht mehr das meer, sondern ihre herrin, und erschrickt, wie sehr diese in ihrer sehnsucht gefangen bleibt. nein, dieses glück kehrt nicht zurück, nein, du musst nicht weiter die wellen beschwören. zwei frauen, zwei intuitionen. der spanische regisseur alex rigola und die japanische multimediakünstlerin mariko mori erzählen puccinis „madama butterfly“ am teatro la fenice in venedig als präzise personenstudie, grosse oper in nahaufnahme. nicht der in vielen inszenierungen optisch bis zum überdruss ausgereizte kontrast zwischen ost und west, zwischen japanischer folklore und amerikanischem patriotismus steht hier im zentrum (die geisha, die vom präpotenten kolonialherr geschwängert und fallengelassen wird), sondern eine zeitlose geschichte von ausbeutern und ausgebeuteten, von wahrer und von falscher liebe. eine praktisch leere weite weisse bühne, die nur in unterschiedliches licht getaucht wird, unterstreicht diese zeitlosigkeit zusätzlich. das regieteam tappt dann allerdings zwei, drei mal doch in die kitschfalle, mit silberkonfettiregen und schmetterlingsvideos. schade, denn die von daniele callegari schwärmerisch dirigierten melodien puccinis hätten ihre wirkung auch so nicht verfehlt. und serena farnocchia ist mit ihrer stimmlichen und darstellerischen präsenz eine hinreissende besetzung für diese zwischen äusserster verzückung und tiefster verzweiflung flatternde butterfly.

Mittwoch, 20. September 2017

VENEZIA: BIENNALE DER ENTSCHLEUNIGUNG

die basilica di san giorgio maggiore auf der kleinen insel gegenüber dem markusplatz in venedig ist ein meisterwerk von andrea palladio. in diesen prachtvollen klassizistischen raum hat michelangelo pistoletto 18 hochformatige spiegel gehängt. 18 spiegel in einem kreis. 18 spiegel, die sich in der zugluft auch mal bewegen. der betrachter steht in diesem kreis, sieht sich da und dort, geht umher, sieht andere, sieht vieles plötzlich von einer anderen seite, kann manchmal nicht mehr unterscheiden zwischen den echten menschen und den gespiegelten. „love difference – vielfalt lieben“ hat der 84jährige pistoletto diese installation genannt. man muss sie nicht einmal wie er religiös verstehen, um sie genial zu finden: eine etude über wahrheit und wahrnehmung, ein einfacher, verspielter, tiefsinniger einstieg in diese biennale. anschliessend machen wir 12‘771 schritte durch die kunst dieser welt. die biennale 2017 wirkt auf uns überladen bis vollgestopft und zeigt erstaunlich viel unpolitisches, viel aufgewärmtes, viel dekoratives, viel buntes, viel banales (bitte, bitte einfach keine farbigen stoffballen und stoffbahnen und fadenknäuel mehr, die den ach so kunterbunten reichtum dieser welt illustrieren und verherrlichen). eine überdosis kontemplativer videos lässt immerhin ein zentrales anliegen festmachen: das bedürfnis nach entschleunigung. ein bedürfnis, das künstlerinnen und künstler und publikum zu teilen scheinen, denn dort, wo fast oder gar nichts passiert, harren die betrachter in scharen und am längsten aus. die magie des nichts. auch ein erfolg.

Sonntag, 17. September 2017

MÜNCHEN: CARMEN UND DER STIER IN UNS ALLEN

hier singen echte flüchtlinge statt falsche zigeuner. das gibt dieser "carmen", die jetzt im mixed munich arts, der riesigen halle eines ehemaligen fernheizwerks, gezeigt wird, eine ganz neue dringlichkeit und vitalität. der "chor zuflucht kultur" ist ein projekt mit migranten, ein bemerkenswertes projekt auf hohem musikalischen niveau. sie singen die bizet-chöre en français genau so leidenschaftlich wie dazwischen die verträumten und traurigen balladen aus ihrer arabischen heimat. dieser chor - als strassenkämpfer, als näherinnen, als dealer, als heimatlose - bildet das emotionale kraftzentrum der inszenierung. dirigent ernst bartmann und regisseur andreas wiedermann (das opera-incognita-team) erzählen die rohe geschichte von carmen in diesem rohen raum von hinten, was erstaunlich gut funktioniert: die finale verzweiflungstat, die ermordung carmens durch don josé, wird zum roten faden, zur rahmenhandlung, in die die vorherigen akte als rückblenden eingebaut werden. der tod wird durch diese konstruktion noch präsenter, er schleicht sich nicht langsam an, er überschattet hier alles von beginn weg mit dramatischer musikalischer wucht. carmen, von cornelia lanz furios gesungen, ist permanent in bewegung, mal am ende der halle, mal in der obersten galerie, mal im grellen licht, mal im dunkeln, rastlos, radikal, eine gefangene ihrer gefühle auf der suche nach freiheit. sie findet sie nicht. sie findet den tod. das ist die geschichte von carmen, die geschichte der flüchtlinge und letztlich die geschichte über den stier in uns allen: freiheit oder tod. eine alternative, die oft keine ist.

Samstag, 9. September 2017

LUZERN: LE GRAND MACABRE

der eindrücklichste moment dieser saisoneröffnungspremière am luzerner theater? das waren die fünf minuten kunstpause mitten im zweiten bild. fünf minuten nichts, bühne und orchester total eingefroren, fünf minuten stiller protest gegen die sparwut der luzerner regierung: so öd wäre die welt ohne kultur. davor und danach györgy ligetis groteske oper „le grand macabre“, in der nekrotzar, tod und teufel in einem, den weltuntergang plant, ihn aber gründlich versemmelt. krass wenig inhalt für zweieinhalb stunden. musikalisch ist dieses werk ebenso reich wie schräg und gewöhnungsbedürftig, mit furzenden autohupen, knallenden brettern, je einer prise mozart, offenbach, monteverdi, alles bis zur unkenntlichkeit entstellt und tierisch schwierig für sänger und orchester, die das aber unter der leitung von clemens heil bravourös und lustvoll bewältigen. für die regie wurde herbert fritsch eingeflogen, bei dem bekanntlich alles immer vor allem knallbunt ist, diesmal sind es sieben knallbunte särge, ein ebenso effektvoller wie naheliegender einfall für ein grusical. wenn immer wieder auch „the rocky horror picture show“ zitiert wird, mag man nur müde schmunzeln, denn die ist einfach besser. fritschs regie bleibt sinnfrei und rein illustrativ: sobald die melodien zucken, zucken auch die sängerinnen, wenn die rhythmen stampfen, stampfen auch die sänger. das ist unter dem strich ziemlich viel ziemlich doofer slapstick. der hübscheste einfall sind zwei bleiche buben, die im kostüm der wiener sängerknaben immer wieder durch die szenerie schlurfen und das gähnen unterdrücken wie der kleine barron trump am wahltag seines vaters: wo, bitte, bin ich da hingeraten?

Freitag, 8. September 2017

LUZERN: DAS KANN NICHT WEG

das manifest gegen die sparpolitik des kantons luzern, verabschiedet am 8.9.2017 anlässlich der grossen demo vor dem luzerner theater:
"82 millionen will die regierung des kantons luzern in diesem und im nächsten jahr streichen - in den schulen, in der integration, bei der polizei, in der kunst und im sozialen.
erstens: das kann nicht weg. das ist unsere bildung, das ist unsere sicherheit, das ist unsere kultur, das ist unsere solidarität.
zweitens: es ist keine lästige, es ist eine noble pflicht des staates, seine aufgaben wahrzunehmen und in die gesellschaft zu investieren.
drittens: wieviel geld ausgegeben wird, das wird nicht durch den steuerfuss bestimmt, sondern durch die politik und die debatte. die steuern haben sich danach zu richten.
viertens: das öffentliche personal wie auch die anbieter von dienstleistungen erwarten vom staat ein mindestmass an verlässlichkeit und planungssicherheit.
fünftens: die regierung und das parlament haben ihr mandat von den hier lebenden bürgerinnen und bürgern erhalten, nicht von personen und firmen, die vielleicht irgendwann in den kanton ziehen. also hat sich die politik an den bedürfnissen der hier lebenden bürgerinnen und bürger auszurichten.
der geplante abbau trifft zahllose menschen, die hier und heute im kanton luzern leben. er trifft sie in ihrer sicherheit, in ihren chancen, in ihrer täglichen arbeit. aber das ist ihre existenz.
das kann nicht weg."

Dienstag, 5. September 2017

LUZERN: DEM LIEBEN GOTT

da ist sie wieder, die angst vor der neunten! „i‘ mag dö neunte nöt anfangen, i‘ trau mi‘ nöt, denn auch beethoven machte mit der neunten den abschluss seines lebens“, notierte anton bruckner einmal – und fing dann im sommer 1887 doch an damit. die sinfonie nr.9 d-moll geriet ihm zum „mysterium tremendum et fascinosum“, zu einem vielschichtigen und gross gedachten werk, das sich allen damals gängigen musikalischen mustern entzog und den weg für mahler und schönberg ebnete. sie blieb unvollendet, auch hier also ein abschied vom leben, ein zwischen furcht und verzweiflung schwankender ruf nach göttlichem erbarmen. natürlich widmete der fromme komponist seine letzte sinfonie „dem lieben gott“, niemand geringerem: „die neunte ist für den allerhöchsten könig da oben bestimmt. (…) wenn mi‘ lang niemand verstanden hat und viel mi‘ aa jetzt no‘ net verstehn: er wird’s begreifen.“ so wie daniele gatti und sein royal concertgebouw orchestra amsterdam diese bruckner 9 jetzt im rahmen des lucerne festival dargeboten haben, so intensiv, so erhaben, so entrückt – so begreifen auch wir bruckners annäherung an die göttliche schöpfung. oder lassen uns von ihr ergreifen.

Samstag, 2. September 2017

LUZERN: LIEDER UND TÄNZE DES TODES

diese frau hat einen verführerischen blick. diese frau hat eine wilde mähne. diese frau hat eine tolle figur. diese frau ist jung und lebenslustig. aber: oksana volkova hat den tod in ihrer stimme. bei ihrem debut am lucerne festival singt die weissrussische mezzosopranistin zusammen mit dem petersburger mariinsky orchestra unter valery gergiev die „lieder und tänze des todes“ von modest mussorgsky. eine musik voller grauen und voller entsetzen. „es tobt die schlacht in wilder wut, der kriegslärm dröhnt gleich sturmes wettern, in roten strömen fliesst das blut. (…) tanze und stampfe den boden so fest, dass euer keiner sein grab je verlässt.“ soldaten sucht der tod heim in diesen liedern, eine junge frau, einen bauern, ein kleines kind: „starr seine augen und bleich seine wangen, lass sein dein singen, lass sein!“ wenn oksana volkova diese melodien mit ihrem kräftigen mezzo und ihrem tiefdunkeln russisch durch den saal geistern lässt, getragen von einem phänomenal mitfühlenden orchester, dann werden pessimismus und hoffnungslosigkeit nicht nur spürbar, sondern geradezu unerträglich. was für eine stimme, was für ein abgrund. die volkova führt auch bizets carmen in ihrem repertoire. man hört sie schon (und es läuft einem eiskalt über den rücken), wie sie da im dritten akt im zigeunerlager die karten legt und aus tiefster tiefe klagt: „toujours - la mort.“ der tod ist ihr ständiger begleiter. „toujours - la mort.“

Montag, 28. August 2017

SACHSELN: VO INNÄ UISÄ

wer ist dieser mann? wer ist dieser bruder klaus? auf einer prächtigen grünen anhöhe, sinnigerweise schön in der mitte zwischen dem ruhigen ranft und dem unruhigen talboden von sarnen, wird in einem eigens erstellten grossen holzgaden 41 mal darüber nachgedacht. 41 mal spielen und singen laien „vo innä uisä“, das offizielle gedenkspiel zum 600-jahr-jubiläum des heiligen. autor paul steinmann und regisseur geri dillier fügen fragmente aus der biografie, der rezeptionsgeschichte und der mystisch-mysteriösen pilgervision zu einem neuen bild von niklaus von flüe. einem neuen bild? er selber tritt nicht auf. ein chor charakterisiert ihn mit eindrücklichen und eindringlichen liedern von jul dillier, dorfszenen beschwören die vergangenheit, lichtwürfe von judith albert sorgen für adäquate und meditative atmosphäre. kein neues bild also, aber eine neue, stimmige annäherung an den fernen eremiten. wird er überbewertet? wird er unterschätzt? bruder klaus polarisiert seit jahrhunderten. dieser pendler zwischen innenwelt und aussenwelt, zwischen familie und gott, zwischen politischem engagement und totalem rückzug, zwischen illusion und depression – er schien widersprüche auszuhalten oder sie gar als ansporn zu verstehen; eine ambiguitätstoleranz, die viele, die ihn heute aus distanz beurteilen, offensichtlich nicht nachvollziehen können oder gar teilen. für die einen ist er eine lichtgestalt, für andere ein ärgernis. das wird sich nach diesem spiel nicht ändern. wer ist dieser mann? was sagt er mir heute? die wahrheit über bruder klaus findet jeder nur bei sich.

Freitag, 18. August 2017

MÜNCHEN: THOMAS STRUTH, FIGURE GROUND

in den neunziger jahren erhielt der deutsche fotograf thomas struth (*1954) vom damaligen direktor des kunstmuseums winterthur die einladung, 37 neue zimmer am dortigen spital mit bildern auszustatten. struth streifte durch die ländliche gegend um winterthur, fotografierte wege auf hügeln, wege am waldrand, wege durch wiesen, nicht an grellen sommertagen, sondern wohl eher an milden frühlingsmorgen, an morgen voller melancholisch-weicher poesie. die grossformatigen bilder, die gegenüber dem krankenbett installiert wurden, zeigen die heimat der patientinnen und patienten und vor allem strahlen sie eine grosse ruhe, ja eine absolute stille aus. übers kopfende des bettes hängte struth jeweils die nahaufnahme einer pflanze, zart, verletzlich, eine metapher für die situation des patienten. diese serie mit dem titel „löwenzahnzimmer“ füllt im münchner haus der kunst jetzt den zwölften und letzten raum der umfassenden struth-schau „figure ground“. sie zeigt beispielhaft, wie sich dieser künstler als sozialer künstler versteht, der sich zunächst ausgiebig in eine situation einfühlt, und sie zeigt, wie er in ganzen werkgruppen denkt und arbeitet. weitere beispiele in der ausstellung sind familienporträts rund um den globus, high-tech in internationalen forschungslaboren, menschen in museen, unbewusste strassen in unbewussten orten. anders als andere mitglieder der berühmten düsseldorfer fotoschule bearbeitet thomas struth sein material nicht digital, die wirkung geht so ganz vom moment der aufnahme aus, vom unmittelbaren. bewegung in die oft ausgesprochen statischen bilder bringt die betrachterin und der betrachter. der fotograf macht sie zu komplizen.

Donnerstag, 17. August 2017

LIUZHEN: BRÜDER

besuchen sie china, bevor china sie besucht! das war einmal, dafür ist es jetzt zu spät. chinesinnen und chinesen stehen bereits am morgen vor unserem küchenfenster. sie kommen immer zahlreicher. sie bevölkern unsere städte. sie kaufen unsere uhren. und ihre eliten kaufen unsere firmen und unsere fussballclubs. es gibt keinen zwang, die menschen aus china zu mögen. angesichts ihrer zunehmenden globalen aktivitäten schadet es aber bestimmt nicht, sie besser zu verstehen. der roman "brüder" von yu hua (fischer taschenbuch verlag) ist geschichtsbuch und schelmenroman in einem, und vor allem ist er ein ausgezeichneter guide zur chinesischen mentalität. auf fast 800 seiten entwirft der autor ein gigantisches china-panorama von der kulturrevolution in den sechzigern bis zum millennium, zusammengehalten durch die geschichte zweier brüder in der kleinen stadt liuzhen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. der eine ein aufschneider und hallodri, der andere schüchtern bis zum abwinken. nichts bleibt den beiden und uns erspart: "brüder", das ist derb und drastisch, brutal und berührend. "brüder", das ist china von unten. atmosphärisch dicht, sprudelnd und aufschlussreich von der ersten bis zur letzten seite. man klappt das buch bereichert zu und denkt sich: ja, es gibt keinen zwang, die menschen aus china zu mögen, allerdings auch kein verbot.

Sonntag, 13. August 2017

WASHINGTON: THE LAST HOPE

"nach 200 tagen trump´schem chaos weiss man schlicht nicht mehr, inwieweit der präsident die realität überhaupt noch zur kenntnis nimmt." schreibt hubert wetzel im leitartikel der "süddeutschen zeitung". und schliesslich: "bei richard nixon endete die sache übrigens so: schon einige stunden bevor er zurücktrat, wurden ihm vorsichtshalber die abschusscodes für die us-atomwaffen weggenommen. seine minister hielten den präsidenten für zu verrückt."

Sonntag, 30. Juli 2017

INGOLSTADT: DAS AUDI-REQUIEM

er sei „der derzeit radikal beste mozart-dirigent“, liest man am vormittag in der „süddeutschen zeitung“,  in einer geradezu euphorischen besprechung seiner „tito“-première bei den salzburger festspielen. am abend erlebt man, entsprechend konditioniert und gespannt, diesen teodor currentzis dann live, mit mozarts requiem in ingolstadt. der magere, bleiche grieche trägt ein freifallendes schwarzes hemd mit stehkragen und eine hautenge schwarze hose. dieses eher atypische outfit unterstützt die dynamik seines dirigats und unterstreicht sein showtalent und seinen spirituellen zugang zum werk gleichermassen. und tatsächlich: so hat man mozarts requiem noch nie gehört. mit ungewohnten tempi, ungewohnten pausen, ungewohnten akzenten – so frisch, so aufgekratzt, so zornig und so innig. die mitglieder von currentzis´ musicaeterna-orchester und –chor aus dem russischen perm dürften im schnitt exakt so alt, resp. so jung sein wie mozart, als er diese musik kurz vor seinem tod komponierte. das gleiche gilt für die vier solisten, darunter – hingebungsvoll und sphärisch – der luzerner mauro peter (vom programmheft als „shootingstar unter den jungen tenören“ gefeiert). die durchgehende jugendlichkeit dieses ensembles schafft phänomenale klanggebilde, ein vom ersten bis zum letzten takt aufwühlendes mozart-erlebnis. nicht enden wollender beifall. dass sich der audi-konzern, der gerade mit beiden beinen tief im diesel-morast steckt, für den abschluss seiner traditionellen ingolstädter sommerkonzerte ausgerechnet ein requiem aussuchte, ist eine andere geschichte.

Freitag, 28. Juli 2017

MÜNCHEN: TIEFER SCHWEB

mit marthaler-inszenierungen verhält es sich wie mit freitag-taschen: alles schon gesehen, alles schon gehabt, es gibt immer wieder neue und sie gleichen immer wieder den alten. more of the same. jetzt also "tiefer schweb“ an den münchner kammerspielen. der tiefe schweb ist die tiefste stelle des bodensees, 251 meter unter der oberfläche; hier trifft sich der nationale sicherheitsrat der vereinigten bodenseeverwaltung in der klausurdruckkammer 55b, die bei marthaler – natürlich – mit schwerer eiche getäfelt und mit einem stolzen kachelofen bestückt ist. die acht mitglieder treffen sich, um… ja um was eigentlich? um über die zukunft der über ihnen in schiffen parkierten „menschen mit temporärheimat“ und ihre nebenwirkungen zu beraten. sie machen das an ihrem sitzungstisch wie die garstigsten vereinsmeier, singen dazu unvermittelt liedli der geschwister schmid und bach-kantaten, also ziemlich alles, was nicht zusammengehört. ueli jäggi und walter hess (das ensemble wird je hälftig von den kammerspielen und der marthaler-familie gestellt) diskutieren am pissbecken nicht-könnend über das nicht-wollen im sinne heideggers, hassan akkouch muss als bajuwarisierter libanese fehlerfrei sämtliche zutaten der weisswurst aufzählen und zeigt dann auch gleich noch die artverwandtschaft von schuhplattler und breakdance, annette paulmann gibt grossartig selbstverliebt die „fischerin vom bodensee“ – und als ob das alles nicht reichen würde, geraten die jungs mit drei hammondorgeln auch noch ganz übel ins simonandgarfunkeln. das ganze ist nicht der ultimative beitrag zur lösung der migrationskrise, aber eine bitterböse persiflage auf all jene behörden, die auch nicht können und/oder nicht wollen. ein bunter abend mit, jawohl, tiefgang (251 meter). irgendwie passt halt in so eine marthaler-inszenierung einfach doch mehr hinein als in eine freitag-tasche. und jeder redundanz-fetischist wird sich auch die nächste wieder angucken.

Donnerstag, 27. Juli 2017

ROMA: NABUCCO, OUTDOOR

erst mussten die zahllosen prostituierten weg. als in den fünfziger jahren die tradition der opernaufführungen in den ruinen der caracalla-thermen ihren anfang nahm, wurden jeweils am nachmittag alle prostituierten vom riesigen areal beim circo massimo vertrieben. auf dass der kulturgenuss der römer society ungetrübt sei. und die flugzeuge flogen ciampino an diesen abenden von süden an, um die klassische musik nicht zu stören. tempi passati. geblieben ist das sommerliche festival, geblieben ist die grandiose kulisse. federico grazzini nimmt die wuchtigen ruinen zum ausgangspunkt seiner „nabucco“-inszenierung, er ergänzt sie im vordergrund mit resten eines zerbombten bunkers: in diesem umfeld von terror und zerstörung erzählt er die geschichte der hebräer zeitlos und ewiggültig - als trauma eines volkes, das auf der flucht ist vor herrschern, die ihre macht missbrauchen, eines volkes, das sich nach freiheit sehnt und einer neuen zukunft. es sind bilder, wie wir sie aus syrien, aus afghanistan, aus afrika kennen. und von der balkanroute und der italienischen südküste. sie wirken umso beklemmender, weil dirigent roberto rizzi brignoli der versuchung widersteht, einfach auf die süffigen effekte und die publikumswirksamen hits von verdis musik zu setzen, sondern mit dem orchestra del teatro dell’opera di roma vor allem den menschlichen regungen, abgründen und hoffnungen in diesen melodien nachspürt, vielschichtig und präzis. auch die solisten, allen voran csilla boross als abigaille und gevorg hakobyan als nabucco, ziehen charakterporträts der grossen opernpose vor. ein rundum geglückter abend also, der beweist, dass man eine oper auch auf einer riesigen bühne und vor 3500 zuschauerinnen und zuschauern anrührend aufführen kann, fern aller diven-gesten.

Mittwoch, 26. Juli 2017

ROMA: LA MAGNANI

„sono contenta di stare qui in casa mia da sola per giorni, quando sono da sola, non mi annoio mai. ma anche quando io non sono sola fisicamente, posso essere sola spiritualmente, è facile per me essere sola anche in mezzo una folla. poi, a livello spirituale, sono stata da sola tutta la vita.” da sola per giorni, da sola tutta la vita. das italienische „solo/sola“ kann sowohl „einsam“ als auch „allein“ bedeuten. anna magnani (1908-1973) hatte eine schwierige jugend (den vater hat sie nie gekannt, die mutter hat sich nach ägypten davongemacht) und wenig glück mit ihren beziehungen als erwachsene. vielleicht sind es vor allem diese bitteren erfahrungen, die sie zu einer so aussergewöhnlichen und aussergewöhnlich authentischen filmschauspielerin gemacht haben. das vittoriano, mitten im touristischen zentrum roms, zeigt jetzt bisher unveröffentlichte schwarzweissbilder, die diva hinter den kulissen, bei partys mit freunden, in ihrer wohnung, dazu sorgfältig ausgewählte wochenschau- und interviewsequenzen, die einem, wenn man sich zeit lässt, diese frau sehr nahe bringen – und noch sympathischer machen. mamma roma, ganz privat. „non ho fatto mai il minimo sforzo per sembrare un’altra.“ was für ein satz für eine grosse schauspielerin.

Montag, 24. Juli 2017

ROMA: CROSS THE STREETS

metro, s-bahnen und regionalzüge wurden und werden in keiner stadt der welt so konsequent und kontinuierlich besprayt wie in rom (und so wenig in ihren ursprünglichen zustand zurückversetzt). das rollmaterial, das das magliana-depot im süden der stadt verlässt, ist ein gigantischer querschnitt durch über 30 jahre jugendkultur, auflehnung, farben- und formensprache. das macro (museo d'arte contemporanea roma) widmet dem phänomen mit "writing a roma 1979-2017" jetzt eine eigene schau. sie zeigt, wie die graffiti-ausstellung in der galleria la medusa, die erste ausserhalb der usa, 1979 die initialzündung gab, wie sich das erscheinungsbild der stadt durch die writings mehr und mehr zu verändern begann, wie die jungen künstler ihre nächtlichen werke tagsüber mit fotos und videos in einer geradezu atypischen sorgfalt dokumentieren. dieser ebenso faszinierende wie liebevolle einblick bringt viel lokalkolorit zur parallel laufenden, umfassenden ausstellung "cross the streets", die den grössten der zunft (keith haring, obey the giant, wk interact) grosszügig raum gewährt. street art im museum? ein widerspruch, gewiss. bei 36 grad im schatten lässt sich damit allerdings recht gut leben. dass die exponate hier aus dem zusammenhang gerissen sind, ermöglicht neue zugänge, eine art sehschule. sie öffnet die augen für eine entwicklung, die im untergrund begann und uns heute im alltag vielfältig begegnet, in der mode, in der kunst, in der werbung: einst protest, jetzt pop-communication. die welt ist farbiger geworden.

Donnerstag, 20. Juli 2017

MÜNCHEN: SCHWANGER IM KIRSCHGARTEN

"brigitte hobmeier wird mutter! die rolle der scharlotta iwanowna übernimmt daher bis zur sommerpause ensemblemitglied thomas hauser." was für eine umbesetzung, die der beizettel im programmheft da knapp annonciert: mann statt frau, newcomer statt diva, die münchner kammerspiele kennen gar nichts. hauser geht die rolle der gouvernante in tschechows "kirschgarten" leise und subtil an, flüsternd fast, die einzige figur, die weiss, dass sie nicht weiss, wer sie ist; die einzige, die zugibt, dass sie keine lösung hat in diesen zeiten des wandels; die einzige, die die anderen allesamt durchschaut, was sich gleich nach der pause zeigt, wo iwanowna/hauser in einem fulminanten "was bisher geschah"-solo die anderen elf figuren im höllentempo imitiert und karikiert und sortiert. coole umbesetzung, die hobmeier muss sich während der schwangerschaft nicht grämen. eigentlich haben wir uns diese vorstellung aus einem ganz anderen grund angeschaut: sie trägt den stempel von nicolas stemann (hausregisseur) und benjamin von blomberg (chefdramaturg), das sind die beiden, die am schauspielhaus zürich als co-leitung die nachfolge von barbara frey antreten. hier machen sie gleich klar: nicht nur im kirschgarten ist gröberer umbruch angesagt, sondern auch im theater, das alte wird abgeholzt, das neue hat - nicht bloss an den kammerspielen - noch keine klaren konturen. die bühne ist bis auf ein paar mikroständer leergefegt, der schwere rote samtvorhang mit goldkante wird in wilder choreografie hin und her gezogen und schliesslich runtergerupft. unruhe, ungewissheit, planlosigkeit, lethargie - den tschechowschen blues, den kriegt diese inszenierung ganz trefflich hin. trefflich und zukunftsschwanger.

Sonntag, 9. Juli 2017

GISWIL: SEELENVERWANDTE AUS GEORGIEN

14 männer in wadenlangen schwarzen röcken, edler stoff, elegant geschnitten. man könnte sie für priester halten oder für magier, wären da nicht die säbel vor dem bauch, die patronentaschen über der brust und die steinschleuder auf der schulter. so hat die georgische tracht, die der didgori choir aus tiflis trägt, etwas martialisches und auch opernhaftes. doch diese männer singen keine kriegshymnen und keine opern. sie singen die lieder aus georgien, polyphone, teils dissonante gesänge, die im alltag ihrer heimat wurzeln und seit generationen grösstenteils mündlich überliefert wurden und werden: lieder über die landarbeit, über die sonne, über die karge landschaft, über die liebe. kräftige stimmen, archaische melodien mit vielen vokalen und vielen obertönen – und die naturkulisse mit den bäumen im vorder- und den felsen im hintergrund könnte passender nicht sein. „obwald“. das volkskulturfest im wald bei giswil. schon zum zwölften mal. und wieder mit einer grandiosen entdeckung. es berührt tief, als die didgoris ein melancholisches schlaflied anstimmen, wie es in georgien eben nicht nur grossmütter und mütter singen, sondern auch kräftige bärtige männer. alle klischees werden überwunden und einmal mehr bei obwald alle grenzen: nach dem begeisterten schlussapplaus setzen die jodlerklubs bärgsee lungern und echo sörenberg gemeinsam zu einem weiteren naturjuiz an und die georgier gesellen sich zu ihnen und stimmen ein. seelenverwandte. martin hess, der obwald-zampano mit der genialen spürnase, hat sie gesucht und einmal mehr gefunden. zutiefst seelenverwandte.

Sonntag, 2. Juli 2017

RIGA: WASSER VOLLER SEELEN

ich überquerte alle flüsse,
doch ich konnte die daugava nicht überqueren,
ich konnte die daugava nicht überqueren,
ihr wasser ist voller seelen.
(aus einem lettischen volkslied)
die gesänge und die gedichte der letten sind meistens in moll gehalten, voller melancholie, poesie gewordene komplizierte vergangenheit. doch jetzt tanzen sie wieder am ufer der daugava und sie singen und sie trinken, auch auf den plätzen der altstadt schlagzeug- und bierorgien. selten in einer nördlichen stadt so viel südliche lebenslust erlebt. deutlich mehr dur als moll. das tut den toten seelen gut und den lebenden.

Mittwoch, 21. Juni 2017

MÜNCHEN: LE RETOUR AU DÉSERT

schauplatz: ein heller, hoher raum. allerdings weckt der, wegen seiner fensterlosigkeit und weil sich die wände unaufhörlich und schier unmerklich verschieben, durchaus klaustrophobische gefühle. die ganze sippe der serpenoise haust in diesem anwesen und mit ihr die gespenster der vergangenheit und die gespenster der gegenwart, ein ganzes heer. der helle, hohe raum ist also überbelegt, lässt kaum luft zum atmen. mit „rückkehr in die wüste“ hat bernard-marie koltès in den 80er-jahren eine bittere komödie geschrieben: algerien-trauma, xenophobie, perspektivenlosigkeit und lethargie in der wüste der provinz – alles verpackt in die geschichte einer spiessigen industriellenfamilie in frankreichs norden. die inszenierung von amélie niermeyer am münchner residenztheater zeigt mit beinahe sadistischer lust, wie brisant dieses 30 jahre alte stück gerade in diesem französischen wahlfrühling immer noch ist. rechtsextreme zombies schleichen durchs haus und schmieden ihre pläne, araber werden abgefackelt und schwarze abwechslungsweise als karikaturen oder als bedrohung wahrgenommen. im zentrum stehen adrien, der firmenchef, und seine schwester mathilde, die nach 15 jahren mit zwei unehelichen kindern aus algerien zurückkehrt und ihr erbe einfordert. götz schulte und juliane köhler keifen und balgen, überhäufen sich mit vorwürfen, verletzen und versöhnen sich, ein tanz am abgrund; geschwisterliche hassliebe mit permanenter explosionsgefahr. es brodelt in der familie, es brodelt in europa, es brodelt zweieinhalb stunden lang. koltès schwingt sich mit seinen messerscharfen dialogen in tschechowsche dimensionen: wenn alles nur wüste ist, wo ist dann die heimat?

Dienstag, 20. Juni 2017

BRUXELLES: ÜBER VOR- UND NACHTEILE

"die eu ist kein verein, der allen mitgliedern immer nur vorteile bietet. sie funktioniert, weil die vorteile alle tatsächlichen oder vermeintlichen nachteile aufwiegen - und zwar für alle." die eu, von sz-korrespondent daniel brössler auf den punkt gebracht.

Donnerstag, 15. Juni 2017

BASEL: SATYAGRAHA, NERVTÖTEND

minutenlang schreitet mahatma gandhi im weissen gewand über die dunkle bühne und singt dazu texte aus dem altindischen epos „bhagavad gita“. eine lichtgestalt. minutenlang tanzt mahatma gandhi im weissen gewand inmitten von farbigen kämpfern, die ihre blutigen hände zum himmel werfen. minutenlang freut sich mahatma gandhi im weissen gewand über die leute, die die gründung seiner zeitung „indian opinion“ feiern. diesem kämpfer für gewaltfreien widerstand wollte der amerikanische komponist philipp glass 1980 ein denkmal setzen. er nannte es eine oper. „satyagraha“ („kraft der wahrheit“) erlebte jetzt, zum 80. geburtstag des komponisten, am theater basel ihre schweizerische erstaufführung, inszeniert vom multikulti-choreografen sidi larbi cherkaoui, dirigiert von jonathan stockhammer: viel bewegung, kaum handlung. eine oper? eher ein oratorium, eine musikalische meditation darüber, wie sehr der wunsch nach abwesenheit von krieg und gewalt auch persönliche veränderung bedingt. und tatsächlich scheinen sich nicht wenige im publikum hier zu einem gandhi-gottesdienst einfinden zu wollen. sie werden aufs äusserste gefordert, denn glass schrieb für gandhi (rolf romei mit strahlendem tenor) zwar sinnlich-schöne melodienbögen und stattete auch die chöre musikalisch gut aus, doch dem orchester verordnete er parallel dazu absolute musikalische einfalt, endlos, wirklich endlos, die immer gleichen zwitschernden tonleitern und die immer gleichen juckenden dreiklänge. definitiv keine oper also, sondern ein strapaziöses, überredundantes klangexperiment. minimal music auf maximale dauer zerdehnt. statt der vom komponisten beabsichtigten hypnotisierenden spiritualität erlebten wir drei letztlich nervtötende stunden. zum glück haben wir von gandhi gelernt, unseren zorn in positive energie umzuwandeln.

Mittwoch, 7. Juni 2017

MÜNCHEN: KREISE/VISIONEN

das leben ist ein leeres weisses blatt. so liegt es vor uns im marstall des münchner residenztheaters, 15 auf 15 meter, das publikum auf allen vier seiten. dann stürzen drei schauspielerinnen und fünf schauspieler herein, alle im violetten frack, alle mit glatzen und schlohweissem resthaar, alle mit einer discokugel spielend. willkommen im variété, willkommen in einer philosophischen revue über hoffnungen, ängste und träume, willkommen in joël pommerats stück „kreise/visionen“. der französische theatermacher verschachtelt darin acht geschichten aus sieben jahrhunderten zu 20 szenen mit 64 figuren. zwei kinderlose paare verirren sich in einem wald und hören immer babygeschrei. ein steinreicher manager sucht bei obdachlosen einen organspender, um das leben seines sohnes zu retten. ein adeliger möchte im drogenrausch seinen bediensteten verführen, doch der will lieber in den krieg ziehen. und. so. weiter. regisseurin tina lanik entwickelt mit ihren acht violetten conférencier-clowns zunächst einen rasenden reigen, der immer um die frage kreist, wo das glück zu finden ist und wo der erfolg und wo man bitte die energie her nehmen soll, um es zu sehen und sich ihm zu nähern. das spielt, allen violetten überhöhungen zum trotz, meistens sehr nahe am alltag. der motivationstrainer, der arbeitslose coacht, und der verkäufer, der einer depressiven alleinerziehenden die „universalbibel zum erfolg“ andrehen will,  bekommen dann allerdings so viel platz, dass der rhythmus der episoden völlig aus dem gleichgewicht gerät. die revue wird zäh, die reflexion erlahmt.

Dienstag, 6. Juni 2017

ZÜRICH: JAKOB VON GUNTEN

bückling, tür auf, bückling, tür zu. bückling, tür auf, bückling, tür zu. die jungs im institut benjamenta werden gedrillt, in einem langen, immer enger werdenden korridor, das fenster am ende lässt kaum licht durch, wenig luft zum atmen. bückling, tür auf, bückling, tür zu. barbara frey lässt ihre inszenierung von robert walsers tagebuchroman „jakob von gunten“ in der box des schiffbaus mit einer mehrere minuten dauernden, stummen choreografie der unterwürfigkeit beginnen. michael maertens, stefan kurt und hans kremer sind als zöglinge eine wucht, übermotivierte ministranten, die sich über ihre motivation den kopf noch nicht zerbrochen haben. gebetsmühlenartig rezitieren sie später mit enervierender redundanz ihre benimm-bibel: „das gute betragen ist ein blühender garten.“ hier blüht gar nichts. hier verdorrt noch die letzte vitale regung. diese jungs werden nicht gefördert, sondern leer gesaugt. hier wird jakob, wie er selber sagt, „eine reizende kugelrunde null“. barbara frey sieht im walser-roman einen „gegenentwurf zum heutigen lebensoptimierungs- und effizienzwahn“, ebenso heiter wie beunruhigend. zwischen diesen polen pendelt auch ihre von melancholischen klaviersuiten und songs untermalte inszenierung. man lacht und ist bedrückt und lacht immer weniger. fräulein benjamenta (ebenfalls stefan kurt) ist in ein armloses schlangenkleid gezwängt, das nur ihrem zuchtstock noch freien lauf lässt. er fällt bei ihrem tod wie ein verfaulter körperteil von ihr ab. derweil herr benjamenta, der vorsteher (ebenfalls hans kremer, als ballonartig aufgeblasener gottvater), mit jakob in die wüste aufbricht. offen bleibt, ob er dort die freiheit sucht oder nur bücklinge üben will. man kann gut verstehen, dass franz kafka diesen roman walsers geliebt und viel daraus vorgelesen hat.

Dienstag, 30. Mai 2017

BASEL: PEER GYNT, DANCE VERSION

da tanzt einer um sein leben. sprünge, pirouetten, akrobatik, slapstick. fast zwei stunden lang ist dieser frank fannar pedersen das ebenso faszinierende wie rastlose zentrum auf der grossen bühne; da kommen menschen und es gehen menschen und er tanzt und tanzt und tanzt. pedersen ist peer gynt, und peer gynt ist auf der suche nach sich selbst und dabei immer auch auf der flucht vor sich selbst. eine steilvorlage für ein tanztheater. die geschichte von ibsens „nordischem faust“ verknüpft der schwedische choreograf johan inger am theater basel mit seiner eigenen biografie: das gyntsche ich und die stationen eines tänzerlebens überlagern sich, weite reisen, grobe zweifel, derbe erotik, das volle programm. was einigermassen herbeigedacht und konstruiert wirken könnte, kommt hier – zu musik von grieg, tschaikowsky und bizet – wie aus einem guss daher. das liegt ganz wesentlich auch am bezaubernden bühnenbild von curt allen wilmer: er hat links und rechts eine art grosse archivschränke gebaut, da wird dann mal der und mal jener herausgezogen – und drin, puppenstubenmässig, mutter aases hütte in norwegen, ein tanzstudio in den usa, eine spelunke in spanien, ein wc-häuschen. das sorgt subito für die adäquate stimmung und erlaubt fliessende, temporeiche übergänge von einer szene zur nächsten. irgendwann im zweiten teil werden alle schränke gleichzeitig geöffnet und hinten ins dunkel weggefahren; die erinnerungen überwältigen peer und gleichzeitig befreit er sich von ihnen. dann ist er allein auf der leeren bühne, nur ein knabe kommt dazu, peer als tanzeleve, und spielt auf der flöte die morgenstimmung aus griegs peer-gynt-suite. ein moment grosser poesie und grosser erkenntnis: erst in dieser leere schärft sich der blick für die wesentlichen bindungen.

Sonntag, 21. Mai 2017

MÜNCHEN: HAMLET IM BLUT, BLUT, BLUT

blutrache, blutrausch, blutbad, blutorgie. der theaterbluttank auf der hinterbühne spielt eine zentrale rolle, kübelweise wird blut verschüttet und verspritzt, es trocknet nie während dieser aufführung. 240 liter kommen zum einsatz, macht bei nur drei schauspielern im schnitt immerhin… - aber lassen wir das. „hamlet“ also. hamlet macht, unmittelbar vor seinem tod, seinen freund horatio zum chronisten seines lebens: „wenn du mich je in deinem herzen trugst, so atme schmerzhaft in der rauen welt, um hamlet zu erzählen.“ übers led-schriftband laufen zu beginn alle rollen, die christopher rüping, hausregisseur der münchner kammerspiele, gestrichen hat: alle. ausser horatio. dafür beschwören gleich drei horatios den toten freund und seine traumatische geschichte. katja bürkle, nils kahnwald (nach einer verletzung im rollstuhl) und walter hess zeigen in einem furiosen marathon, wie es sich anfühlt, heute hamlet zu erinnern und zu spielen und ophelia und claudius und laertes. wie es sich anfühlt als junger mann, der mit seiner welt nicht zurecht kommt, da sie komplex und brutal ist und ihm den vater geraubt hat. im kapuzenpulli dröhnt sich hamlet den kopf mit dem sound der zeit voll, wenn horatio ihn spielt oder das ganze horatio-trio. da ist wenig grübeln und viel verzweiflung und aggression und zerstörungswut. „sein oder nicht sein“ – das ist für die drei horatios keine frage, sondern eine lästige pflichtübung, da alles schon gesagt und breitgetreten ist, weshalb sie den monolog dem musiker christoph hart überlassen, der aus historischen aufnahmen mit grossen schauspielern eine coole toncollage mit immer härteren beats bastelt. diese inszenierung wirkt gelegentlich pubertär, aber immer kraftvoll. am schluss stehen wieder dutzende von eimern auf der bühne, der saft fürs nächste blutbad. „weiter, weiter“ flimmert über die led-leiste. hamlet 2017, arrogant und durchgeknallt.

Samstag, 20. Mai 2017

LUZERN: DER MENSCH ERSCHEINT IM HOLOZÄN

„der teufel tanzt es mit mir“, „wahnsinn fasst mich an“, „vernichte mich, dass ich vergesse, dass ich bin“, so und ähnlich notiert gustav mahler in den entwürfen zu seiner zehnten, schliesslich unvollendeten sinfonie; nach dem absprung seiner alma steckt der komponist in einer existenziellen krise. genau wie herr geiser, der protagonist in max frischs holozän-erzählung, dem in seinem tessiner rustico die hirnzellen allmählich abhanden kommen. in beiden werken endzeitstimmung, in beiden fällen autobiographisch grundiert. am luzerner theater kombiniert regisseur felix rothenhäusler die beiden: im ersten teil frisch pur, im zweiten teil frisch durchsetzt mit mahler-fragmenten, im dritten teil mahler – eine reise durch menschliche ängste und abgründe, eine steigerung zum unfassbaren, transzendenten. ein paar blitze zucken quer über die bühne, zum donner von wort und musik. so weit, so bestechend. doch der schauspieler adrian furrer, in einem massiv irritierenden van-gogh-t-shirt, deklamiert hektisch an der rampe und kriegt die subtilität des frisch/geiser-monologs nicht hin. und dirigent winston dan vogel kommt mit den spätromantischen klangfarben nicht klar, das mahler-universum bleibt weit entfernt, die querflöten quietschen, die hörner sabbern, so schlecht habe ich das luzerner sinfonieorchester lange nicht gehört (pleistozän). so will, so kann sich kein ganzes ergeben. dass das luzerner theater vermehrt experimentiert, ist erfreulich. dieses experiment jedoch wird weder mahler noch frisch gerecht, man muss es als missglückt bezeichnen.

Dienstag, 16. Mai 2017

MILANO: SANTIAGO SIERRA

provocation on tour. unter dem titel „mea culpa“ zeigt jetzt auch das museo pac (padiglione d’arte contemporanea) in mailand eine grosse retrospektive über das werk des begnadeten provokateurs santiago sierra. der spanische künstler ist einer, der sich am elend der welt abarbeitet und mit seinen harten und brutalen bildern, videos, skulpturen und performances um die welt tourt. jetzt also mailand. sierra will hier wie überall die unsichtbaren skandale ans licht bringen. die ausstellung ist in erster linie eine dokumentation seiner spektakulären aktionen: mit den beiden buchstaben „no“ in form einer drei meter hohen skulptur fuhr er durch die wall street, nach washington und zum papst; in neu-delhi trocknete er von ausgebeuteten latrinenarbeitern eingesammelte fäkalien in der sonne und formte sie mit bindemittel zu quadern, die an särge erinnern; er sperrte menschen gegen bezahlung in kartons oder liess sie vor der kamera masturbieren. „meine arbeit ergreift partei für das vom kapitalismus zerstörte leben.“ er wolle in seinen werken die realität abbilden, nicht seine wünsche. das stimmt nicht ganz. eines der grossen werke in mailand („parola distrutta/destroyed word“) zeigt auf zehn raumhohen, hochformatigen bildschirmen die zehn ebenfalls raumhohen buchstaben von „kapitalism“ und wie sie liquidiert werden: zwei schwarze zerhacken mit beilen das i, das a wird mit maschinenpistolen durchlöchert, schweine fressen das s auf, kapitalismus am ende. oder doch nur hilflose versuche? diese kunst schüttelt durch und rüttelt auf. nachhaltig. man gönnt sich danach nicht gleich den nächsten campari.

Donnerstag, 4. Mai 2017

BASEL: ORESTEIA

agamemnon liegt vorne auf der leeren bühne. tot. dahingemordet von seiner gattin klytaimnestra. dazu aus der bühnentiefe scharfes schlagwerk und brutale bläserfetzen. und elektra, die tochter der beiden, schreit herzzerreissend: „nie endendes unheil!“ in der atriden-dynastie zieht ein mord den anderen nach sich. als der griechische komponist iannis xenakis die „orestie“ von aischylos 1965/66 zu vertonen begann, interessierte ihn vor allem eines: wie mögen sprache, chöre, musik damals geklungen haben? was war der sound der antiken theater? seine melodien sind schräg, unvollständig, teilweise hässlich – und immer ausgesprochen rhythmisch: klagelieder von grosser suggestiver kraft. wenn der chor des basler theaters die altgriechischen verse, unterstützt durch fabelhafte perkussionisten der basel sinfonietta, frontal ins publikum singt oder spricht, ergibt sich eine berührende, oft auch beängstigende tonspur zum fluch, der auf dieser gesellschaft lastet. hier gelingen regisseur calixto bieito die stärksten momente, macht und ohnmacht der massen, wogegen er mit den solistinnen und solisten weniger anzufangen weiss; da bleibt es bei assoziativen bildern und ziemlich konventionellen arrangements, die die schicksalshaften verstrickungen innerhalb der atriden-sippe vor allem immer recht körperlich illustrieren, ich lieb‘ dich, ich fick‘ dich, ich würg‘ dich. dazu in riesiger schwarz-weiss-projektion über allem permanent ein verspieltes, schwarzgelocktes mädchen: die tochter iphigenie, die agamemnon für sein kriegsglück zu opfern bereit ist, als mädchen von heute. „manchmal fühlt es sich so an, als würden wir in einer welt leben, in der eine solche tragödie jederzeit wirklichkeit werden könnte“, schreibt dirigent franck ollu im programmheft. reanimierte mythologie, fährt ein.

Mittwoch, 3. Mai 2017

ZERMATT: ROMEO UND JULIA AUF 2600 METERN

es gab mal eine wundervolle einrichtung: das theater. man sass in einem raum, schaute sich eine inszenierung an und freute oder ärgerte sich darüber. das genügte einigen nicht. sie erfanden das freilichttheater, wo man sich nicht über das stück ärgert, sondern weil man friert oder weil die musiker davonrennen, da es ihnen auf die stradivaris pisst. ok, „das grosse welttheater“ vor der barocken fassade des klosters einsiedeln oder „carmen“ in der arena von nîmes, das macht ja inhaltlich noch einigermassen sinn. aber auch das genügte einigen nicht. sie erfanden das landschaftstheater, wo pferde und schauspieler über wiesen jagen – und das publikum hinterher. heute lauert an jedem ufer und hinter jedem wäldchen so ein event. „some like it hot“ am thunersee. hot! am thunersee! verdis „rigoletto“ vor der mülimatt-turnhalle in brugg/windisch (auch das ist, ehrlich, nicht erfunden). „winnetou 1“ in engelberg. und es wird noch absurder: nach dem landschaftstheater folgt jetzt unvermeidlich das hochgebirgstheater. der ultimative höhepunkt wird diesen sommer mit „romeo und julia am gornergrat“ erreicht, 2600 meter, zum schnäppchenpreis von 99 franken. eine kulturelle gratwanderung. dabei gibt’s so eine richtig tüchtige lungenentzündung im flachland viel günstiger, vor der mülimatt-turnhalle in brugg/windisch zum beispiel. aber nein, man wird diesen sommer mit blauen lippen und vor kälte starr auf 2600 metern sitzen – und die alten shakespeare-verse werden von ganz neuer dringlichkeit durchdrungen: „von diesen lippen schied das leben längst; der tod liegt auf ihr, wie ein maienfrost.“ und bestimmt freuen sich dann alle schon auf „die zauberflöte“ in der eigernordwand.

Sonntag, 30. April 2017

HAMBURG: DIE FRAU OHNE SCHATTEN

ehekrise bei barak. der färber in seiner einfachen hütte will kinder, viele, seine frau weigert sich, bloss gebärmaschine zu sein. derweil singt der chor der stadtwächter im off ein loblied auf die liebe und aus der geisterwelt steigen die ebenfalls kinderlose kaiserin und ihre amme herab, um von der färberin den schatten, also die gebärfähigkeit, zu erdealen. nanu? ein spuk? ein märchen? eine hymne auf die ehe? futter für feministinnen? ja, alles! und deshalb ist „die frau ohne schatten“ von richard strauss und hugo von hofmannsthal für jeden regisseur eine herausforderung. andreas kriegenburg versucht an der hamburger staatsoper gar nicht erst, die widersprüche und absurditäten der geschichte zu klären oder zu glätten, sondern liefert das volle programm als monströsen albtraum der färberin: zwischen bühnenhohen mikadostäben und wendeltreppen, die immer wieder in die höhe und in die tiefe fahren, trifft sie auf farbige fabeltiere, auf ungeborene und eurythmie-schleier schwingende geschlechtslose genauso wie auf garstige irrenhaus-schwestern und dumpfe schläger. strauss‘ musik deckt von der spätromantik bis zu den grenzen der tonalität alles ab und wie diese musik pendelt auch die von asiatischen theaterformen inspirierte inszenierung zwischen tiefen humanistischen momenten und ungebremstem kitsch. auch der strauss-aficionado entdeckt in diesem reichen, vielschichtigen werk immer wieder neues, vor allem, wenn es so elegant und transparent dirigiert wird wie von axel kober, der kurzfristig für kent nagano einspringen musste. immerhin stand ihm eine top-besetzung zur verfügung, allen voran andrzej dobber als barak und lise lindstrom als seine frau – ein darstellerisch differenziertes und vokal herausragendes paar, dem man selbst bei der ehekrise gerne zuschaut und –hört.

Samstag, 29. April 2017

HAMBURG: MAHLER 8 IN DER ELPHI

elbphilharmonie. elphi. mein erstes mal. für ein seit monaten ausverkauftes konzert im letzten moment doch noch zwei tickets ergattert. das opus summum von gustav mahler im opus summum von herzog und de meuron: was für ein ort für dieses werk. die symphonie nr. 8 in es-dur von mahler beschäftigt ein orchester mit 135 musikerinnen und musikern, zwei konzertchöre und einen kinderchor, fünf solistinnen und drei solisten; sie wurde nach ihrer uraufführung 1910 deshalb auch symphonie der tausend genannt – und vom „spiegel“ „mahlers riesenschwarte“. „denken sie sich, dass das universum zu tönen und zu klingen beginnt“, sagte mahler selber; er verwob hier einen mittelalterlichen pfingsthymnus und die faust-schlussszene zu einem 90 minuten wabernden wunderwerk, das sämtliche themen des daseins streift und transzendiert und sämtliche musikalischen möglichkeiten und grenzen auslotet. schon bei den einleitenden tutti-takten („veni creator spiritus“) überzieht, spürbar, eine kollektive gänsehaut das publikum. es dirigiert der mahler-spezialist eliahu inbal, der kurzfristig für den erkrankten kent nagano einsprang, und es ist umwerfend, mit welcher konzentration und kraft der 81jährige diese kiste zusammenhält und wie er ohne ausgiebige vorbereitung diesen neuen und aussergewöhnlichen raum im griff hat und plastisch zu füllen vermag. die akustik? sie bringt dieses monumentale werk zum strahlen, das publikum hört nicht einfach, sondern wird gleichsam eingetaucht, wird teil des gewaltigen musikkosmos; einzig die ganz, ganz zarten passagen strahlen ein wenig zu grell. aber ob das an der akustik liegt? oder am orchester? am dirigenten? an meinem platz (bereich b, reihe 3, platz 8 – ziemlich vorne, ziemlich links, ziemlich nahe bei den violinen)? oder an meinen ohren? who knows? die gesamtwirkung wird dadurch keineswegs getrübt. diese phantastische musik in diesem phantastischen raum – ein wort dominiert danach im publikum: überwältigend.

Samstag, 22. April 2017

SANTA TERESA DI GALLURA: ACCABADORA

das cinema teatro von santa teresa ist gross, für ein kleines städtchen sogar sehr gross. und es ist sehr leer an diesem abend. zunächst sind wir nur vier leute, beim filmstart dann 17. erstaunlich, denn immerhin wird ein film gezeigt, der in sardinien spielt, ein bewegender heimatfilm: „accabadora“, der roman von michela murgia, verfilmt von enrico pau. es ist die geschichte einer frau, tzia bonaria, die in weiten schwarzen kleidern über die felder in die dörfer zieht, um menschen den todeskampf zu verkürzen. oft wird sie von familien gerufen, die sich dann irgendwo ins halbdunkel der häuser zurückziehen, wenn tzia bonaria das zimmer des hoffnungslos kranken betritt, die türe hinter sich schliesst, jesus am kreuz gegen die wand dreht und dann ihr handwerk als sterbehelferin verrichtet. donatella finocchiaro spielt diese frau ganz ergreifend, nicht als kalten engel, sondern wie eine in sich ruhende priesterin, die überzeugt und überzeugend eine erlösende zeremonie vollzieht. oft soll dies auch mit wissen und duldung der katholischen kirche geschehen sein. der film von enrico pau, der nie wertet, hat einen grossen atem, wie man ihn im kino nur noch selten erlebt: minutenlange einstellungen, landschaften, lichtspiele, sardische gesänge, stumme gesichter. auf diese weise wird dieser spielfilm zu einer langen, stillen meditation über unser verhältnis zu leben und tod. accabadoras soll es in sardinien bis in die fünfziger jahre des letzten jahrhunderts gegeben haben; in der offiziellen volkskunde allerdings, so verrät der abspann, sind sie bis heute inexistent. dieser film ist ein intimer blick in eine archaische vergangenheit.

Donnerstag, 20. April 2017

AGLIENTU: LENTICCHIE SARDE

olivenöl. zwiebel. linsen. wasser. salz. pfeffer. aubergine. radicchio. rotwein. salsiccia. petersilie. kümmel. minze. alles der reihe nach in einen topf.

Montag, 10. April 2017

LUZERN: LA TRAVIATA, TAUMEL ZUM TOD

„abbandonata in questo popoloso deserto che appellano parigi!“ sie fühlt sich verlassen, verloren, völlig einsam in dieser wüste namens paris. violetta valéry, die an tuberkulose erkrankte edelkurtisane aus giuseppe verdis „la traviata“, steht im luzerner theater die ganzen zweieinhalb stunden allein auf der vorbühne; alle anderen singen nur aus dem dunkel der oberen ränge des zuschauerraums, sind bloss stimmen in ihrem kopf, ferne erinnerungen, fieberträume. so radikal wie in benedikt von peters inszenierung für die staatsoper hannover, die er jetzt als intendant nach luzern übernommen hat, so radikal und so tief anrührend hat man diese oper noch nie gesehen. phänomenal gestaltet die amerikanische sopranistin nicole chevalier die rolle als rauschhaft erregten taumel zum tod. umgeben und immer wieder neu verführt von den requisiten ihres lebens – champagnergläser, luftschlangen, maquillage, die berühmte kamelie – keimt ihre sehnsucht nach echter liebe noch einmal auf, die sich mit alfredo zu erfüllen schien und dann durch dessen vater brutal gekappt wurde. zu verdis melodien, die clemens heil wunderbar warm und weich dirigiert und die immer irgendwo auch hoffnung auf ein besseres leben durchscheinen lassen, steigern sich ihre seelenqualen, sie irrt – brillant in allen stimmlichen schattierungen – wie eine wahnsinnige durch erlebtes und ersehntes, mal ruht sie, mal rast sie, nie kann sie sich diesem schlachtfeld der gedanken und gefühle entziehen. diese frau verzehrt sich für ihre utopie, erst der tod bringt ihr licht und erlösung. das sichtlich bewegte publikum bedankt sich bei der darstellerin, was in luzern ausgesprochen selten vorkommt, mit einer standing ovation. dieser monolog in der wüste von paris wird lange nachklingen.