die einst
weltweit gefeierte amerikanische sopranistin cheryl studer ist jetzt am theater
basel als musical-oma zu sehen: die rolle der wirtin nettie fowler, der guten
seele im musical „carousel“, ist ihr auf den leib geschneidert. als erstes
wippt die rüstige seniorin mit vollem körpereinsatz den gesamten chor in
stimmung, dann besingt sie lustvollstens zutaten und zubereitung eines
meeresfrüchtepicknicks und schliesslich holt sie mit bebendem busen zum
ultimativen „carousel“-ohrwurm aus: „you’ll never walk alone“ (richtig, die
hymne des fc liverpool, und richtig, die hymne der obama-inauguration). im leuchtend
blauen kleid rollt cheryl studer das feld primadonnenmässig von hinten auf,
singt takt für takt alle an die wand und lässt ihre spitzentöne selbst über dem
tutti-finale von orchester und chor noch klar dominieren. upgrade einer
nebenrolle, comeback einer diva. dass sie das alles mit viel ironie und
augenzwinkern absolviert, macht es sogar erträglich. genau besehen besteht „carousel“
aus ein paar wenigen melodien, die richard rodgers während drei stunden endlos
recycliert und variiert und die in der basler inszenierung von alexander charim
mit grösstem aufwand (opern- und schauspielensemble, ballett und bühnentechnik
à discretion) noch weiter aufgepeppt werden. ziemlich viel verpackung also für
ziemlich wenig inhalt: im kern dreht sich alles um den jahrmarktausrufer billy
bigelow, der es im job und in der liebe vermasselt, sich das leben nimmt und
dann nach 15 jahren noch einmal zurück auf die erde darf, um seine tochter zu
sehen - und es wieder vermasselt. franz molnárs intensives sozialdrama „liliom“
(1909) geriet den „carousel“-autoren zur bunten soap, in der es von guten
ratschlägen für verzweifelte junge männer und junge mädels nur so wimmelt; das
ganze musical ist eine art üppig illustrierte lebenshilfe für leute, die (sich)
beinahe schon aufgegeben haben. amerika schien 1945 genau solche mutmacher zu
brauchen. aber basel 2016? you’ll never walk alone.
Donnerstag, 29. Dezember 2016
Dienstag, 20. Dezember 2016
LUZERN: MÖRGELI? ZAUBERFLÖTE!
willkommen
in dr. mörgelis medizinhistorischem museum: ein paar unappetitliche körperteile
lauern in den schaukästen und da und dort auch flattervieh, dazwischen
monströse käfige. der belgische regisseur wouter van looy hat sich da was
hübsches ausgedacht für „die zauberflöte“ am luzerner theater. der düstere
fiesling, der in dieser grümpelszenerie menschenexperimente durchführt, ist mozarts
überschätzter freimaurer sarastro; vuyani mlinde gibt ihn mit voluminösem, nicht
konsequent treffsicherem bass als kalten fanatiker und kontrollfreak. die
erotik- und gewaltphantasien sind in dieser volksoper ja durchaus schon angelegt,
in der luzerner inszenierung werden sie aufs lustvollste ausgekostet und
bebildert. pamina und tamino sehen bei ihrer feuer-und-wasser-prüfung aus wie
die verklemmten verlobten janet und brad in der rocky horror picture show, monostatos
gibt den gfürchigen joker aus „the dark knight“, die königin der nacht wird als
klon von italiens pornosternchen ilona staller vorgeführt und papageno singt in
seiner verzweiflung auch mal lehár statt mozart ("hast du dort oben
vergessen auch mich?“). das sieht und hört sich nicht nur kurzweilig an,
sondern ist durchaus im sinne des erfinders, denn mozart wollte mit seiner
letzten oper das ganze universum menschlicher regungen und rätsel streifen.
also wird der fundus hemmungslos geplündert, die widersprüche sind im preis
inbegriffen. dazu findet chefdirigent clemens heil mit dem luzerner
sinfonieorchester einen vitalen, jungen mozart-ton, wobei ihm allerdings piano
und legato weitgehend abhanden kommen; diese harte unterlage lässt viele stimmen
dann doch seltsam glanzlos klingen. glanzlos – hier aber beabsichtigt – auch das
finale: sarastro erwürgt die königin der nacht auf offener bühne, ihre tochter
pamina lässt tamino tamino sein und flieht entsetzt aus dr. mörgelis
gruselkabinett. kein weihnachtsmärchen, kein happy-end.
Dienstag, 13. Dezember 2016
MILANO: FELTRINELLI PORTA VOLTA
in
der euphorie um die elbphilharmonie ging ein wenig unter, dass herzog & de
meuron parallel zu hamburg auch in mailand ein prestigeprojekt laufen hatten: der neue hauptsitz der fondazione feltrinelli
bei der porta volta. die basler architekten haben der linken verlegerdynastie ein ausgesprochen chices stück stadt beschert. der „corriere
della sera“ nannte es bereits liebevoll einen auf die erde gelegten wolkenkratzer. es handelt sich um einen gut 200 meter langen, scharf geschnittenen und oben zugespitzten
riegel entlang der via pasubio, inspiriert von den strengen strukturen
lombardischer bauernhöfe einerseits und mailänder stadtpalästen anderseits und
im unterschied zu diesen vorbildern fast ausschliesslich aus fenstern bestehend, in den unteren etagen rechteckig, in den giebelgeschossen trapezförmig. ein
durch und durch transparentes gebäude also, baulich und auch konzeptionell: die
buchhandlung im parterre ist auch eine bar, die bibliothek unter dem dach auch
zukunftswerkstatt. in diesem open-space und auf der prächtigen piazza davor sollen junge und alte, arbeiter und
akademikerinnen, italienerinnen und chinesen (die mailänder chinatown liegt
gleich nebenan) zusammen denken, streiten, phantasieren, planen. „il futuro non
nasce da solo“ lautete die aufforderung bei der eröffnung heute. die umgebung scheint da beinahe zu
widersprechen: in fussdistanz zur fondazione feltrinelli lassen
sich neue wolkenkratzer von zaha hadid und arata isozaki besichtigen, eine
wohnresidenz von daniel libeskind und ein verlagsgebäude von renzo piano. mailand
wächst und wuchert und ist ein ebenso lebendiges wie hochkarätiges museum zeitgenössischer architektur.
„un luogo dell‘ utopia possibile“ will feltrinellis neuer palazzo sein; dieser
brand könnte für die ganze stadt stehen. mailand wird unterschätzt.
Donnerstag, 1. Dezember 2016
BASEL: ROBIN HOOD IM EAST END
wer
backsteinmauern und rostige feuerleitern auf die bühne stellt und sie tiefrot
und violett ausleuchtet, will entweder die west-side-story aufführen oder er
nimmt in kauf, dass sich das publikum permanent daran erinnert und damit
vergleicht. das wird richard wherlock am theater basel zum verhängnis, dessen
neues handlungsballett „robin hood“ eine east-end-story sein will: er zimmert
rund um den alten rächer-mythos eine neue geschichte, beamt den helden in die
swinging sixties und lässt ihn in der gangster-szene des londoner ostens aufräumen.
dazu dirigiert thomas herzog beherzt ein musikalisches pasticcio von renaissance-madrigalen
bis britten und bond, james bond. ein attraktives wunschkonzert, das allerdings
nicht darüber hinwegzutäuschen vermag, dass diese robinhoodiade, man muss es
sagen, dramaturgisch ausgesprochen dürftig daherkommt: ein allzu braves märchen
von ganoven und gutmenschen, 5 prozent love-story, 95 prozent kampf der gangs,
immer und immer wieder kampf der gangs, penetrant redundant – und der bedauernswerte jorge garcía
pérez in der titelrolle, der mit flaschenbodenbrille und hosenträgern ausschaut
wie ein jämmerlicher steuerbeamter, erhält kaum eine gelegenheit, als figur charakter oder
wenigstens konturen zu entwickeln. wherlocks choreografie ist reich an tempo,
an akrobatik, an witzigen ideen und bonbonfarbenen kostümen, viel verpackung
und wenig inhalt. man kann es auch positiv sehen: holiday on ice, aber ganz
ohne ice, das schafft nur das basler ballett.
Dienstag, 29. November 2016
MÜNCHEN: LADY MACBETH VON MZENSK
katerina
ismailowa ist eine mörderin. ihren lüsternen schwiegervater hat sie auf dem
gewissen, ihren impotenten gatten und eine junge konkurrentin. die sympathien
von dmitri schostakowitsch sind trotzdem auf ihrer seite: für diese „lady macbeth
von mzensk“ (1934) schrieb er feine, weiche, überaus subtile melodien, zeigte
die täterin als tragisches opfer der gesellschaftlichen zwänge. für ihr umfeld
dagegen: wilde, wüste, groteske tonsequenzen, musik voller flüche und fürze,
garstige russische provinz. ein kontrast, der stalins zensoren auf den plan rief und
den dirigent kirill petrenko an der bayerischen staatsoper fantastisch herausarbeitet,
mal drastisch, mal ganz plastisch, der orchestergraben ist das epizentrum
dieser première. und anja kampe mit ihrem ausdrucksstarken sopran und ihrer
aussergewöhnlichen bühnenpräsenz ist die traumbesetzung für diese katerina
(zudem hat sie als ddr-kind russisch gelernt, ist also heimisch in dieser
sprachwelt). sie zeigt eine frau, die furchtbar einsam ist und nach liebe
lechzt; eine frau, die kämpft und nach verlorenem kampf den tod so sehr
herbeisehnt wie zuvor die liebe. mit einem sprung in die „schwarzen wellen“
beendet sie ihr unglück – so verzweifelt springt sonst nur noch tosca.
regie-altmeister harry kupfer widmet dieser katerina seine ganze aufmerksamkeit
und entwickelt, als wollte er sich mit seinen 81 jahren noch für den „tatort“
bewerben, ein präzises und ergreifendes porträt. um sie herum aber arrangiert
er in der abgefuckten industriehalle, die ihm hans schavernoch auf die bühne
gebaut hat, durchaus konventionelle tableaux, die von den grossen russischen
schwarz-weiss-klassikern inspiriert sind und auch vor schlichten klischees
nicht zurückschrecken: sterbebeichte des schwiegervaters mit der wodkaflasche
in der hand, plumpe arbeiter machen plumpe fick-pantomimen und polizisten sind
sowieso dumpfbügel. szenisch also eine eher lauwarme veranstaltung, musikalisch
eine sternstunde.
Sonntag, 27. November 2016
MÜNCHEN: SOY MARIPOSA
„no
soy persona, soy mariposa – ich bin nicht mensch, sondern schmetterling.” die
bezeichnung (und das schimpfwort) für homosexuelle, queers, stricher hat in
lateinamerika etwas durchaus poetisches. der mexikanische performer und
anthropologe lukas avendaño ist so ein schmetterling, seine wurzeln hat er bei
zapoteken, ureinwohnern im süden des landes. seine performance mit dem langen mariposa-titel, die er
jetzt im rahmen des mexiko-festivals an den münchner kammerspielen zeigt, will
anklage sein und forderung. er klagt gegen die verlogenheit der
macho-gesellschaft (z.b. polizisten, die tagsüber die schwulen jungs verprügeln
und sich nachts in den pornokinos ihrer bedienen) und er fordert anerkennung
oder wenigstens toleranz gegenüber diesen lebensformen. avendaños
exhibitionistischer tanz auf dem catwalk ist ein gesellschaftspolitisches statement auf high
heels, ein wut-monolog, eine wut-arie, die durch seine worte und tränen mehr berührt
als durch seine trotzige fast-nacktheit und sein tänzerisch doch eher monotones
repertoire. er möchte seine zuschauerinnen und zuschauer zu komplizen machen und
– gemäss programmheft – auch heteros dazu einladen, ihre sexualität vermehrt
spielerisch, undefiniert, schmetterlingsmässig anzugehen. doch auf der bühne
erstickt seine wut diesen wunsch weitgehend. dieser mariposa ist die poesie
irgendwie abhanden gekommen.
Samstag, 26. November 2016
MÜNCHEN: OFFENE TÜREN
tag der offenen tür im bayerischen
landtag. grossandrang auf die demokratie im maximilianeum. im fraktionssaal der csu taucht
dann auch ministerpräsident horst seehofer auf und gibt sich ganz
landesväterlich, um nicht zu sagen grossväterlich. „bayern ist die vorstufe zum
paradies“, sagt er und voller stolz auf den eigenen anteil: „uns geht es verdammt gut.“ passt einfach verdammt
schlecht zu seinen laufenden äusserungen in der flüchtlingsfrage, wo er mit den
worten „begrenzung“ und „obergrenze“ nur so jongliert und die kanzlerin
drangsaliert. sozial? solidarisch? nie gehört? man müsste den seehoferhorst bei
gelegenheit daran erinnern, dass es uns verdammt gut geht und anderen verdammt
schlecht und dass es da einen direkten zusammenhang gibt und deshalb einen auftrag:
offene türen, nicht nur im landtag.
Donnerstag, 24. November 2016
BASEL: DIE TOTE STADT
paul
lebt in einem reihenhaus in brügge. zurückgezogen. mit ihm stimmt etwas nicht. er
legt die kleider seiner längst verstorbenen frau aufs bett, riecht an ihrer
parfumflasche, streichelt ihre letzte perücke, eine kammer hat er mit erinnerungsbildern
tapeziert. der tenor rolf romei singt diesen paul am theater basel als einen
von der vergangenheit gleichermassen gejagten und gefesselten; immer wieder
nimmt dunkle verzweiflung seiner hellen stimme die kraft. „die tote stadt“ von
erich wolfgang korngold behandelt einen fall von missglückter trauerarbeit (der
titel nimmt bezug auf die stadt brügge, die wie paul völlig auf das bessere
einst fixiert ist). paul lernt marietta kennen, die seiner marie aufs haar
gleicht, doch charakterlich der pure gegenentwurf ist; helena juntunen singt beide und switcht
beeindruckend zwischen der heiligen und der vulgären. es beginnt eine
verhängnisvolle liaison, die in einem mord endet, der sich dann allerdings nur
als reinigender alptraum erweist: „wie weit soll unsre trauer gehen, wie weit
darf sie es, ohn‘ uns zu entwurzeln?“ regisseur simon stone geht mit freuds
traumdeutung ans werk, die mechanismen der verdrängung faszinieren ihn
sichtlich, er illustriert das innenleben: pauls haus fällt auseinander, er
sucht die türen und die treppen und findet in jedem winkel immer nur – marie,
ohne haare, von krankheit und tod gezeichnet, und noch eine marie und noch
eine. korngold war kaum 20, als er diese trauma-oper komponierte. man muss sich
das vorstellen: vor 100 jahren in wien ein musikalisch hochbegabter jüngling,
der alles aufsaugt und verarbeitet, puccini klingt an, lehár klingt an und die opulente
hollywood-filmsinfonik nimmt er gleich auch noch vorweg. erik nielsen, der neue
chefdirigent in basel, meistert diese gratwanderung zwischen spätromantik und
vollkitsch mit dem sinfonieorchester bravourös, ein vollbad
unterschiedlichster musikalischer emotionen, ganz grosses kino.
Montag, 21. November 2016
MÜNCHEN: LE NOZZE DI FIGARO
die
inszenierung ist von bestechender schlichtheit: hinten in der mitte eine türe,
links eine türe, rechts eine türe; dieser einfache weisse transit-raum reicht regisseur dieter dorn, um all die intrigen rund um figaros
hochzeit zu erzählen. allerdings ist diese inszenierung auch gut abgehangen:
die première an der bayerischen staatsoper fand vor 19 jahren statt, die
originalbesetzung dürfte inzwischen also in rente sein. die aufführung jetzt hätte
also durchaus zum besuch im opernmuseum verkommen können. doch weit gefehlt.
nichts vergilbtes, nichts verstaubtes, nein, der abend war an jugendlichkeit
und frische nicht zu überbieten. ein hochkarätiges ensemble attraktiver leute
mit attraktiven stimmen stachelte sich zu immer neuen höchstleistungen an: alex
esposito als figaro, tara erraught als susanna, angela brower als cherubino,
alexander tsymbalyuk als bartolo, mariusz kwiecien als graf, diana damrau als
gräfin – kurz: champions league. unter der leitung von antonello manacorda, der
mörderische tempi liebt, bringen sie die vertrackte komödie zum vibrieren, alles
federt, alles fiebert, der leere weisse raum wird gefüllt mit mozarts
elegant-erotischer musik. der graf, der das ius primae noctis offiziell zwar
aufhebt, es dann aber für sich selbst quasi durch die hintertür doch wieder
beanspruchen will, ist das zentrum von mozarts subtiler gesellschaftskritik. die
melodien machen die emotionalen und moralischen pirouetten nachvollziehbar, zu der
dieser verführer im hausmantel seine entourage nötigt, und entlarvt die verlogenheit
der gepuderten klasse mit zwischentönen. keiner dieser zwischentöne geht hier
unter, es ist ein wechselbad heisser und kalter gefühle, ein fest der musik.
Sonntag, 20. November 2016
ATLANTIC CITY: USA, SUICIDE COUNTRY
der schriftsteller joshua cohen ist
in atlantic city aufgewachsen. in jener stadt also, die donald trump mit seinen
ideen und seinem geld zunächst bis zur unkenntlichkeit entstellt und dann
ruiniert hat. „wie erklären sie sich den wahlausgang?“ fragt die „frankfurter
allgemeine sonntagszeitung“ cohen. seine antwort: „mit dem anhaltenden
amerikanischen todestrieb. und zwar im freudschen sinne: es gibt unter
amerikanern einen grossen willen, an der eigenen zerstörung mitzuwirken. (…)
der einzige weg, der einem bleibt, seiner unzufriedenheit ausdruck zu
verleihen, ist die wahl des absoluten desasters.“
Samstag, 19. November 2016
MÜNCHEN: PEK ÖZLEDIM O DEMLERI
ungewohnte
tonarten, ungewohnte klangfarben, ungewohnte rhythmen. und doch wird sofort
klar: das ist grosse poesie. der chor armoni-ahenk und sein musikalischer
leiter ahmet kadri rizeli haben sich entschieden, im grossen konzertsaal der
münchner hochschule für musik und theater einen abend mit liedern von
türkischen komponistinnen zu veranstalten. ausschliesslich -innen, im sinn
einer späten ehre. denn durch die räumliche trennung von frauen und männern im
traditionellen islam entwickelte sich eine separate frauenkultur; bedeutendes
entstand in den nebenräumen der paläste und blieb vielfach unbemerkt,
unentdeckt. es sind lieder voller melancholie, die die sechs sängerinnen, fünf
sänger und sieben instrumentalisten (u.a. schossgeige und trapezzither) mit
viel empathie und sorgfalt vortragen. hier wird viel geweint, getrauert,
gehofft, gewartet. „von tag zu tag geht es mir schlechter“ – „ich bin der
kummervolle herbst“ – „ich bin so leidbeladen, dass ich in enttäuschung
versunken bin“ – diese kompositionen zielen und ziehen in die tiefe. angesichts
der aktuellen entwicklung in der türkei erscheint jede liedzeile doppeldeutig. im
publikum sitzen mehrheitlich deutschtürkinnen und –türken und mesut koç, der
türkische generalkonsul für münchen. die sehnsucht nach besseren zeiten, nach
neuen perspektiven ist im saal fast mit händen zu greifen, wenn esra içöz gegen
ende mit bebender stimme singt: „pek özledim o demleri – wie sehr ich diese
zeiten vermisse“.
Mittwoch, 16. November 2016
LUGANO: MARCO SCORTI
auf
den ersten blick: natur, wilde natur. auf den zweiten blick: versehrte natur. auf
den ersten blick (aus distanz) meint man: fotografie. auf den zweiten blick
(nahe dran) erkennt man: landschaftsmalerei, pixelgenau. marco scorti, 29,
wuchs im malcantone auf, umgeben von düsteren wäldern, von schattigen
talfurchen, von grenzen. das malt er, immer wieder. dieses jahr gewann scorti
den renommierten manor-preis fürs tessin; deshalb widmet ihm das museo d’arte della
svizzera italiana (masi) in lugano jetzt drei räume im untergrund. die haben es
in sich. im ersten, fast putzig, 15 kleine formate, kaum grösser als a4,
gouache auf karton. im zweiten und dritten dann riesendinger, drei auf sechs
meter, jeweils zusammengefügt aus zwölf einzelteilen, acryl auf leinwand. auf
den kleinen wie auf den grossen bildern: immer wieder wälder, diffuses licht,
und immer wieder stimmt etwas nicht. mal sind es panzersperren, die die idylle
stören; mal schleicht sich hinten eine schlammlawine von bedrohlicher farbe und
form an; mal entdeckt man reste einer eingestürzten hütte und unnatürlich
verbogene baumstämme. selbst ein gleissendes schneefeld hat etwas unheimliches,
weil am rand einer eisfläche etwas oder jemand liegt, unscharf, nicht
auszumachen. es ist wie meistens in den märchenwäldern: irgendwo wird irgendwer
lauern. und plötzlich entdeckt man auf diesen bildern noch bleistiftnotizen: „hier
muss es noch dunkler sein.“ noch dunkler. banale orte am rand der zivilisation
geraten scorti so zu genialen vexierbildern, mysteriös und monströs. und der
einzige mensch weit und breit ist: der verunsicherte betrachter. gefällt mir.
Freitag, 11. November 2016
LUZERN/EMMEN: RIGOLETTO
dampfkessel,
kabelstränge, messgeräte, schläuche, warnlampen, schalttafeln, fluchtleitern,
überdruckventile, metallrohre, transportkräne, notausgänge: hier
experimentierten forscher und arbeiter ab 1950 mit synthetischen garnen, doch
seit mehr als zehn jahren steht die pilothalle der ehemaligen viscosuisse in
emmenbrücke schon leer. das luzerner theater nutzt dieses prachtvolle
industrierelikt jetzt für eine ebenso eigenwillige wie grossartige annäherung
an giuseppe verdis „rigoletto“. die ausrangierte kulisse bietet einen
faszinierenden rahmen für das porträt dieses aussenseiters: in seinem job als
hofnarr ist er ein auslaufmodell, weshalb er sich am einzigen festklammert, was
ihm noch bleibt, an seiner tochter. und dies mit krankhafter eifersucht, die
die junge frau letztlich in den tod treibt. der österreichische bariton claudio
otelli brilliert als rigoletto, er taumelt wie in trance über all die treppen
und zwischenböden, zwischen äusserster wut und tiefster traurigkeit; die
mitmenschen, die ihn ausgrenzen und verhöhnen, erlebt er nur noch als fratzen –
regisseur marco štorman und seine ausstatterin anika marquardt leisten da bis
in die kleinsten nebenrollen ganze arbeit. der labyrinthische raum wird so zum
labyrinth der gefühle, zum spiegelbild von rigolettos wunder seele. stefan
klingele dirigiert das luzerner sinfonieorchester in der tiefe des raumes, mit
viel gespür für das utopische an verdis musik, die sehnsucht nach dem neuen. auch
wenn die musikalische koordination quer durch die unübersichtliche halle nicht
immer perfekt gelingt, ist dies ein eindrücklicher, vielversprechender einstand
des neuen luzerner opernensembles: auf magdalena risberg (gilda), vuyani mlinde
(sparafucile) und bernt ola volungholen (marullo) darf man sich auch in
weiteren rollen ausgesprochen freuen.
Donnerstag, 3. November 2016
BASEL: LA FORZA DEL DESTINO
ein
veritabler krimi: der marchese di calatrava verbietet seiner tochter leonora
die liebe zu alvaro, weil dieser ein indio ist und die verbindung somit nicht
standesgemäss, worauf der marchese bei einem streit durch einen unabsichtlichen
schuss aus alvaros pistole stirbt; jetzt will leonoras bruder carlo den tod des
vaters rächen, es beginnt eine jagd durch vier akte, in denen man den akteuren
in immer neuen verkleidungen in schenken und klöstern wiederbegegnet; am
schluss sind auch leonora und carlo tot und alvaro am rande des wahnsinns. die
hauptrolle in verdis „la forza del destino“ spielt der zufall und er hat furchtbar
viel zu tun. in seiner inszenierung am theater basel gibt sich sebastian
baumgarten schon gar keine mühe, die abstruse story ernst zu nehmen, sondern
zimmert daraus eine knallige und streckenweise höchst ironische revue über
rassismus, religion, kriegstreiberei und flüchtlingselend (was auch bei verdi
durchaus mitgemeint war). spielzeugpanzer, baströcke, cowboyhüte, eine
fluoreszierende lourdes-madonna – der ganze requisiten-trash wird aufgefahren
und darüber hinaus lässt die regie auch gleich noch eine werkschau zum
aktuellen stand der videokunst über die drehbühne flackern. keine einzige
assoziation bleibt unbedient. in diesem tummelfeld gelingt einzig elena
stikhina als leonora mit ihrem dramatischen sopran ein spannendes, mehrdimensionales
rollenporträt, wogegen aquiles machado als alvaro und evez abdulla als carlo zu
plakativ agieren und auch stimmlich nicht überzeugen und dirigent ainars
rubikis mit dem orchester oft vergeblich gegen die bilderflut ankämpft. der
abend ist musikalisch unterbelichtet und visuell überfrachtet und lässt einen
unter dem strich irgendwie kalt.
Montag, 31. Oktober 2016
MÜNCHEN: TRÄNEN, SCHERBEN, VERZWEIFLUNG
auf
der bühne: ein quadrat mit 1200 sektflaschen, leer oder fast leer, fein
säuberlich aufgestellt, alle 50 zentimeter eine. die welt der promis und partys
als klaustrophobischer raum; das publikum im marstall des residenztheaters
sitzt auf allen vier seiten. zu beginn staksen die sechs schauspielerinnen noch
schön kontrolliert durch die flaschenreihen, doch schon bald – man ahnt es –
wird daraus ein schlachtfeld, ein scherbenhaufen der gefühle. „die bitteren
tränen der petra von kant“ von rainer werner fassbinder erzählt die geschichte
einer modedesignerin, die job/erfolg/geld und liebe nicht zusammenbringt. in der
inszenierung von martin kusej verausgabt sich bibiana beglau während zwei
stunden, sie terrorisiert ihre freundin, ihre mutter, ihre tochter, ihre
liebste und ihre bedienstete, sie brüllt und blutet, hat gerötete augen und
geschwollene lippen, ist heiss und eiskalt. in ihrer beziehungsunfähigkeit
lässt sie alles eskalieren bis zur explosion. als gegen ende spuren der
erkenntnis auftauchen, ist es zu spät: die sklavin hat sich erhängt, die
anderen sind weg. bibiana beglau spielt dieses beängstigende, hysterische solo
der einsamkeit und verzweiflung grandios: mein ich ist mein gefängnis. rainer
werner fassbinder war auch so einer. petra von kant ist stark autobiographisch
durchdrungen. man kann sich dieser emotionalen tortur als zuschauer nicht
entziehen, leidet bei den seelischen verletzungen, bangt wegen den scherben,
zwischen denen sich die darstellerinnen teilweise barfuss bewegen – und ist irgendwie
ganz erleichtert, als die beglau beim schlussapplaus völlig entspannt und
lachend auf die bühne kommt, als wäre grad gar nichts gewesen.
Sonntag, 30. Oktober 2016
MÜNCHEN: HADJITHOMAS/JOREIGE
im
abgedunkelten treppenaufgang zur ausstellung „two suns in a sunset“ im haus der
kunst empfängt ein babylonisches stimmengewirr den gast: 20 bildschirme, 20
gesichter, 20 geschichten, die erzählt werden (es sind die erfundenen geschichten
aus betrügerischen spam-mails). vielstimmig wie dieses intro ist die ganze
ausstellung des libanesischen künstlerpaars joana hadjithomas und khalil
joreige. die beiden experimentieren mit bildern, videos, objekten,
archivmaterial. mit anderen mitteln als journalistinnen und historiker nehmen
sie eine chronistenpflicht wahr, spüren mit aussergewöhnlicher empathie den
geschichten einzelner nach und fügen sie zu einem bigger picture. oft stehen
die bilder im zentrum (prächtige schwarz-weiss-aufnahmen von phantasievollen
objekten, die sich bei genauerem hinschauen als zerbombte strassenlaternen
entpuppen), oft aber auch die abwesenheit von bildern (menschen, die ihre
lager- und foltererlebnisse während dem libanesischen bürgerkrieg 1975-1990
zaghaft in worte zu fassen versuchen). in einem 50-minuten-film reist
hadjithomas nach izmir, das ehemalige smyrna, und schaut sich die bilder dieser
reise dann gemeinsam mit der betagten malerin und dichterin etel adnan an; die
familien beider frauen waren nach dem ende des osmanischen reiches aus der
stadt vertrieben worden und sind nie wieder zurückgekehrt. diese annäherung
nach jahrzehnten ist eine behutsame etude über zugehörigkeit. so disparat all diese
zugänge zu einer chaotischen welt sind, so sehr entwickeln sie eine durchaus
nicht nur pessimistische kraft: politik und poesie schliessen sich nicht aus,
sie könnten sich bereichern.
Samstag, 29. Oktober 2016
MÜNCHEN: POINT OF NO RETURN
am
22.juli lähmte der 18jährige david s. mit seinem amoklauf diese stadt für eine
lange nacht. wir waren in unserer wohnung an jenem abend. wir hörten
stundenlang die polizeisirenen aus allen richtungen, waren permanent online,
hatten ein mulmiges gefühl, aber keine unmittelbare angst. anders als die
zehntausenden in der innenstadt. anders als wiebke puls, die mit ihren zwei
kindern im theater sass. anders als dejan bućin, der in der fussgängerzone socken kaufte,
als die panik um sich griff. mit diesen beiden und drei weiteren schauspielern
entwickelt yael ronen an den münchner kammerspielen die performance „point of
no return“ über die massen- und individualpsychologische dynamik nach dem
amoklauf, über horror und hysterie. ganz nach dem motto: rede drüber, es wird
dir gut tun. die bühne ist ein voll verspiegelter raum, der steil zum publikum
abfällt (wieviele arg schiefe ebenen müssen wir uns noch angucken, wenn regisseurin und bühnenbildner uns sagen wollen, wie sehr die welt doch aus den fugen ist?). hier verarbeiten die fünf, meist angeseilt, ihre erlebnisse. sie geben
ihre enttäuschung preis, dass es „nur“ ein amoklauf war und kein
terroranschlag; sie stellen in einer choreografie des grauens die opfer am
boden des olympia-einkaufszentrums nach; sie tauschen aus, wie sie selber den
tollsten theatertod starben; sie wollen von kollegin jelena kuljić wissen, wie
weit sie an jenem juli-abend von ihrem serbien-trauma eingeholt wurde; ja, und
niels bormann erzählt, wie er sich die freude an der fischsuppe in der
theaterkantine nicht nehmen liess. das ist grotesk und oft grenzwertig – und sehr
selten: berührend. ein
bunter abend, das
publikum lacht befreit und applaudiert üppig. das therapeutische ziel, immerhin, scheint also erreicht.
Freitag, 28. Oktober 2016
MÜNCHEN: TÜRKIYE RELOADED
farbig-fröhliche
schwulenparade. polizei-grosseinsatz. demo für das letzte bäumchen im
gezi-park. polizei-grosseinsatz. demo gegen die dritte bosporus-brücke.
polizei-grosseinsatz. die bilder, die jetzt im rahmen des festivals „türkiye
reloaded“ in der pasinger fabrik gezeigt werden, wiederholen sich. und
unterdessen wissen wir, dass das alles nur der anfang war. diese menschen,
tausende, zehntausende, aufgestellt, engagiert, kämpferisch – erdogan nennt sie
„outsider“ und „marginal“. wo sind sie jetzt? wie geht es ihnen? „wider die
grautöne“ nennt die kuratorin ceren erdem ihre ausstellung. sie zeigt zum
beispiel annika erikssons video über streunende strassenköter am stadtrand, die
im off philosophieren: „ich bin wie die stadt, ich war immer da und ich
überlebe, weil ich mich laufend erneuere.“ sie zeigt als riesiges wandposter
einen wander(!!)vorschlag durch die hügel im norden istanbuls. sie zeigt das
improvisationstalent der türken im alltag (fliegende händler, teeküchen,
clevere abfallentsorgung). sie zeigt menschen, die beim tanzen und beim
politisieren gute stimmung verbreiten. sie könnten die zukunft dieses landes
sein. und? wie weiter? schnell wird sich die dominanz der grautöne nicht
verflüchtigen. „in den nächsten 10 bis 15 jahren wird sich diese
lost-in-transition-befindlichkeit verfestigen“, sagt özlem topçu von der „zeit“
beim abendlichen divan-gespräch. immerhin, im internet spriessen die
oppositionellen medien. ein kleiner hoffnungsschimmer. irgendwann also doch
wieder nach istanbul.
Montag, 24. Oktober 2016
MÜNCHEN: LA JUIVE
heavy. es wimmelt von religiösen
fanatikern. mal richten sie mit erhobenen armen ihren verklärten blick gen
himmel, mal klammern sie sich übertrieben an ihren gebetbüchern fest, mal
wedeln sie scheinheilig mit ihren friedenszweigen, um kurz danach mit
denselben zweigen ihre gegner auszupeitschen und dazu hässliche parolen zu schreien. lauter eiferer und geiferer. „la juive“ von
fromental halévy (1835) spielt in konstanz zur zeit des dortigen konzils
(1414); vor dem hintergrund einer politisch und religiös schwer irritierten
zeit erzählt die oper die unmögliche liebesgeschichte zwischen der jüdin
rachel, die in wirklichkeit eine christin ist, und dem christen léopold, der
sich ihr zuliebe als jude ausgibt. missverständnisse führen zu rache, rache
führt zum tod. die gewaltige mauer quer über die ganze bühne ist keine
klagemauer und bietet keinen schutz, nein, sie wirkt in ihren metallenen farben
abweisend und bedrohlich, ein überdeutliches sinnbild für die mauern und den
hass in den köpfen. neben den beängstigenden massenszenen gelingen regisseur calixto
bieito und dirigent bertrand de billy an der bayerischen staatsoper eindrückliche
zeitlose einzelporträts – dank einem hochkarätigen ensemble: aleksandra kurzak
als rachel, zerrissen von ihren gefühlen, heimatlos in ihrem glauben; roberto
alagna als jüdischer goldschmied éléazar, warmherzig als ihr vermeintlicher
vater, unerbittlich im kampf der konfessionen; schliesslich ante jerkunica als
kardinal brogni, rachels wirklicher vater – er ist die eigentliche entdeckung
des abends, der kroate verfügt über einen bass von beeindruckender fülle und subtilität.
was bleibt, ist der nachhall dieser schwermütigen musik und das dunkel dieser
monströsen mauer. ein mahnmal.
Freitag, 21. Oktober 2016
BEIJING: CHINA VERSTEHEN MIT ZHANG
"alles in diesem land wird tag für tag aufs neue umgewälzt. in deiner stadt, aber auch in deinem leben. das tempo hier übersteigt bei weitem das, was die seele eines normalen menschen erträgt. (...) hier ist es ständig so, als hättest du dich unter vielen qualen endlich durchgerungen, einem mädchen zu sagen, dass du sie liebst - da wendet sie dir den kopf zu und du erkennst: sie ist plötzlich eine ganz andere. dann musst du wieder von vorne anfangen: soll ich mich jetzt in die neue verlieben?" der grosse chinesische kunstmaler zhang xiaogang im gespräch mit dem korrespondenten der süddeutschen zeitung. zhang erlebte die kulturrevolution als kind in kunming und ist jetzt 58.
Montag, 17. Oktober 2016
BERLIN: IL BARBIERE DI SIVIGLIA
"wenn man mit einer sache zunächst überfordert ist, bringt einen das auf
neue ideen und provoziert in einem die kraft, diese überforderung zu
überwinden." kirill serebrennikov ist in russland ein angesagter
regisseur. jetzt hat er für die komische oper berlin mit der kraft der
überforderung aus rossinis "barbier von sevilla" eine rabenschwarze
smartphone-komödie gemacht. der figaro (dominik köninger, bravourös) ist hier ein starfriseur im
schwarzen cape, mit schwarzen ohrspreizerringen und zu viel kajal im
gesicht. dieser moderne mephisto mauschelt und mixt die gefühle seiner
kundschaft: wahre liebe scheint in zeiten der oberflächlichen
kommunikation ein ding der unmöglichkeit. sms werden zwischen den flirtenden quer über die bühne gejagt (auch eines an den dirigenten:
"gehts auch schneller?"), arien werden als schmachtfetzen-videos
gepostet, es gibt money-transfer und social disaster - heisse leitungen,
kalte welt. und rossinis musik? die macht das nicht nur mit, sondern
liefert in ihrer spritzigkeit tausend anlässe für situationskomik, alles
frisch, frech, fulminant, jede pointe sitzt - dank einem ensemble in umwerfender spiellaune.
graf almaviva tritt, um seiner angebeten rosina inkognito nahe zu sein,
mal als syrischer kämpfer auf und mal als musiklehrer im perfekten
conchita-wurst-outfit. das date kommt zustande, die liebe nicht: "omg!"
komische opern sind oft von peinlicher plattheit, ich habe sie nie
gemocht. dieser überforderte russe, der mit der musik in die tiefe
blickt, hat mich jetzt mit ihnen versöhnt. seinen namen sollte man sich
merken. serebrennikov.
Sonntag, 16. Oktober 2016
BERLIN: RUSALKA, DEUTSCH UND DEUTLICH
ihre grosse arie, das "lied an den mond", singt rusalka für einmal nicht
im silberschein am teichufer, nein, die nixe formuliert ihre amourösen
begehren sitzend auf dem parkett eines wiener salons der vorigen
jahrhundertwende. freud veröffentlichte seine traumdeutung im gleichen
jahr wie dvorak seine märchenoper "rusalka" - für barrie kosky an der
komischen oper berlin eine steilvorlage: wie die nixe aufgrund ihrer
liebe zu einem prinzen zur frau werden möchte, so habe doch jeder mensch
mal das bedürfnis, ein anderer zu sein. folgerichtig interessieren
kosky an diesem märchen vor allem die risiken und nebenwirkungen, er
denkt den romantischen zauber ins extreme weiter: aufgeschlitzte fische,
grapschende männer, blut an den prinzenhänden, eine kotzende katze, ein
diamantbehangenes skelett; der traum vom wandel wird zum albtraum.
reichlich bilder für eine nette meditation übers andersseinwollen,
danke, herr kosky. schlicht genial bewegt sich nadja mchantaf bei ihrem
rollendebut als rusalka durch diesen rabiaten rausch, mit glockenhellem
sopran in den höhen und wunderbar eingedunkelt in den tieferen lagen.
wie sie sich sehnt, ihr schuppenkleid abzustreifen, wie sie als
gewandeltes wesen die erotik erst entdecken muss, wie sie auf beinen zu
stehen und später gar zu tanzen versucht, wie sie vor verzweiflung
schliesslich irre wird, das berührt vom ersten bis zum letzten takt.
dass hier nicht wie üblich das tschechische original gesungen wird,
sondern eine zuweilen arg holprige deutsche fassung, ist ein
wermutstropfen. der einzige an diesem abend.
Samstag, 15. Oktober 2016
BOCHUM: VIEL ZEIT FÜR GROSSE STOFFE
"in den deutschen stadttheatern findet man heute eine unglaubliche betriebsamkeit. in immer kürzeren probezeiten wird immer mehr produziert. man arbeitet oft schnellebig und oberflächlich, anstatt in die vertikale zu gehen. (...) mit meinem start am schauspielhaus bochum in der spielzeit 2018/19 strebe ich eine rückkehr zur schauspielkunst und zur auseinandersetzung mit jenen grossen stoffen an, die für die bühne eine herausforderung bedeuten. um als schauspieler mit solchen texten in die tiefe gehen zu können, braucht man mindestens sieben oder acht wochen zeit. man muss sich auch getrauen, einmal drei monate zu proben, was heute so gut wie nicht mehr stattfindet. wenn in deutschland heute einmal zwei monate geprobt wird, stellt das schon eine ausnahme dar." johan simons, bis 2015 intendant der münchner kammerspiele, im "lettre international" (heft 114). ein versprechen. auf nach bochum.
Freitag, 14. Oktober 2016
MÜNCHEN: NO PLACE LIKE HOME
ein
kleines wohlfrisiertes mädchen im rosa kleidchen sitzt vor der rosa geblümten
tapete am wohnzimmertisch mit dem rosa kaffeegedeck. es hilft seiner mutter
beim knäueln der wolle. geredet wird kein wort. die stimmung mehr bleiern denn
rosa. plötzlich knallt eine unsichtbare faust auf den tisch und aus dem
kaffeekrug juckt ein schleimiger fisch. die mutter steckt den fisch zurück in
den krug. geredet wird kein wort. wieder wird geknäuelt und wieder knallt die
faust und wieder juckt der fisch – bis ihm die mutter den kopf abbeisst und ihn
roh runterwürgt. im hals stecken bleibt er auch dem zuschauer. veronika veits
fünf-minuten-video „die faust“ bringt grossartig auf den punkt, wie es unter
der gepflegten ordnung und der familiären oberfläche brodelt und juckt und
würgt und wie es durch runterschlucken entsorgt werden soll. dieser film zeigt,
wie doppeldeutig der titel der ausstellung „no place like home“ im haus der
kunst in münchen gedacht ist. die idylle ist brüchig, geheimnis und gewalt
lauern überall; die kindheit, das zuhause, sie hinterlassen tiefe und
sonderbare spuren. die 14 hier versammelten video- und filmarbeiten aus der
sammlung von ingvild goetz sind in ihrer mehrheit streng, kalt, abweisend,
rätselhaft. und allesamt höchst anregend. psychoanalyse live.
Freitag, 30. September 2016
MÜNCHEN: DER FALL MEURSAULT
moussa
heisst er. der junge araber, der bei gleissendem sonnenlicht am strand von
algier erschossen wird, von einem französischen angestellten namens meursault.
albert camus interessierte sich in „l´étranger“ nicht für das opfer, es hatte
keinen namen und kein gesicht. der algerische autor kamel daoud hat das in
seinem roman „der fall meursault – eine gegendarstellung“ nachgeholt. 70 jahre
nach camus erzählt er die geschichte aus arabischer perspektive. keine
revanche, eine replik. das opfer hat jetzt einen namen. moussa. der ganze
bühnenraum der münchner kammerspiele ist mit teppichen ausgelegt, das theater
als moschee, ein schönes bild. haroun, der jüngere bruder von moussa, ist jetzt
ein alter mann und brüllt seinen ganzen zorn auf die religiösen eiferer in
diesen raum, regt sich auf über camus´ eurozentrismus, ist enttäuscht vom
eigenen land. der zu recht international herumgereichte iranische regisseur
amir reza koohestani verdreifacht haroun in seiner inszenierung – und manchmal
ist er als kind, das den tod des bewunderten bruders nicht versteht, als junger
mann, der sich neben der verbitterten mutter im leben kaum zurechtfindet, und
als alter gleichzeitig auf der bühne. die perspektiven überlagern sich zu
mehrdimensionalen bildern. mit einfachen mitteln (neben den teppichen ein wenig
sand, eine grosse sonne, ein tisch, ein offenes grab) erweckt koohestani moussa
zum leben. wie daouds roman will auch diese inszenierung keine
postkoloniale anklage sein, sondern ein denkanstoss, ein äusserst präziser
blick auf die komplexität der verhältnisse zwischen menschen, zwischen
religionen, zwischen kontinenten. um das zu unterstreichen sprechen die
schauspielerinnen und schauspieler immer wieder auch in ihrer muttersprache,
farsi, bulgarisch, lettisch, arabisch, die welt als babylonische provokation. moussas
leiche wird nie gefunden. das grab bleibt leer. daoud und koohestani füllen es
mit worten, nachhallend und nachhaltig. das eindrückliche ende einer schwierigen geschichte: ein grab
voller worte.
Abonnieren
Posts (Atom)