Donnerstag, 29. Dezember 2016

BASEL: CHERYL ON THE CAROUSEL

die einst weltweit gefeierte amerikanische sopranistin cheryl studer ist jetzt am theater basel als musical-oma zu sehen: die rolle der wirtin nettie fowler, der guten seele im musical „carousel“, ist ihr auf den leib geschneidert. als erstes wippt die rüstige seniorin mit vollem körpereinsatz den gesamten chor in stimmung, dann besingt sie lustvollstens zutaten und zubereitung eines meeresfrüchtepicknicks und schliesslich holt sie mit bebendem busen zum ultimativen „carousel“-ohrwurm aus: „you’ll never walk alone“ (richtig, die hymne des fc liverpool, und richtig, die hymne der obama-inauguration). im leuchtend blauen kleid rollt cheryl studer das feld primadonnenmässig von hinten auf, singt takt für takt alle an die wand und lässt ihre spitzentöne selbst über dem tutti-finale von orchester und chor noch klar dominieren. upgrade einer nebenrolle, comeback einer diva. dass sie das alles mit viel ironie und augenzwinkern absolviert, macht es sogar erträglich. genau besehen besteht „carousel“ aus ein paar wenigen melodien, die richard rodgers während drei stunden endlos recycliert und variiert und die in der basler inszenierung von alexander charim mit grösstem aufwand (opern- und schauspielensemble, ballett und bühnentechnik à discretion) noch weiter aufgepeppt werden. ziemlich viel verpackung also für ziemlich wenig inhalt: im kern dreht sich alles um den jahrmarktausrufer billy bigelow, der es im job und in der liebe vermasselt, sich das leben nimmt und dann nach 15 jahren noch einmal zurück auf die erde darf, um seine tochter zu sehen - und es wieder vermasselt. franz molnárs intensives sozialdrama „liliom“ (1909) geriet den „carousel“-autoren zur bunten soap, in der es von guten ratschlägen für verzweifelte junge männer und junge mädels nur so wimmelt; das ganze musical ist eine art üppig illustrierte lebenshilfe für leute, die (sich) beinahe schon aufgegeben haben. amerika schien 1945 genau solche mutmacher zu brauchen. aber basel 2016? you’ll never walk alone.

Dienstag, 20. Dezember 2016

LUZERN: MÖRGELI? ZAUBERFLÖTE!

willkommen in dr. mörgelis medizinhistorischem museum: ein paar unappetitliche körperteile lauern in den schaukästen und da und dort auch flattervieh, dazwischen monströse käfige. der belgische regisseur wouter van looy hat sich da was hübsches ausgedacht für „die zauberflöte“ am luzerner theater. der düstere fiesling, der in dieser grümpelszenerie menschenexperimente durchführt, ist mozarts überschätzter freimaurer sarastro; vuyani mlinde gibt ihn mit voluminösem, nicht konsequent treffsicherem bass als kalten fanatiker und kontrollfreak. die erotik- und gewaltphantasien sind in dieser volksoper ja durchaus schon angelegt, in der luzerner inszenierung werden sie aufs lustvollste ausgekostet und bebildert. pamina und tamino sehen bei ihrer feuer-und-wasser-prüfung aus wie die verklemmten verlobten janet und brad in der rocky horror picture show, monostatos gibt den gfürchigen joker aus „the dark knight“, die königin der nacht wird als klon von italiens pornosternchen ilona staller vorgeführt und papageno singt in seiner verzweiflung auch mal lehár statt mozart ("hast du dort oben vergessen auch mich?“). das sieht und hört sich nicht nur kurzweilig an, sondern ist durchaus im sinne des erfinders, denn mozart wollte mit seiner letzten oper das ganze universum menschlicher regungen und rätsel streifen. also wird der fundus hemmungslos geplündert, die widersprüche sind im preis inbegriffen. dazu findet chefdirigent clemens heil mit dem luzerner sinfonieorchester einen vitalen, jungen mozart-ton, wobei ihm allerdings piano und legato weitgehend abhanden kommen; diese harte unterlage lässt viele stimmen dann doch seltsam glanzlos klingen. glanzlos – hier aber beabsichtigt – auch das finale: sarastro erwürgt die königin der nacht auf offener bühne, ihre tochter pamina lässt tamino tamino sein und flieht entsetzt aus dr. mörgelis gruselkabinett. kein weihnachtsmärchen, kein happy-end.

Dienstag, 13. Dezember 2016

MILANO: FELTRINELLI PORTA VOLTA

in der euphorie um die elbphilharmonie ging ein wenig unter, dass herzog & de meuron parallel zu hamburg auch in mailand ein prestigeprojekt laufen hatten: der neue hauptsitz der fondazione feltrinelli bei der porta volta. die basler architekten haben der linken verlegerdynastie ein ausgesprochen chices stück stadt beschert. der „corriere della sera“ nannte es bereits liebevoll einen auf die erde gelegten wolkenkratzer. es handelt sich um einen gut 200 meter langen, scharf geschnittenen und oben zugespitzten riegel entlang der via pasubio, inspiriert von den strengen strukturen lombardischer bauernhöfe einerseits und mailänder stadtpalästen anderseits und im unterschied zu diesen vorbildern fast ausschliesslich aus fenstern bestehend, in den unteren etagen rechteckig, in den giebelgeschossen trapezförmig. ein durch und durch transparentes gebäude also, baulich und auch konzeptionell: die buchhandlung im parterre ist auch eine bar, die bibliothek unter dem dach auch zukunftswerkstatt. in diesem open-space und auf der prächtigen piazza davor sollen junge und alte, arbeiter und akademikerinnen, italienerinnen und chinesen (die mailänder chinatown liegt gleich nebenan) zusammen denken, streiten, phantasieren, planen. „il futuro non nasce da solo“ lautete die aufforderung bei der eröffnung heute. die umgebung scheint da beinahe zu widersprechen: in fussdistanz zur fondazione feltrinelli lassen sich neue wolkenkratzer von zaha hadid und arata isozaki besichtigen, eine wohnresidenz von daniel libeskind und ein verlagsgebäude von renzo piano. mailand wächst und wuchert und ist ein ebenso lebendiges wie hochkarätiges museum zeitgenössischer architektur. „un luogo dell‘ utopia possibile“ will feltrinellis neuer palazzo sein; dieser brand könnte für die ganze stadt stehen. mailand wird unterschätzt.

Donnerstag, 1. Dezember 2016

BASEL: ROBIN HOOD IM EAST END

wer backsteinmauern und rostige feuerleitern auf die bühne stellt und sie tiefrot und violett ausleuchtet, will entweder die west-side-story aufführen oder er nimmt in kauf, dass sich das publikum permanent daran erinnert und damit vergleicht. das wird richard wherlock am theater basel zum verhängnis, dessen neues handlungsballett „robin hood“ eine east-end-story sein will: er zimmert rund um den alten rächer-mythos eine neue geschichte, beamt den helden in die swinging sixties und lässt ihn in der gangster-szene des londoner ostens aufräumen. dazu dirigiert thomas herzog beherzt ein musikalisches pasticcio von renaissance-madrigalen bis britten und bond, james bond. ein attraktives wunschkonzert, das allerdings nicht darüber hinwegzutäuschen vermag, dass diese robinhoodiade, man muss es sagen, dramaturgisch ausgesprochen dürftig daherkommt: ein allzu braves märchen von ganoven und gutmenschen, 5 prozent love-story, 95 prozent kampf der gangs, immer und immer wieder kampf der gangs, penetrant redundant – und der bedauernswerte jorge garcía pérez in der titelrolle, der mit flaschenbodenbrille und hosenträgern ausschaut wie ein jämmerlicher steuerbeamter, erhält kaum eine gelegenheit, als figur charakter oder wenigstens konturen zu entwickeln. wherlocks choreografie ist reich an tempo, an akrobatik, an witzigen ideen und bonbonfarbenen kostümen, viel verpackung und wenig inhalt. man kann es auch positiv sehen: holiday on ice, aber ganz ohne ice, das schafft nur das basler ballett.

Dienstag, 29. November 2016

MÜNCHEN: LADY MACBETH VON MZENSK

katerina ismailowa ist eine mörderin. ihren lüsternen schwiegervater hat sie auf dem gewissen, ihren impotenten gatten und eine junge konkurrentin. die sympathien von dmitri schostakowitsch sind trotzdem auf ihrer seite: für diese „lady macbeth von mzensk“ (1934) schrieb er feine, weiche, überaus subtile melodien, zeigte die täterin als tragisches opfer der gesellschaftlichen zwänge. für ihr umfeld dagegen: wilde, wüste, groteske tonsequenzen, musik voller flüche und fürze, garstige russische provinz. ein kontrast, der stalins zensoren auf den plan rief und den dirigent kirill petrenko an der bayerischen staatsoper fantastisch herausarbeitet, mal drastisch, mal ganz plastisch, der orchestergraben ist das epizentrum dieser première. und anja kampe mit ihrem ausdrucksstarken sopran und ihrer aussergewöhnlichen bühnenpräsenz ist die traumbesetzung für diese katerina (zudem hat sie als ddr-kind russisch gelernt, ist also heimisch in dieser sprachwelt). sie zeigt eine frau, die furchtbar einsam ist und nach liebe lechzt; eine frau, die kämpft und nach verlorenem kampf den tod so sehr herbeisehnt wie zuvor die liebe. mit einem sprung in die „schwarzen wellen“ beendet sie ihr unglück – so verzweifelt springt sonst nur noch tosca. regie-altmeister harry kupfer widmet dieser katerina seine ganze aufmerksamkeit und entwickelt, als wollte er sich mit seinen 81 jahren noch für den „tatort“ bewerben, ein präzises und ergreifendes porträt. um sie herum aber arrangiert er in der abgefuckten industriehalle, die ihm hans schavernoch auf die bühne gebaut hat, durchaus konventionelle tableaux, die von den grossen russischen schwarz-weiss-klassikern inspiriert sind und auch vor schlichten klischees nicht zurückschrecken: sterbebeichte des schwiegervaters mit der wodkaflasche in der hand, plumpe arbeiter machen plumpe fick-pantomimen und polizisten sind sowieso dumpfbügel. szenisch also eine eher lauwarme veranstaltung, musikalisch eine sternstunde.

Sonntag, 27. November 2016

MÜNCHEN: SOY MARIPOSA

„no soy persona, soy mariposa – ich bin nicht mensch, sondern schmetterling.” die bezeichnung (und das schimpfwort) für homosexuelle, queers, stricher hat in lateinamerika etwas durchaus poetisches. der mexikanische performer und anthropologe lukas avendaño ist so ein schmetterling, seine wurzeln hat er bei zapoteken, ureinwohnern im süden des landes. seine performance mit dem langen mariposa-titel, die er jetzt im rahmen des mexiko-festivals an den münchner kammerspielen zeigt, will anklage sein und forderung. er klagt gegen die verlogenheit der macho-gesellschaft (z.b. polizisten, die tagsüber die schwulen jungs verprügeln und sich nachts in den pornokinos ihrer bedienen) und er fordert anerkennung oder wenigstens toleranz gegenüber diesen lebensformen. avendaños exhibitionistischer tanz auf dem catwalk ist ein gesellschaftspolitisches statement auf high heels, ein wut-monolog, eine wut-arie, die durch seine worte und tränen mehr berührt als durch seine trotzige fast-nacktheit und sein tänzerisch doch eher monotones repertoire. er möchte seine zuschauerinnen und zuschauer zu komplizen machen und – gemäss programmheft – auch heteros dazu einladen, ihre sexualität vermehrt spielerisch, undefiniert, schmetterlingsmässig anzugehen. doch auf der bühne erstickt seine wut diesen wunsch weitgehend. dieser mariposa ist die poesie irgendwie abhanden gekommen.

Samstag, 26. November 2016

MÜNCHEN: OFFENE TÜREN

tag der offenen tür im bayerischen landtag. grossandrang auf die demokratie im maximilianeum. im fraktionssaal der csu taucht dann auch ministerpräsident horst seehofer auf und gibt sich ganz landesväterlich, um nicht zu sagen grossväterlich. „bayern ist die vorstufe zum paradies“, sagt er und voller stolz auf den eigenen anteil: „uns geht es verdammt gut.“ passt einfach verdammt schlecht zu seinen laufenden äusserungen in der flüchtlingsfrage, wo er mit den worten „begrenzung“ und „obergrenze“ nur so jongliert und die kanzlerin drangsaliert. sozial? solidarisch? nie gehört? man müsste den seehoferhorst bei gelegenheit daran erinnern, dass es uns verdammt gut geht und anderen verdammt schlecht und dass es da einen direkten zusammenhang gibt und deshalb einen auftrag: offene türen, nicht nur im landtag.

Donnerstag, 24. November 2016

BASEL: DIE TOTE STADT

paul lebt in einem reihenhaus in brügge. zurückgezogen. mit ihm stimmt etwas nicht. er legt die kleider seiner längst verstorbenen frau aufs bett, riecht an ihrer parfumflasche, streichelt ihre letzte perücke, eine kammer hat er mit erinnerungsbildern tapeziert. der tenor rolf romei singt diesen paul am theater basel als einen von der vergangenheit gleichermassen gejagten und gefesselten; immer wieder nimmt dunkle verzweiflung seiner hellen stimme die kraft. „die tote stadt“ von erich wolfgang korngold behandelt einen fall von missglückter trauerarbeit (der titel nimmt bezug auf die stadt brügge, die wie paul völlig auf das bessere einst fixiert ist). paul lernt marietta kennen, die seiner marie aufs haar gleicht, doch charakterlich der pure gegenentwurf ist; helena juntunen singt beide und switcht beeindruckend zwischen der heiligen und der vulgären. es beginnt eine verhängnisvolle liaison, die in einem mord endet, der sich dann allerdings nur als reinigender alptraum erweist: „wie weit soll unsre trauer gehen, wie weit darf sie es, ohn‘ uns zu entwurzeln?“ regisseur simon stone geht mit freuds traumdeutung ans werk, die mechanismen der verdrängung faszinieren ihn sichtlich, er illustriert das innenleben: pauls haus fällt auseinander, er sucht die türen und die treppen und findet in jedem winkel immer nur – marie, ohne haare, von krankheit und tod gezeichnet, und noch eine marie und noch eine. korngold war kaum 20, als er diese trauma-oper komponierte. man muss sich das vorstellen: vor 100 jahren in wien ein musikalisch hochbegabter jüngling, der alles aufsaugt und verarbeitet, puccini klingt an, lehár klingt an und die opulente hollywood-filmsinfonik nimmt er gleich auch noch vorweg. erik nielsen, der neue chefdirigent in basel, meistert diese gratwanderung zwischen spätromantik und vollkitsch mit dem sinfonieorchester bravourös, ein vollbad unterschiedlichster musikalischer emotionen, ganz grosses kino.

Montag, 21. November 2016

MÜNCHEN: LE NOZZE DI FIGARO

die inszenierung ist von bestechender schlichtheit: hinten in der mitte eine türe, links eine türe, rechts eine türe; dieser einfache weisse transit-raum reicht regisseur dieter dorn, um all die intrigen rund um figaros hochzeit zu erzählen. allerdings ist diese inszenierung auch gut abgehangen: die première an der bayerischen staatsoper fand vor 19 jahren statt, die originalbesetzung dürfte inzwischen also in rente sein. die aufführung jetzt hätte also durchaus zum besuch im opernmuseum verkommen können. doch weit gefehlt. nichts vergilbtes, nichts verstaubtes, nein, der abend war an jugendlichkeit und frische nicht zu überbieten. ein hochkarätiges ensemble attraktiver leute mit attraktiven stimmen stachelte sich zu immer neuen höchstleistungen an: alex esposito als figaro, tara erraught als susanna, angela brower als cherubino, alexander tsymbalyuk als bartolo, mariusz kwiecien als graf, diana damrau als gräfin – kurz: champions league. unter der leitung von antonello manacorda, der mörderische tempi liebt, bringen sie die vertrackte komödie zum vibrieren, alles federt, alles fiebert, der leere weisse raum wird gefüllt mit mozarts elegant-erotischer musik. der graf, der das ius primae noctis offiziell zwar aufhebt, es dann aber für sich selbst quasi durch die hintertür doch wieder beanspruchen will, ist das zentrum von mozarts subtiler gesellschaftskritik. die melodien machen die emotionalen und moralischen pirouetten nachvollziehbar, zu der dieser verführer im hausmantel seine entourage nötigt, und entlarvt die verlogenheit der gepuderten klasse mit zwischentönen. keiner dieser zwischentöne geht hier unter, es ist ein wechselbad heisser und kalter gefühle, ein fest der musik.

Sonntag, 20. November 2016

ATLANTIC CITY: USA, SUICIDE COUNTRY

der schriftsteller joshua cohen ist in atlantic city aufgewachsen. in jener stadt also, die donald trump mit seinen ideen und seinem geld zunächst bis zur unkenntlichkeit entstellt und dann ruiniert hat. „wie erklären sie sich den wahlausgang?“ fragt die „frankfurter allgemeine sonntagszeitung“ cohen. seine antwort: „mit dem anhaltenden amerikanischen todestrieb. und zwar im freudschen sinne: es gibt unter amerikanern einen grossen willen, an der eigenen zerstörung mitzuwirken. (…) der einzige weg, der einem bleibt, seiner unzufriedenheit ausdruck zu verleihen, ist die wahl des absoluten desasters.“

Samstag, 19. November 2016

MÜNCHEN: PEK ÖZLEDIM O DEMLERI

ungewohnte tonarten, ungewohnte klangfarben, ungewohnte rhythmen. und doch wird sofort klar: das ist grosse poesie. der chor armoni-ahenk und sein musikalischer leiter ahmet kadri rizeli haben sich entschieden, im grossen konzertsaal der münchner hochschule für musik und theater einen abend mit liedern von türkischen komponistinnen zu veranstalten. ausschliesslich -innen, im sinn einer späten ehre. denn durch die räumliche trennung von frauen und männern im traditionellen islam entwickelte sich eine separate frauenkultur; bedeutendes entstand in den nebenräumen der paläste und blieb vielfach unbemerkt, unentdeckt. es sind lieder voller melancholie, die die sechs sängerinnen, fünf sänger und sieben instrumentalisten (u.a. schossgeige und trapezzither) mit viel empathie und sorgfalt vortragen. hier wird viel geweint, getrauert, gehofft, gewartet. „von tag zu tag geht es mir schlechter“ – „ich bin der kummervolle herbst“ – „ich bin so leidbeladen, dass ich in enttäuschung versunken bin“ – diese kompositionen zielen und ziehen in die tiefe. angesichts der aktuellen entwicklung in der türkei erscheint jede liedzeile doppeldeutig. im publikum sitzen mehrheitlich deutschtürkinnen und –türken und mesut koç, der türkische generalkonsul für münchen. die sehnsucht nach besseren zeiten, nach neuen perspektiven ist im saal fast mit händen zu greifen, wenn esra içöz gegen ende mit bebender stimme singt: „pek özledim o demleri – wie sehr ich diese zeiten vermisse“.

Mittwoch, 16. November 2016

LUGANO: MARCO SCORTI

auf den ersten blick: natur, wilde natur. auf den zweiten blick: versehrte natur. auf den ersten blick (aus distanz) meint man: fotografie. auf den zweiten blick (nahe dran) erkennt man: landschaftsmalerei, pixelgenau. marco scorti, 29, wuchs im malcantone auf, umgeben von düsteren wäldern, von schattigen talfurchen, von grenzen. das malt er, immer wieder. dieses jahr gewann scorti den renommierten manor-preis fürs tessin; deshalb widmet ihm das museo d’arte della svizzera italiana (masi) in lugano jetzt drei räume im untergrund. die haben es in sich. im ersten, fast putzig, 15 kleine formate, kaum grösser als a4, gouache auf karton. im zweiten und dritten dann riesendinger, drei auf sechs meter, jeweils zusammengefügt aus zwölf einzelteilen, acryl auf leinwand. auf den kleinen wie auf den grossen bildern: immer wieder wälder, diffuses licht, und immer wieder stimmt etwas nicht. mal sind es panzersperren, die die idylle stören; mal schleicht sich hinten eine schlammlawine von bedrohlicher farbe und form an; mal entdeckt man reste einer eingestürzten hütte und unnatürlich verbogene baumstämme. selbst ein gleissendes schneefeld hat etwas unheimliches, weil am rand einer eisfläche etwas oder jemand liegt, unscharf, nicht auszumachen. es ist wie meistens in den märchenwäldern: irgendwo wird irgendwer lauern. und plötzlich entdeckt man auf diesen bildern noch bleistiftnotizen: „hier muss es noch dunkler sein.“ noch dunkler. banale orte am rand der zivilisation geraten scorti so zu genialen vexierbildern, mysteriös und monströs. und der einzige mensch weit und breit ist: der verunsicherte betrachter. gefällt mir.

Freitag, 11. November 2016

LUZERN/EMMEN: RIGOLETTO

dampfkessel, kabelstränge, messgeräte, schläuche, warnlampen, schalttafeln, fluchtleitern, überdruckventile, metallrohre, transportkräne, notausgänge: hier experimentierten forscher und arbeiter ab 1950 mit synthetischen garnen, doch seit mehr als zehn jahren steht die pilothalle der ehemaligen viscosuisse in emmenbrücke schon leer. das luzerner theater nutzt dieses prachtvolle industrierelikt jetzt für eine ebenso eigenwillige wie grossartige annäherung an giuseppe verdis „rigoletto“. die ausrangierte kulisse bietet einen faszinierenden rahmen für das porträt dieses aussenseiters: in seinem job als hofnarr ist er ein auslaufmodell, weshalb er sich am einzigen festklammert, was ihm noch bleibt, an seiner tochter. und dies mit krankhafter eifersucht, die die junge frau letztlich in den tod treibt. der österreichische bariton claudio otelli brilliert als rigoletto, er taumelt wie in trance über all die treppen und zwischenböden, zwischen äusserster wut und tiefster traurigkeit; die mitmenschen, die ihn ausgrenzen und verhöhnen, erlebt er nur noch als fratzen – regisseur marco štorman und seine ausstatterin anika marquardt leisten da bis in die kleinsten nebenrollen ganze arbeit. der labyrinthische raum wird so zum labyrinth der gefühle, zum spiegelbild von rigolettos wunder seele. stefan klingele dirigiert das luzerner sinfonieorchester in der tiefe des raumes, mit viel gespür für das utopische an verdis musik, die sehnsucht nach dem neuen. auch wenn die musikalische koordination quer durch die unübersichtliche halle nicht immer perfekt gelingt, ist dies ein eindrücklicher, vielversprechender einstand des neuen luzerner opernensembles: auf magdalena risberg (gilda), vuyani mlinde (sparafucile) und bernt ola volungholen (marullo) darf man sich auch in weiteren rollen ausgesprochen freuen.

Donnerstag, 3. November 2016

BASEL: LA FORZA DEL DESTINO

ein veritabler krimi: der marchese di calatrava verbietet seiner tochter leonora die liebe zu alvaro, weil dieser ein indio ist und die verbindung somit nicht standesgemäss, worauf der marchese bei einem streit durch einen unabsichtlichen schuss aus alvaros pistole stirbt; jetzt will leonoras bruder carlo den tod des vaters rächen, es beginnt eine jagd durch vier akte, in denen man den akteuren in immer neuen verkleidungen in schenken und klöstern wiederbegegnet; am schluss sind auch leonora und carlo tot und alvaro am rande des wahnsinns. die hauptrolle in verdis „la forza del destino“ spielt der zufall und er hat furchtbar viel zu tun. in seiner inszenierung am theater basel gibt sich sebastian baumgarten schon gar keine mühe, die abstruse story ernst zu nehmen, sondern zimmert daraus eine knallige und streckenweise höchst ironische revue über rassismus, religion, kriegstreiberei und flüchtlingselend (was auch bei verdi durchaus mitgemeint war). spielzeugpanzer, baströcke, cowboyhüte, eine fluoreszierende lourdes-madonna – der ganze requisiten-trash wird aufgefahren und darüber hinaus lässt die regie auch gleich noch eine werkschau zum aktuellen stand der videokunst über die drehbühne flackern. keine einzige assoziation bleibt unbedient. in diesem tummelfeld gelingt einzig elena stikhina als leonora mit ihrem dramatischen sopran ein spannendes, mehrdimensionales rollenporträt, wogegen aquiles machado als alvaro und evez abdulla als carlo zu plakativ agieren und auch stimmlich nicht überzeugen und dirigent ainars rubikis mit dem orchester oft vergeblich gegen die bilderflut ankämpft. der abend ist musikalisch unterbelichtet und visuell überfrachtet und lässt einen unter dem strich irgendwie kalt.

Montag, 31. Oktober 2016

MÜNCHEN: TRÄNEN, SCHERBEN, VERZWEIFLUNG

auf der bühne: ein quadrat mit 1200 sektflaschen, leer oder fast leer, fein säuberlich aufgestellt, alle 50 zentimeter eine. die welt der promis und partys als klaustrophobischer raum; das publikum im marstall des residenztheaters sitzt auf allen vier seiten. zu beginn staksen die sechs schauspielerinnen noch schön kontrolliert durch die flaschenreihen, doch schon bald – man ahnt es – wird daraus ein schlachtfeld, ein scherbenhaufen der gefühle. „die bitteren tränen der petra von kant“ von rainer werner fassbinder erzählt die geschichte einer modedesignerin, die job/erfolg/geld und liebe nicht zusammenbringt. in der inszenierung von martin kusej verausgabt sich bibiana beglau während zwei stunden, sie terrorisiert ihre freundin, ihre mutter, ihre tochter, ihre liebste und ihre bedienstete, sie brüllt und blutet, hat gerötete augen und geschwollene lippen, ist heiss und eiskalt. in ihrer beziehungsunfähigkeit lässt sie alles eskalieren bis zur explosion. als gegen ende spuren der erkenntnis auftauchen, ist es zu spät: die sklavin hat sich erhängt, die anderen sind weg. bibiana beglau spielt dieses beängstigende, hysterische solo der einsamkeit und verzweiflung grandios: mein ich ist mein gefängnis. rainer werner fassbinder war auch so einer. petra von kant ist stark autobiographisch durchdrungen. man kann sich dieser emotionalen tortur als zuschauer nicht entziehen, leidet bei den seelischen verletzungen, bangt wegen den scherben, zwischen denen sich die darstellerinnen teilweise barfuss bewegen – und ist irgendwie ganz erleichtert, als die beglau beim schlussapplaus völlig entspannt und lachend auf die bühne kommt, als wäre grad gar nichts gewesen.

Sonntag, 30. Oktober 2016

MÜNCHEN: HADJITHOMAS/JOREIGE

im abgedunkelten treppenaufgang zur ausstellung „two suns in a sunset“ im haus der kunst empfängt ein babylonisches stimmengewirr den gast: 20 bildschirme, 20 gesichter, 20 geschichten, die erzählt werden (es sind die erfundenen geschichten aus betrügerischen spam-mails). vielstimmig wie dieses intro ist die ganze ausstellung des libanesischen künstlerpaars joana hadjithomas und khalil joreige. die beiden experimentieren mit bildern, videos, objekten, archivmaterial. mit anderen mitteln als journalistinnen und historiker nehmen sie eine chronistenpflicht wahr, spüren mit aussergewöhnlicher empathie den geschichten einzelner nach und fügen sie zu einem bigger picture. oft stehen die bilder im zentrum (prächtige schwarz-weiss-aufnahmen von phantasievollen objekten, die sich bei genauerem hinschauen als zerbombte strassenlaternen entpuppen), oft aber auch die abwesenheit von bildern (menschen, die ihre lager- und foltererlebnisse während dem libanesischen bürgerkrieg 1975-1990 zaghaft in worte zu fassen versuchen). in einem 50-minuten-film reist hadjithomas nach izmir, das ehemalige smyrna, und schaut sich die bilder dieser reise dann gemeinsam mit der betagten malerin und dichterin etel adnan an; die familien beider frauen waren nach dem ende des osmanischen reiches aus der stadt vertrieben worden und sind nie wieder zurückgekehrt. diese annäherung nach jahrzehnten ist eine behutsame etude über zugehörigkeit. so disparat all diese zugänge zu einer chaotischen welt sind, so sehr entwickeln sie eine durchaus nicht nur pessimistische kraft: politik und poesie schliessen sich nicht aus, sie könnten sich bereichern.

Samstag, 29. Oktober 2016

MÜNCHEN: POINT OF NO RETURN

am 22.juli lähmte der 18jährige david s. mit seinem amoklauf diese stadt für eine lange nacht. wir waren in unserer wohnung an jenem abend. wir hörten stundenlang die polizeisirenen aus allen richtungen, waren permanent online, hatten ein mulmiges gefühl, aber keine unmittelbare angst. anders als die zehntausenden in der innenstadt. anders als wiebke puls, die mit ihren zwei kindern im theater sass. anders als dejan bućin, der in der fussgängerzone socken kaufte, als die panik um sich griff. mit diesen beiden und drei weiteren schauspielern entwickelt yael ronen an den münchner kammerspielen die performance „point of no return“ über die massen- und individualpsychologische dynamik nach dem amoklauf, über horror und hysterie. ganz nach dem motto: rede drüber, es wird dir gut tun. die bühne ist ein voll verspiegelter raum, der steil zum publikum abfällt (wieviele arg schiefe ebenen müssen wir uns noch angucken, wenn regisseurin und bühnenbildner uns sagen wollen, wie sehr die welt doch aus den fugen ist?). hier verarbeiten die fünf, meist angeseilt, ihre erlebnisse. sie geben ihre enttäuschung preis, dass es „nur“ ein amoklauf war und kein terroranschlag; sie stellen in einer choreografie des grauens die opfer am boden des olympia-einkaufszentrums nach; sie tauschen aus, wie sie selber den tollsten theatertod starben; sie wollen von kollegin jelena kuljić wissen, wie weit sie an jenem juli-abend von ihrem serbien-trauma eingeholt wurde; ja, und niels bormann erzählt, wie er sich die freude an der fischsuppe in der theaterkantine nicht nehmen liess. das ist grotesk und oft grenzwertig – und sehr selten: berührend. ein bunter abend, das publikum lacht befreit und applaudiert üppig. das therapeutische ziel, immerhin, scheint also erreicht.

Freitag, 28. Oktober 2016

MÜNCHEN: TÜRKIYE RELOADED

farbig-fröhliche schwulenparade. polizei-grosseinsatz. demo für das letzte bäumchen im gezi-park. polizei-grosseinsatz. demo gegen die dritte bosporus-brücke. polizei-grosseinsatz. die bilder, die jetzt im rahmen des festivals „türkiye reloaded“ in der pasinger fabrik gezeigt werden, wiederholen sich. und unterdessen wissen wir, dass das alles nur der anfang war. diese menschen, tausende, zehntausende, aufgestellt, engagiert, kämpferisch – erdogan nennt sie „outsider“ und „marginal“. wo sind sie jetzt? wie geht es ihnen? „wider die grautöne“ nennt die kuratorin ceren erdem ihre ausstellung. sie zeigt zum beispiel annika erikssons video über streunende strassenköter am stadtrand, die im off philosophieren: „ich bin wie die stadt, ich war immer da und ich überlebe, weil ich mich laufend erneuere.“ sie zeigt als riesiges wandposter einen wander(!!)vorschlag durch die hügel im norden istanbuls. sie zeigt das improvisationstalent der türken im alltag (fliegende händler, teeküchen, clevere abfallentsorgung). sie zeigt menschen, die beim tanzen und beim politisieren gute stimmung verbreiten. sie könnten die zukunft dieses landes sein. und? wie weiter? schnell wird sich die dominanz der grautöne nicht verflüchtigen. „in den nächsten 10 bis 15 jahren wird sich diese lost-in-transition-befindlichkeit verfestigen“, sagt özlem topçu von der „zeit“ beim abendlichen divan-gespräch. immerhin, im internet spriessen die oppositionellen medien. ein kleiner hoffnungsschimmer. irgendwann also doch wieder nach istanbul.

Montag, 24. Oktober 2016

MÜNCHEN: LA JUIVE

heavy. es wimmelt von religiösen fanatikern. mal richten sie mit erhobenen armen ihren verklärten blick gen himmel, mal klammern sie sich übertrieben an ihren gebetbüchern fest, mal wedeln sie scheinheilig mit ihren friedenszweigen, um kurz danach mit denselben zweigen ihre gegner auszupeitschen und dazu hässliche parolen zu schreien. lauter eiferer und geiferer. „la juive“ von fromental halévy (1835) spielt in konstanz zur zeit des dortigen konzils (1414); vor dem hintergrund einer politisch und religiös schwer irritierten zeit erzählt die oper die unmögliche liebesgeschichte zwischen der jüdin rachel, die in wirklichkeit eine christin ist, und dem christen léopold, der sich ihr zuliebe als jude ausgibt. missverständnisse führen zu rache, rache führt zum tod. die gewaltige mauer quer über die ganze bühne ist keine klagemauer und bietet keinen schutz, nein, sie wirkt in ihren metallenen farben abweisend und bedrohlich, ein überdeutliches sinnbild für die mauern und den hass in den köpfen. neben den beängstigenden massenszenen gelingen regisseur calixto bieito und dirigent bertrand de billy an der bayerischen staatsoper eindrückliche zeitlose einzelporträts – dank einem hochkarätigen ensemble: aleksandra kurzak als rachel, zerrissen von ihren gefühlen, heimatlos in ihrem glauben; roberto alagna als jüdischer goldschmied éléazar, warmherzig als ihr vermeintlicher vater, unerbittlich im kampf der konfessionen; schliesslich ante jerkunica als kardinal brogni, rachels wirklicher vater – er ist die eigentliche entdeckung des abends, der kroate verfügt über einen bass von beeindruckender fülle und subtilität. was bleibt, ist der nachhall dieser schwermütigen musik und das dunkel dieser monströsen mauer. ein mahnmal.

Freitag, 21. Oktober 2016

BEIJING: CHINA VERSTEHEN MIT ZHANG

"alles in diesem land wird tag für tag aufs neue umgewälzt. in deiner stadt, aber auch in deinem leben. das tempo hier übersteigt bei weitem das, was die seele eines normalen menschen erträgt. (...) hier ist es ständig so, als hättest du dich unter vielen qualen endlich durchgerungen, einem mädchen zu sagen, dass du sie liebst - da wendet sie dir den kopf zu und du erkennst: sie ist plötzlich eine ganz andere. dann musst du wieder von vorne anfangen: soll ich mich jetzt in die neue verlieben?" der grosse chinesische kunstmaler zhang xiaogang im gespräch mit dem korrespondenten der süddeutschen zeitung. zhang erlebte die kulturrevolution als kind in kunming und ist jetzt 58.

Montag, 17. Oktober 2016

BERLIN: IL BARBIERE DI SIVIGLIA

"wenn man mit einer sache zunächst überfordert ist, bringt einen das auf neue ideen und provoziert in einem die kraft, diese überforderung zu überwinden." kirill serebrennikov ist in russland ein angesagter regisseur. jetzt hat er für die komische oper berlin mit der kraft der überforderung aus rossinis "barbier von sevilla" eine rabenschwarze smartphone-komödie gemacht. der figaro (dominik köninger, bravourös) ist hier ein starfriseur im schwarzen cape, mit schwarzen ohrspreizerringen und zu viel kajal im gesicht. dieser moderne mephisto mauschelt und mixt die gefühle seiner kundschaft: wahre liebe scheint in zeiten der oberflächlichen kommunikation ein ding der unmöglichkeit. sms werden zwischen den flirtenden quer über die bühne gejagt (auch eines an den dirigenten: "gehts auch schneller?"), arien werden als schmachtfetzen-videos gepostet, es gibt money-transfer und social disaster - heisse leitungen, kalte welt. und rossinis musik? die macht das nicht nur mit, sondern liefert in ihrer spritzigkeit tausend anlässe für situationskomik, alles frisch, frech, fulminant, jede pointe sitzt - dank einem ensemble in umwerfender spiellaune. graf almaviva tritt, um seiner angebeten rosina inkognito nahe zu sein, mal als syrischer kämpfer auf und mal als musiklehrer im perfekten conchita-wurst-outfit. das date kommt zustande, die liebe nicht: "omg!" komische opern sind oft von peinlicher plattheit, ich habe sie nie gemocht. dieser überforderte russe, der mit der musik in die tiefe blickt, hat mich jetzt mit ihnen versöhnt. seinen namen sollte man sich merken. serebrennikov.

Sonntag, 16. Oktober 2016

BERLIN: RUSALKA, DEUTSCH UND DEUTLICH

ihre grosse arie, das "lied an den mond", singt rusalka für einmal nicht im silberschein am teichufer, nein, die nixe formuliert ihre amourösen begehren sitzend auf dem parkett eines wiener salons der vorigen jahrhundertwende. freud veröffentlichte seine traumdeutung im gleichen jahr wie dvorak seine märchenoper "rusalka" - für barrie kosky an der komischen oper berlin eine steilvorlage: wie die nixe aufgrund ihrer liebe zu einem prinzen zur frau werden möchte, so habe doch jeder mensch mal das bedürfnis, ein anderer zu sein. folgerichtig interessieren kosky an diesem märchen vor allem die risiken und nebenwirkungen, er denkt den romantischen zauber ins extreme weiter: aufgeschlitzte fische, grapschende männer, blut an den prinzenhänden, eine kotzende katze, ein diamantbehangenes skelett; der traum vom wandel wird zum albtraum. reichlich bilder für eine nette meditation übers andersseinwollen, danke, herr kosky. schlicht genial bewegt sich nadja mchantaf bei ihrem rollendebut als rusalka durch diesen rabiaten rausch, mit glockenhellem sopran in den höhen und wunderbar eingedunkelt in den tieferen lagen. wie sie sich sehnt, ihr schuppenkleid abzustreifen, wie sie als gewandeltes wesen die erotik erst entdecken muss, wie sie auf beinen zu stehen und später gar zu tanzen versucht, wie sie vor verzweiflung schliesslich irre wird, das berührt vom ersten bis zum letzten takt. dass hier nicht wie üblich das tschechische original gesungen wird, sondern eine zuweilen arg holprige deutsche fassung, ist ein wermutstropfen. der einzige an diesem abend.

Samstag, 15. Oktober 2016

BOCHUM: VIEL ZEIT FÜR GROSSE STOFFE

"in den deutschen stadttheatern findet man heute eine unglaubliche betriebsamkeit. in immer kürzeren probezeiten wird immer mehr produziert. man arbeitet oft schnellebig und oberflächlich, anstatt in die vertikale zu gehen. (...) mit meinem start am schauspielhaus bochum in der spielzeit 2018/19 strebe ich eine rückkehr zur schauspielkunst und zur auseinandersetzung mit jenen grossen stoffen an, die für die bühne eine herausforderung bedeuten. um als schauspieler mit solchen texten in die tiefe gehen zu können, braucht man mindestens sieben oder acht wochen zeit. man muss sich auch getrauen, einmal drei monate zu proben, was heute so gut wie nicht mehr stattfindet. wenn in deutschland heute einmal zwei monate geprobt wird, stellt das schon eine ausnahme dar." johan simons, bis 2015 intendant der münchner kammerspiele, im "lettre international" (heft 114). ein versprechen. auf nach bochum.

Freitag, 14. Oktober 2016

MÜNCHEN: NO PLACE LIKE HOME

ein kleines wohlfrisiertes mädchen im rosa kleidchen sitzt vor der rosa geblümten tapete am wohnzimmertisch mit dem rosa kaffeegedeck. es hilft seiner mutter beim knäueln der wolle. geredet wird kein wort. die stimmung mehr bleiern denn rosa. plötzlich knallt eine unsichtbare faust auf den tisch und aus dem kaffeekrug juckt ein schleimiger fisch. die mutter steckt den fisch zurück in den krug. geredet wird kein wort. wieder wird geknäuelt und wieder knallt die faust und wieder juckt der fisch – bis ihm die mutter den kopf abbeisst und ihn roh runterwürgt. im hals stecken bleibt er auch dem zuschauer. veronika veits fünf-minuten-video „die faust“ bringt grossartig auf den punkt, wie es unter der gepflegten ordnung und der familiären oberfläche brodelt und juckt und würgt und wie es durch runterschlucken entsorgt werden soll. dieser film zeigt, wie doppeldeutig der titel der ausstellung „no place like home“ im haus der kunst in münchen gedacht ist. die idylle ist brüchig, geheimnis und gewalt lauern überall; die kindheit, das zuhause, sie hinterlassen tiefe und sonderbare spuren. die 14 hier versammelten video- und filmarbeiten aus der sammlung von ingvild goetz sind in ihrer mehrheit streng, kalt, abweisend, rätselhaft. und allesamt höchst anregend. psychoanalyse live.

Freitag, 30. September 2016

MÜNCHEN: DER FALL MEURSAULT

moussa heisst er. der junge araber, der bei gleissendem sonnenlicht am strand von algier erschossen wird, von einem französischen angestellten namens meursault. albert camus interessierte sich in „l´étranger“ nicht für das opfer, es hatte keinen namen und kein gesicht. der algerische autor kamel daoud hat das in seinem roman „der fall meursault – eine gegendarstellung“ nachgeholt. 70 jahre nach camus erzählt er die geschichte aus arabischer perspektive. keine revanche, eine replik. das opfer hat jetzt einen namen. moussa. der ganze bühnenraum der münchner kammerspiele ist mit teppichen ausgelegt, das theater als moschee, ein schönes bild. haroun, der jüngere bruder von moussa, ist jetzt ein alter mann und brüllt seinen ganzen zorn auf die religiösen eiferer in diesen raum, regt sich auf über camus´ eurozentrismus, ist enttäuscht vom eigenen land. der zu recht international herumgereichte iranische regisseur amir reza koohestani verdreifacht haroun in seiner inszenierung – und manchmal ist er als kind, das den tod des bewunderten bruders nicht versteht, als junger mann, der sich neben der verbitterten mutter im leben kaum zurechtfindet, und als alter gleichzeitig auf der bühne. die perspektiven überlagern sich zu mehrdimensionalen bildern. mit einfachen mitteln (neben den teppichen ein wenig sand, eine grosse sonne, ein tisch, ein offenes grab) erweckt koohestani moussa zum leben. wie daouds roman will auch diese inszenierung keine postkoloniale anklage sein, sondern ein denkanstoss, ein äusserst präziser blick auf die komplexität der verhältnisse zwischen menschen, zwischen religionen, zwischen kontinenten. um das zu unterstreichen sprechen die schauspielerinnen und schauspieler immer wieder auch in ihrer muttersprache, farsi, bulgarisch, lettisch, arabisch, die welt als babylonische provokation. moussas leiche wird nie gefunden. das grab bleibt leer. daoud und koohestani füllen es mit worten, nachhallend und nachhaltig. das eindrückliche ende einer schwierigen geschichte: ein grab voller worte.