Sonntag, 4. Oktober 2015

LUZERN: GISELLE UND DAS WILDE NONNENBALLETT

albrecht, ein junger herzog, und giselle, ein mädchen vom land, verlieben sich, etwas läuft schief, sie zerbricht, stirbt und landet, im zweiten akt, bei den geistern der unglücklichen jungfrauen. oh gott oh gott, so was geht natürlich gar nicht mehr. allerdings hat adolphe adam dazu 1841 die allersüffigste ballettmusik komponiert, den romantischen tanzklassiker schlechthin, marzipan für die ohren. irgendwie ist „giselle“ also doch pflichtstoff für die tanztheater dieser welt. der spanische choreograf gustavo ramirez sansano zieht sich aus der affäre, indem er am luzerner theater zur romantischen tonspur (das sinfonieorchester unter boris schäfer in bestlaune) völlig neue bilder erfindet: giselle als junge journalistin (rachel lawrence), albrecht als ihr chefredaktor (anton rosenberg), der alltag im verlagshaus der 60er-jahre ein unerschöpfliches slapstick-gewusel. unglaublich wendige körper versuchen sich aus den gesellschaftlichen konventionen freizustrampeln. viel bewegung, viel tempo, viel witz, eine wonne. überraschende bilanz zur pause: funktioniert erstaunlich gut, diese kombination von romantischen ohrwürmern und neuzeitlichem büroleben. und dann haut ramirez sansano noch einen drauf, was keinen zweifel daran lässt, dass er sowohl katholisch sozialisiert wie auch katholisch traumatisiert wurde: die unglücklichen jungfrauen des zweiten aktes mutieren bei ihm – almodóvar lässt grüssen – zu einem wildgewordenen haufen mehrheitlich männlicher klosterfrauen, beinespreizend und bösartig, gierig und diabolisch den prior umgarnend, ein nonnenballett der anderen art. kein wunder, dass giselle in diesem kloster bleiben will und ihren vitaminarmen chefredaktor ziehen lässt. gehobener klamauk statt originaler kitsch, lautet die devise. das luzerner theater leistet sich damit ein echt perlendes spässchen.

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