Samstag, 31. Oktober 2015

LUZERN: SWEENEY TODD

klamauk. sagt eine alt nationalrätin in der pause. klamauk. die dame hat recht. der barbier benjamin barker alias sweeney todd bringt im düsteren london seinen konkurrenten adolfo pirelli um, er bringt den büttel bamford um, er bringt eine bettlerin um, er bringt den richter turpin um und dann verliert man den überblick. er bringt sie alle aus rache um, weil er zu unrecht 15 jahre verbannt wurde. und mrs. lovett, die bäckerin seines vertrauens, macht aus den leichen seiner opfer köstliche fleischpasteten, best of fleet street. so weit, so schlecht. leider hat stephen sondheim aus diesem stoff 1979 ein musical gemacht, das leider immer noch gespielt wird. zum beispiel jetzt am luzerner theater. regisseur johannes pölzgutter und dirigent florian pestell unternehmen den verzweifelten versuch, aus diesem groschenroman quasi grosse oper zu machen. ohne erfolg. zu einem musical gehören nun mal ein paar eingängige melodien, doch die wollten dem komponisten partout nicht einfallen. stattdessen: ohne unterbruch aggressive, grelle tonfetzen, zu denen die kultivierten stimmen des luzerner opernensembles so gar nicht passen wollen. alles absicht? „sozialkritisch“ sei das ganze und voll von „tiefschwarzem humor“, stand irgendwo. ein scharfes rasiermesser und ein paar pasteten aus menschenfleisch, nun ja, dieser humor reicht einfach doch nicht ganz für drei abgrundtief beschwingte stunden. es gibt zwei sorten von klamauk: gehobenen und überflüssigen.

Sonntag, 25. Oktober 2015

MÜNCHEN: MEFISTOFELE

ausgelassene jahrmarktstimmung, singen und tanzen auf bänken und tischen. doch dann: ein feuerball, ein knall, die menschen liegen regungslos auf und neben den tischen. in den sesseln des karussels im hintergrund baumeln jetzt leichen. mefistofele bahnt sich einen weg durch diese trümmerlandschaft, nähert sich faust und seinem gefährten mit einem oktoberfest-lebkuchenherz: i mog di. die elysischen chöre knattern nur noch vom alten grammophon, das göttliche reich eine vision aus der vergangenheit, der himmel flimmert als schwarz-weiss-reminiszenz über die leinwand. willkommen in der hölle. i mog di, faust. rené pape mit seinem einerseits weich schmeichelnden, anderseits abgrundtief diabolischen bass zieht als mefistofele alle register des üblen menschenverführers und joseph calleja mit seinem strahlenden tenor ist kein naiver verdammter, sondern ein verzweifelt suchender. mit dieser traumbesetzung der beiden hauptrollen (die frauen um kristine opolais können nicht mithalten) inszeniert roland schwab arrigo boitos "mefistofele" von 1868 an der bayerischen staatsoper als apokalyptisches musical, deftig und doch differenziert. und omer meir wellber dirigiert das staatsorchester ebenso präzis wie lustvoll durch die hölle, die feger temporeich, die weniger ausgegorenen melodien der partitur geradezu quälerisch langsam auskostend. boitos werk wird hier ausgesprochen ernst genommen: es ist bei allem vordergründig-furiosen spektakel eine bildintensive meditation über die hölle in uns allen. so landet faust im vierten akt nicht im sonnentrunkenen griechenland, sondern unter papierschiffchen faltenden dementen im altersasyl. ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle hoffnung fahren.

Sonntag, 4. Oktober 2015

LUZERN: GISELLE UND DAS WILDE NONNENBALLETT

albrecht, ein junger herzog, und giselle, ein mädchen vom land, verlieben sich, etwas läuft schief, sie zerbricht, stirbt und landet, im zweiten akt, bei den geistern der unglücklichen jungfrauen. oh gott oh gott, so was geht natürlich gar nicht mehr. allerdings hat adolphe adam dazu 1841 die allersüffigste ballettmusik komponiert, den romantischen tanzklassiker schlechthin, marzipan für die ohren. irgendwie ist „giselle“ also doch pflichtstoff für die tanztheater dieser welt. der spanische choreograf gustavo ramirez sansano zieht sich aus der affäre, indem er am luzerner theater zur romantischen tonspur (das sinfonieorchester unter boris schäfer in bestlaune) völlig neue bilder erfindet: giselle als junge journalistin (rachel lawrence), albrecht als ihr chefredaktor (anton rosenberg), der alltag im verlagshaus der 60er-jahre ein unerschöpfliches slapstick-gewusel. unglaublich wendige körper versuchen sich aus den gesellschaftlichen konventionen freizustrampeln. viel bewegung, viel tempo, viel witz, eine wonne. überraschende bilanz zur pause: funktioniert erstaunlich gut, diese kombination von romantischen ohrwürmern und neuzeitlichem büroleben. und dann haut ramirez sansano noch einen drauf, was keinen zweifel daran lässt, dass er sowohl katholisch sozialisiert wie auch katholisch traumatisiert wurde: die unglücklichen jungfrauen des zweiten aktes mutieren bei ihm – almodóvar lässt grüssen – zu einem wildgewordenen haufen mehrheitlich männlicher klosterfrauen, beinespreizend und bösartig, gierig und diabolisch den prior umgarnend, ein nonnenballett der anderen art. kein wunder, dass giselle in diesem kloster bleiben will und ihren vitaminarmen chefredaktor ziehen lässt. gehobener klamauk statt originaler kitsch, lautet die devise. das luzerner theater leistet sich damit ein echt perlendes spässchen.