Freitag, 31. Juli 2015

MÜNCHEN: WENN DIE HARFE FLÖTEN GEHT

die idee ist schon hübsch. die pasinger fabrik, ein multikulti-kulturzentrum in der vorstadt, verwandelt sich im sommer regelmässig in „münchens kleinstes opernhaus“. in der wagenhalle (kleiner als ein handballfeld) spielen sie dann zu sprizz und weissbier grosse oper, dieses jahr 36 mal „rusalka“ von antonin dvorak. andreas pascal heinzmann, der musikalische leiter, schrieb die partitur um für ein zehnköpfiges orchesterchen. da geht einiges flöten, zum beispiel die für diese oper nicht unentscheidende harfe (wird durch streicher-pizzicato ersetzt). dafür werden instrumental-soli viel plastischer als im grossen orchestergraben. und dann: die stimmen! keine spur mehr von kleinstem opernhaus, sondern eine von a bis z wuchtige besetzung. die japanische sopranistin ikumu mizushima gibt der wassernixe rusalka, die aus liebe zu einem prinzen auf ihr element verzichtet und dann an den intrigen der menschen scheitert, sowohl stimmlich als auch darstellerisch eine grossartige tiefe. die kälte des mondes, den die inszenierung von julia dippel gross ins zentrum der kleinen bühne rückt, erfasst diese wasserfrau zunehmend und – weil wir so nahe dran sitzen – sichtbar. der prinz stirbt in ihren armen und beinahe auch in unseren. der zauber von dvoraks überaus vielschichtiger märchenmusik berührt gerade auch in dieser neuen, reduzierten dimension. münchens kleinstes opernhaus, allerliebst.

Dienstag, 28. Juli 2015

MÜNCHEN: DON CARLO

im nachthemd sitzt der spanische könig auf der bettkante, unruhig, fassungslos, allein. er beklagt, dass seine frau ihn nicht liebt, nie geliebt hat, weil sie schon vor ihrer politisch motivierten vernunftehe seinem sohn carlo zugeneigt war. er beklagt, er jammert, steht auf, legt sich wieder hin, wälzt sich verzweifelt auf dem bett. zwischendurch packt er die prächtige purpurrote königsrobe, wohl in der hoffnung, dieses äusserliche zeichen seiner macht möge ihm halt geben in seinem privaten unglück, und lässt sie wieder fallen. rené pape singt diesen philipp II. hinreissend und spielt berührend: "ella giammai m'amò." weil diese intimen momente, die die menschen hinter den königlichen und kirchlichen macht- und drohkulissen zeigen, so präzis gearbeitet sind, entfaltet jürgen roses inszenierung von verdis "don carlo" an der bayerischen staatsoper immer noch eine enorme kraft, obwohl seit der première 15 jahre vergangen und längst andere sänger im einsatz sind. auch die bühne erweist sich als zeitlos: ein dunkler, sich nach hinten arg verengender raum wird zum kerker für alle menschlichen regungen, ein raum zum ersticken. einen ähnlich intensiven eindruck wie rené pape hinterliess in unserer vorstellung auch der italienische bariton simone piazzola als posa, der mitfühlende freund und vermittler. die übrigen stimmen (alfred kim als don carlo, anja harteros als elisabetta, anna smirnova als eboli) sind für sich alle hochkarätig, wollten aber unter der leitung von asher fisch kein rundes ganzes ergeben. was man bei einer aufführung im rahmen der opernfestspiele und entsprechenden preisen doch eigentlich erwarten dürfte.

Sonntag, 26. Juli 2015

MÜNCHEN: TOT ZIENS JOHAN

jetzt geht er also zurück nach holland, johan simons, während fünf jahren intendant und zuvor bereits regisseur an den münchner kammerspielen. tot ziens johan, steht über dem bühnenportal, leb wohl. an seinem letzten abend spielen die stars seines ensembles noch einmal seinen "hiob". es ist die 80. vorstellung seit der première im april 2008. und weil sie ein aussergewöhnliches ensemble sind, erreichen sie auch in dieser 80. vorstellung eine spannung und eine emotionalität und eine poesie, als wär's die première. es ist auch ihr letzter abend und sie bezeugen damit ganz trefflich, was simons in seinem abschiedsinterview mit der "süddeutschen zeitung" zur rolle des deutschen stadttheaters und seiner zukunft gesagt hat: "das theater hat eine ungeheure kraft, weil es alle disziplinen in sich vereinen kann. damit steht es mitten in der welt. und es ist live, das ist in diesen digitalen zeiten eine nicht zu unterschätzende qualität." das publikum bedankt sich für diese ungeheure kraft und die vielen magischen momente mit einer standing ovation. die simons-truppe, am schluss vollständig auf der bühne versammelt, applaudiert zurück. tot ziens.

Mittwoch, 8. Juli 2015

FRANKFURT: DON GIOVANNI, VOM ENDE HER

don giovanni ist müde geworden. er geht langsam, leicht gebückt, setzt sich immer wieder hin und braucht gegen ende einen stock. und durchaus synchron bröckelt auch das barocke palais, wo er lebt. die frühere pracht lässt sich noch erahnen, so wie die feurigen blicke die einstige leidenschaft des grossen verführers immer wieder durchschimmern lassen. mit seinem wunderbar beweglichen, hellen bariton gelingt dem jungen daniel schmutzhard das sowohl stimmlich wie darstellerisch eindrückliche porträt eines alternden mannes: dieser don giovanni erobert nicht mehr, sondern – wie alfred döblin das formuliert hat – er lacht über seine natur. er geistert gleichsam durch rückblenden. christof loy arbeitet in seiner inszenierung an der oper frankfurt mit raffinierten kontrasten: je fahler der titelheld unter seiner blondgrauen mähne wird, desto mehr farbe und leben gewinnen die anderen figuren. don giovannis opfer, die frauen und indirekt auch die männer, werden zu einer quirligen schicksalsgemeinschaft und emanzipieren sich von takt zu takt mehr. eine schicksalsgemeinschaft sind sie bei unserem besuch auch aus einem anderen grund: karsten januschke dirigiert sich dermassen lustvoll durch den höllischen melodienreigen, dass ihm die koordination zwischen orchestergraben und bühne immer wieder entgleitet. trotz vielen kraft- und gefühlvollen stimmen also keine tonspur für die ewigkeit. umso nachhaltiger wirken einzelne bilder, einzelne szenen: ein erotisches tableau, vom ende her gedacht.

Dienstag, 7. Juli 2015

FRANKFURT: DER ROSENKAVALIER

wer an den „rosenkavalier“ von hugo von hofmannsthal und richard strauss denkt, hat immer gleich die bilder im kopf parat: putzige rokoko-interieurs, puder, perücken, parfümierte parvenus. claus guth (regie) und christian schmidt (bühne) wählen an der oper frankfurt einen anderen ansatz für das spiel um werden und vergehen der liebe: das café sperl in der gumpendorfer strasse in wien, wo das dunkle holz und die düstergelben wände noch heute schwer das ausgehende 19.jahrhundert atmen, inspirierte die beiden zu einem beklemmenden sanatorium, melancholie total. hier ist die feldmarschallin patientin, unheilbar, ihre mésalliance mit dem 17jährigen oktavian scheint in weiter ferne, sie gönnt ihm sein leben, sie hilft ihm zu seiner sophie, denn ihre zukunft heisst alter, nicht jugend: „man ist dazu da, dass man’s ertragt. und in dem ‚wie‘ da liegt der ganze unterschied.“ amanda majeski ist für die rolle der marschallin eigentlich zu jung – und doch eine traumbesetzung: keine verbitterte frau eben, sondern eine weise und offene, die das leben liebt und strauss‘ hinreissender melodienfülle mit lodernder, leichter stimme alles, wirklich alles abgewinnt, das komödiantische und das tiefschürfende. auch die anderen hauptrollen sind toll besetzt (paula murrihy, christiane karg, bjarni thor kristinsson), doch ihr gehört dieser abend: die ganze oper wird – musikalisch und szenisch absolut konsequent – zu einem einzigen rückzug, einem abschied mit grösse und stil. am ende, wenn sich die zwei jungen liebenden definitiv gefunden haben, wendet sich die marschallin dezent ab, legt sich aufs klinikbett und lässt los. die vergänglichkeit überholt die zeit. ein kleines mädchen findet sie zum schlussakkord, kalt.

Samstag, 4. Juli 2015

ZÜRICH: GIANNA UND DIE RÜSTIGEN RENTNER

die dame gehört nicht mehr zu den jüngsten. die dame sollte bei 31 grad am schatten eigentlich keinen hochleistungssport mehr betreiben. die dame ist 61. sie trägt ein weisses t-shirt mit der aufschrift „sex, roll, rock, drugs“. sie trägt dieses t-shirt zu einer edlen olivfarbenen trainingshose mit weissen streifen und einer jacke aus rotem leder oder eher kunstleder. das würde bei jeder anderen frau in diesem alter peinlich wirken. nicht bei gianna nannini. sie ist so was von fit und so was von gut drauf an diesem traumhaften abend beim „live at sunset“ im zürcher dolder. ciao a tutti, sagt sie, wie eh und je, und legt dann los: i maschi innamorati, io senza te, latin lover, oh marinaio, profumo, america, bello e impossibile. es sind die songs, mit denen frau nannini das publikum durch die vergangenen vier (!)  jahrzehnte begleitet hat – und dies mit einer beachtlichen erfolgsquote: viele rüstige rentner summen und pfeifen und klatschen und stampfen mit, was das zeug hält, und retten ihre wilde vergangenheit in eine immerhin noch halbwilde gegenwart. älter werden mit gianna, nicht das schlechteste programm. power und poesie, nicht der schlechteste mix. immer wieder zwinkert sie jemandem zu, scherzhaft, herzlich, wie unter alten freunden. alles stimmt an diesem abend, und deshalb schreckt sie auch vor den grössten schnulzen nicht zurück: „volare“, mit dem domenico modugno 1958 am festival von sanremo abgeräumt hat, italien ist überall, volare con tutti, nel blu dipinto di blu.

Freitag, 3. Juli 2015

GISWIL: HUISSOSSÄ UND MAGISCHE MOMENTE

am anfang waren alle skeptisch. die, die’s organisiert hatten. und die, die gar nicht anders können. doch das volkskulturfest „obwald“ auf der gsang-lichtung bei giswil wurde schneller als erwartet ein voller erfolg und gehört mittlerweile zu den sommerlichen musts. auf dem parkplatz autonummern aus luzern, solothurn, zürich, basel und deutschland - und im publikum sieht man jetzt, beim zehn-jahr-jubiläum, sogar die eine und den anderen obwaldner, die anfänglich gar nicht anders konnten als skeptisch-sein. gut so. weiter so. immer noch braucht’s für die speisekarte übersetzungshilfe: säimerwurscht und ruichbrot, essiggmiäs, huissossä (das ist kein einheimischer jodel, sondern die haussauce). lokales auf dem teller, globales auf der bühne: tamara riebli in obwaldner tracht und nguyen thi trung in vietnamesischer seide machen gemeinsam den anfang und dann, ja, sind sie alle wieder da zu diesem jubiläum, verteilt auf zwei wochenenden, die vietnamesen mit ihren saiten- und bambusinstrumenten, die familia bermudez aus andalusien, für deren flamenco-performance die bühne verstärkt werden muss, chimi wangmo aus bhutan, die appenzeller, die toggenburger, die greyerzer. sie wärmen die herzen. und wenn dann (welch klingende namen) omar bandinu, bachisio pira, marco serra und arcangelo pittudu bei vollmond zu ihren obertongesängen ansetzen, die von tierstimmen, von wind und wellen inspiriert sind, dann rührt das auch mal zu tränen. die vier sarden sind bekannt als tenores di bitti, ihre melodien gehören zu den immateriellen kulturgütern der unesco und sind hier im nächtlichen wald einfach einer von vielen magischen momenten.