Sonntag, 20. Dezember 2015

MÜNCHEN: PHILOKTET

das ist grosses schauspielertheater. drei männer, zwei stunden, ein konflikt. die schlacht um troja scheint odysseus nur noch mit dem überragenden bogenschützen philoktet für sich entscheiden zu können, doch den hat er wegen einer arg stinkenden wunde vor jahren kaltblütig ausgesetzt. also schickt er den unbelasteten jüngling neoptolemos vor, um den ausgesetzten für sich zurückzugewinnen. ein verhängnisvolles dreieck, eine zeitlose konstellation: ein machtmensch, ein aussenseiter, ein vermittler. das politische und das private überlagern sich allgegenwärtig. worte werden hier zu waffen – das beabsichtigte heiner müller in seiner sprachmächtigen zuspitzung von sophokles‘ „philoktet“ und das unterstreicht der bulgarische regisseur ivan panteleev mit seiner inszenierung am cuvilliéstheater der münchner residenz. worte sind waffen, ob geschleudert, gefeuert oder taktisch subtil und schleimerisch eingesetzt: sie verwunden und sie töten. shenja lacher (odysseus), aurel manthei (philoktet) und franz pätzold (neoptolemos) sind drei energiegeladene und hochpräzise schauspieler, die jedes wort auch körperlich umsetzen, ihm seine unmittelbare wirkung geben und sein nachhaltiges echo lassen, was durch den wunderbar leeren, nur mit daunenfedern bedeckten bühnenraum von johannes schütz eine zusätzliche dimension gewinnt. es zucken die worte, es zucken die gedanken, es zucken die gesichter. lauter monologe und dialoge und erst nach zwei stunden dann das finale terzett, wo sich die drei im stakkato konfrontativ und überlagernd vorhalten, was ihr jeweiliges handeln oder nicht handeln für individuelle oder politische konsequenzen nach sich ziehen wird. ein terzett der ohnmacht, ein terzett der ausweglosigkeit, ein terzett hin zum tod.

Freitag, 18. Dezember 2015

MÜNCHEN: DER SPIELER

vier clevere schulkinder lesen und spielen sequenzen aus dostojewskis „der spieler“. wie aus einer fernen, fremden welt. fünf schauspieler lesen und spielen ebenfalls szenen aus diesem roman. wie aus einer sehr nahen, sehr vertrauten welt, die vom geld getrieben wird und nur vom geld. was die kinder und die erwachsenen verbindet, sind mehrere dutzend umzugskartons: das symbol des unterwegsseins, des unbehaustseins, des suchens als bühnenbild und spielmaterial für grosse und kleine schauspieler, die sich immer wieder begegnen und spiegeln. christopher rüping zeigt in seiner inszenierung an den münchner kammerspielen eine annäherung an diese russische gesellschaft, die im fiktiven roulettenburg ultimativ dem glücksspiel verfällt und dabei geld und gefühle gleichermassen verjubelt. thomas schmauser in der titelrolle als privatlehrer mit casinodrang hat gefühlt alle zehn minuten eine schreiarie, einmal darf er – durchaus beeindruckend – auch tierstimmen imitieren; der weg des spielers in die verzweiflung und einsamkeit wird hier also permanent und penetrant akustisch markiert. dieser abend ist alles: brülltheater, dancefloortheater, videotheater, hüpfburgentheater. und dieser abend ist nichts: die figuren bleiben eindimensional, der diskurs und die atmosphäre auf der strecke, dostojewski verhackstückelt,  die regie findet keinen rhythmus. dieser abend ist alles und nichts, er ist mal erheiternd, oft ernüchternd und mit vielen längen vor allem auch sehr ermüdend. für die kinder gab´s am schluss herzlichen beifall, fürs regieteam üppig buhs. christopher rüping ist ab nächster spielzeit hausregisseur an den kammerspielen. mal sehen.

Mittwoch, 18. November 2015

MÜNCHEN: IVO

bastian, caroline, colin, daniel, irina, jonathan, maike, merlin, nurit, philipp. schöne namen. vier frauen, sechs männer, zwischen 21 und 27 jahre alt. sie sind der vierte jahrgang der otto-falckenberg-schule in münchen, abschlussklasse. sie sind die schauspielerinnen und schauspieler von morgen. ivo ist die abkürzung des grauens für alle schauspielschüler. ivo, intendantenvorsprechen. da sitzen sie dann, die theaterleiter und dramaturginnen und agenten, und glotzen und mustern und entscheiden über karrieren. die falckenberg-klasse gibt alles, poetisches und plakatives, koltès und kroetz, hofmannsthal und tschechow, allein und zu zweit. die ganze kunst und der ganze schweiss - wie immer beim ivo. doch etwas ist anders: die kammerspiele und der schweizer regisseur boris nikitin haben das vorsprechen dieses jahr zu einer öffentlichen veranstaltung gemacht, das vorsprechen findet vier oder fünf mal statt, mit publikum. beim anschliessenden gespräch neben der bühne wird schnell klar: dieses setting ist eine erlösung für die theaterklasse, weil der saal atmet und reagiert; es ist eine erleichterung für die beobachtenden profis, weil sie mit ihrer unangenehmen rolle in einer masse verschwinden können; es ist ein gewinn fürs publikum, das einen entscheidenden moment in einer schauspielerkarriere live miterleben kann. warum also ist dieses öffentliche vorsprechen die ausnahme, nicht die regel? und warum heisst eine veranstaltung, wo so viel bewegung und musik und emotion und kraft den raum füllt, vorsprechen?

Dienstag, 17. November 2015

MÜNCHEN: ROCCO UND SEINE BRÜDER

„im wohnzimmer der parondis“ steht in roter leuchtschrift auf halber bühnenhöhe oder „im boxclub“ oder „auf dem dach der kirche“. der rest: eine grosse, schwarze, meist leere bühne. der rest also: schauspielkunst – und phantasie des zuschauers, die durch keine umbaupause belästigt wird. so einfach erzählt simon stone, seit dieser spielzeit hausregisseur am theater basel, in den münchner kammerspielen jetzt den neorealismo-klassiker „rocco und seine brüder“ von luchino visconti. stone hat die geschichte der familie parondi, die aus dem armen süden in die grosse stadt im norden zieht, überschrieben: aus italien wird irgendwo, aus 1960 wird 2015, die fünf parondi-brüder sprechen eine sehr heutige, sehr schnelle sprache, alles ist emotional aufgeladen, der klassenkampf kennt keine nebensätze. trotz diesem tempo, trotz den harten schnitten gelingt es dem regisseur, seinen figuren pralles leben mitzugeben, sie zu entwickeln bei ihrem versuch, die vergangenheit hinter sich zu lassen. in der gegenwart dreht sich alles nur ums boxen und um die nutte nadia (wunderbar vielschichtig: brigitte hobmeier), die simone am schluss in seiner verzweiflung ermordet. fünf tolle schauspieler, vier davon neu an den kammerspielen, lassen das traditionelle familienbild und die hochtrabenden zukunftspläne sehr plastisch und sehr rasant ins wanken geraten: „diese stadt bringt uns um.“ aus den zuzüglern wird die neue unterschicht. die migrationsdebatte hat ihr déjà vu.

Donnerstag, 12. November 2015

MÜNCHEN: POLT, POLTER, POLTERABEND

die nürnberger gesellschaft für konsumforschung (gfk) ermittelte die häufigsten gründe für streit unter nachbarn in deutschland: ruhestörender lärm, missachtete nachbarpflichten (treppenhausreinigung usw.), stinkende/dreckige/laute haustiere, unfreundlichkeit, störende besucher, lästiger zigarettenrauch, verdreckte gemeinschaftsräume. welches gewicht dieser kleinkrieg im alltag der deutschen hat, welche bedeutung für die befindlichkeit dieser nation, wird erst dadurch vollumfänglich klar, dass gerhard polt ihm ein abendfüllendes programm widmet! zweieinhalb stunden über nachbarschaftsstreitereien!! an den münchner kammerspielen, dem theater der ganz grossen themen und konzepte!!! „ekzem homo“ heisst die veranstaltung, der mensch als plage. kulminationspunkt der poltschen volkskunde ist der satz: „um einen anderen umzubringen, muss man ja nicht zwangsläufig religiös sein.“ vereint mit seinen nach wie vor brillanten musikantenkumpeln, den well-brüdern aus dem biermoos, kämpft sich polt durch laubbläser- und grillrauchattacken, die kleingeistigkeit der ortsfeuerwehr bekommt ihr fett ab, die kleingeistigkeit der laientheatergruppe, die kleingeistigkeit der csu und die kleingeistigkeit der katholischen kirche. immer auch liebevoll augenzwinkernd, immer auch mit hundert gramm philosophie, wobei ihm der gute alte nestroy pate stand: der mensch an und für sich ist gut, aber die leut´ sind ein gesindel. die zahl der nachbarschaftsverfahren vor deutschen gerichten wächst. mag sein, dass man als nicht-deutscher die ultimative brisanz der thematik nicht wirklich nachvollziehen kann oder will, doch auch die scharfe beobachtung des rest-publikums lässt kaum zweifel an der gesamtbilanz: der polt war auch schon polter.

Dienstag, 10. November 2015

MÜNCHEN: MÜNCHEN!

"solange die eltern am leben sind, sollst du keine weiten reisen unternehmen." (konfuzius)

Samstag, 31. Oktober 2015

LUZERN: SWEENEY TODD

klamauk. sagt eine alt nationalrätin in der pause. klamauk. die dame hat recht. der barbier benjamin barker alias sweeney todd bringt im düsteren london seinen konkurrenten adolfo pirelli um, er bringt den büttel bamford um, er bringt eine bettlerin um, er bringt den richter turpin um und dann verliert man den überblick. er bringt sie alle aus rache um, weil er zu unrecht 15 jahre verbannt wurde. und mrs. lovett, die bäckerin seines vertrauens, macht aus den leichen seiner opfer köstliche fleischpasteten, best of fleet street. so weit, so schlecht. leider hat stephen sondheim aus diesem stoff 1979 ein musical gemacht, das leider immer noch gespielt wird. zum beispiel jetzt am luzerner theater. regisseur johannes pölzgutter und dirigent florian pestell unternehmen den verzweifelten versuch, aus diesem groschenroman quasi grosse oper zu machen. ohne erfolg. zu einem musical gehören nun mal ein paar eingängige melodien, doch die wollten dem komponisten partout nicht einfallen. stattdessen: ohne unterbruch aggressive, grelle tonfetzen, zu denen die kultivierten stimmen des luzerner opernensembles so gar nicht passen wollen. alles absicht? „sozialkritisch“ sei das ganze und voll von „tiefschwarzem humor“, stand irgendwo. ein scharfes rasiermesser und ein paar pasteten aus menschenfleisch, nun ja, dieser humor reicht einfach doch nicht ganz für drei abgrundtief beschwingte stunden. es gibt zwei sorten von klamauk: gehobenen und überflüssigen.

Sonntag, 25. Oktober 2015

MÜNCHEN: MEFISTOFELE

ausgelassene jahrmarktstimmung, singen und tanzen auf bänken und tischen. doch dann: ein feuerball, ein knall, die menschen liegen regungslos auf und neben den tischen. in den sesseln des karussels im hintergrund baumeln jetzt leichen. mefistofele bahnt sich einen weg durch diese trümmerlandschaft, nähert sich faust und seinem gefährten mit einem oktoberfest-lebkuchenherz: i mog di. die elysischen chöre knattern nur noch vom alten grammophon, das göttliche reich eine vision aus der vergangenheit, der himmel flimmert als schwarz-weiss-reminiszenz über die leinwand. willkommen in der hölle. i mog di, faust. rené pape mit seinem einerseits weich schmeichelnden, anderseits abgrundtief diabolischen bass zieht als mefistofele alle register des üblen menschenverführers und joseph calleja mit seinem strahlenden tenor ist kein naiver verdammter, sondern ein verzweifelt suchender. mit dieser traumbesetzung der beiden hauptrollen (die frauen um kristine opolais können nicht mithalten) inszeniert roland schwab arrigo boitos "mefistofele" von 1868 an der bayerischen staatsoper als apokalyptisches musical, deftig und doch differenziert. und omer meir wellber dirigiert das staatsorchester ebenso präzis wie lustvoll durch die hölle, die feger temporeich, die weniger ausgegorenen melodien der partitur geradezu quälerisch langsam auskostend. boitos werk wird hier ausgesprochen ernst genommen: es ist bei allem vordergründig-furiosen spektakel eine bildintensive meditation über die hölle in uns allen. so landet faust im vierten akt nicht im sonnentrunkenen griechenland, sondern unter papierschiffchen faltenden dementen im altersasyl. ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle hoffnung fahren.

Sonntag, 4. Oktober 2015

LUZERN: GISELLE UND DAS WILDE NONNENBALLETT

albrecht, ein junger herzog, und giselle, ein mädchen vom land, verlieben sich, etwas läuft schief, sie zerbricht, stirbt und landet, im zweiten akt, bei den geistern der unglücklichen jungfrauen. oh gott oh gott, so was geht natürlich gar nicht mehr. allerdings hat adolphe adam dazu 1841 die allersüffigste ballettmusik komponiert, den romantischen tanzklassiker schlechthin, marzipan für die ohren. irgendwie ist „giselle“ also doch pflichtstoff für die tanztheater dieser welt. der spanische choreograf gustavo ramirez sansano zieht sich aus der affäre, indem er am luzerner theater zur romantischen tonspur (das sinfonieorchester unter boris schäfer in bestlaune) völlig neue bilder erfindet: giselle als junge journalistin (rachel lawrence), albrecht als ihr chefredaktor (anton rosenberg), der alltag im verlagshaus der 60er-jahre ein unerschöpfliches slapstick-gewusel. unglaublich wendige körper versuchen sich aus den gesellschaftlichen konventionen freizustrampeln. viel bewegung, viel tempo, viel witz, eine wonne. überraschende bilanz zur pause: funktioniert erstaunlich gut, diese kombination von romantischen ohrwürmern und neuzeitlichem büroleben. und dann haut ramirez sansano noch einen drauf, was keinen zweifel daran lässt, dass er sowohl katholisch sozialisiert wie auch katholisch traumatisiert wurde: die unglücklichen jungfrauen des zweiten aktes mutieren bei ihm – almodóvar lässt grüssen – zu einem wildgewordenen haufen mehrheitlich männlicher klosterfrauen, beinespreizend und bösartig, gierig und diabolisch den prior umgarnend, ein nonnenballett der anderen art. kein wunder, dass giselle in diesem kloster bleiben will und ihren vitaminarmen chefredaktor ziehen lässt. gehobener klamauk statt originaler kitsch, lautet die devise. das luzerner theater leistet sich damit ein echt perlendes spässchen.

Sonntag, 27. September 2015

MÜNCHEN: LULU, LABYRINTHISCH

ein labyrinth aus glas verstellt die riesige bühne der bayerischen staatsoper. darin tanzend und taumelnd: die gesellschaft. alkohol, geld, triebe, kampf der geschlechter, die gesamte choreographie des lebens. davor, auf knappstem raum an der rampe, ein paar quadratmeter nur und ein paar stühle, lässt dmitri tcherniakov die tragödie der lulu spielen, "die tragödie von der gehetzten frauenanmut" nannte sie karl kraus. dieses fragile kabinett ist als visuelles konzept ebenso überzeugend (lulus lust, leidenschaft und leiden als spiegelbild der wirklichkeit) wie für die dauer von vier stunden doch eher redundant und in seiner räumlichen beschränktheit ermüdend. die dramatische wucht des abends, seine sprengkraft, entwickelt sich umso mehr im orchestergraben: kirill petrenko zieht das bayerische staatsorchester - wieder einmal - in einen sog. die todbringende schönheit lulus, die projektionen der ihr verfallenen männer, das alptraumhafte der beziehungen, zeugung und zerstörung - alles, was in alban bergs komplexer melodik angelegt ist, voller dynamik und dunklem zauber, wird hier aufs prächtigste ausgestaltet und zu einem musikalischen rausch gesteigert. marlis petersen als lulu und bo skovhus als dr. schön und jack the ripper bringen stimmlich genau das mit, was die partitur und die rollen von ihnen fordern: das obsessive, im anziehenden wie im abstossenden, das lang anhaltend obsessive. alle lust will ewigkeit.

Donnerstag, 24. September 2015

ZÜRICH: MANN/FRAU

"die welt ist wieder männlicher geworden, wir brauchen eine neue feministische welle." stephan kimmig, 56, regisseur, der am zürcher schauspielhaus zurzeit schillers "jungfrau von orleans" inszeniert (im "tages-anzeiger").

Samstag, 12. September 2015

LUGANO: EIN HERZ AUS GRANIT UND BIRNBAUMHOLZ

das kkl sei das vorbild gewesen für ihr lac (lugano arte e cultura), sagen die luganesi gerne. da muss man als luzerner schon mal kurz vorbeischauen. lugano im mildesten herbstlicht, giornata dell'inaugurazione. "il lac è il nuovo cuore pulsante di lugano, crocevia culturale tra il nord e il sud dell'europa." das pulsierende herz besteht zunächst einmal aus viel grünem granit (aussen) und viel birnbaumholz (innen). den granit und das holz kombiniert der tessiner architekt ivano gianola oft und nicht immer nachvollziehbar mit metall und/oder glas, dazu da ein kühnes fenster und dort ein labyrinthischer korridor. nur: kein durchgängiges konzept, keine klare geste. der birnbaumholz-konzertsaal atmet den kühl-abweisenden charme der grossen halle des volkes in peking. für 210 millionen hätte das lac ja durchaus auch ein wurf werden können. immerhin: die lage am see, die tolle piazza, die ins ensemble integriert ist, und das grosszügige, lichtdurchflutete atrium haben das potenzial, das lac tatsächlich zum treffpunkt und zur crocevia culturale werden zu lassen. am ersten tag fühlen sich die luganesi zwischen granit und nino rota und birnbaumholz und gioacchino rossini ganz offenkundig sehr wohl. erste anzeichen einer herzensangelegenheit. das wäre dann die wirkliche parallele zum kkl in luzern.

Sonntag, 2. August 2015

MÜNCHEN: MORE THAN NAKED

so unerotisch kann tanz sein. so unerotisch kann nacktheit sein. für „more than naked“ lässt die österreichische choreographin doris uhlich in der münchner muffathalle zu dancefloor-hits und barockmusik 19 splitternackte tänzerinnen und tänzer eine gute stunde lang ihre brüste und hintern, ihre pimmel und oberschenkel schwingen und wabeln und wabern und wabbeln und wabbern. leute, freut euch an euren körpern, auch wenn da und dort ein paar pfunde zu viel dran hängen – das soll wohl die botschaft sein. „körperdiskurs“ (programmheft) tönt natürlich besser und mag die eine und den anderen durchaus inspirieren. unter dem strich allerdings bleibt mehr transpiration als inspiration: da werden pyramiden gebaut wie bei grossvater im turnverein, einfach textilfrei. da werden schwitzende körper aufeinander losgelassen, dass es flutscht und spritzt und knackt. ziemlich anstrengend für die tänzer, ziemlich anstrengend fürs publikum. und obwohl es hier offensichtlich um lebenslust und lebenskraft geht, erinnern gewisse partien, wenn das ensemble sich zäh am boden wälzt, an leichenberge. die bedeutungsschwangeren leerstellen, die immer wieder zwischengeschaltet werden, sind vor allem leerstellen. und die muffathalle war früher ein kraftwerk, keine metzgerei.

Freitag, 31. Juli 2015

MÜNCHEN: WENN DIE HARFE FLÖTEN GEHT

die idee ist schon hübsch. die pasinger fabrik, ein multikulti-kulturzentrum in der vorstadt, verwandelt sich im sommer regelmässig in „münchens kleinstes opernhaus“. in der wagenhalle (kleiner als ein handballfeld) spielen sie dann zu sprizz und weissbier grosse oper, dieses jahr 36 mal „rusalka“ von antonin dvorak. andreas pascal heinzmann, der musikalische leiter, schrieb die partitur um für ein zehnköpfiges orchesterchen. da geht einiges flöten, zum beispiel die für diese oper nicht unentscheidende harfe (wird durch streicher-pizzicato ersetzt). dafür werden instrumental-soli viel plastischer als im grossen orchestergraben. und dann: die stimmen! keine spur mehr von kleinstem opernhaus, sondern eine von a bis z wuchtige besetzung. die japanische sopranistin ikumu mizushima gibt der wassernixe rusalka, die aus liebe zu einem prinzen auf ihr element verzichtet und dann an den intrigen der menschen scheitert, sowohl stimmlich als auch darstellerisch eine grossartige tiefe. die kälte des mondes, den die inszenierung von julia dippel gross ins zentrum der kleinen bühne rückt, erfasst diese wasserfrau zunehmend und – weil wir so nahe dran sitzen – sichtbar. der prinz stirbt in ihren armen und beinahe auch in unseren. der zauber von dvoraks überaus vielschichtiger märchenmusik berührt gerade auch in dieser neuen, reduzierten dimension. münchens kleinstes opernhaus, allerliebst.

Dienstag, 28. Juli 2015

MÜNCHEN: DON CARLO

im nachthemd sitzt der spanische könig auf der bettkante, unruhig, fassungslos, allein. er beklagt, dass seine frau ihn nicht liebt, nie geliebt hat, weil sie schon vor ihrer politisch motivierten vernunftehe seinem sohn carlo zugeneigt war. er beklagt, er jammert, steht auf, legt sich wieder hin, wälzt sich verzweifelt auf dem bett. zwischendurch packt er die prächtige purpurrote königsrobe, wohl in der hoffnung, dieses äusserliche zeichen seiner macht möge ihm halt geben in seinem privaten unglück, und lässt sie wieder fallen. rené pape singt diesen philipp II. hinreissend und spielt berührend: "ella giammai m'amò." weil diese intimen momente, die die menschen hinter den königlichen und kirchlichen macht- und drohkulissen zeigen, so präzis gearbeitet sind, entfaltet jürgen roses inszenierung von verdis "don carlo" an der bayerischen staatsoper immer noch eine enorme kraft, obwohl seit der première 15 jahre vergangen und längst andere sänger im einsatz sind. auch die bühne erweist sich als zeitlos: ein dunkler, sich nach hinten arg verengender raum wird zum kerker für alle menschlichen regungen, ein raum zum ersticken. einen ähnlich intensiven eindruck wie rené pape hinterliess in unserer vorstellung auch der italienische bariton simone piazzola als posa, der mitfühlende freund und vermittler. die übrigen stimmen (alfred kim als don carlo, anja harteros als elisabetta, anna smirnova als eboli) sind für sich alle hochkarätig, wollten aber unter der leitung von asher fisch kein rundes ganzes ergeben. was man bei einer aufführung im rahmen der opernfestspiele und entsprechenden preisen doch eigentlich erwarten dürfte.

Sonntag, 26. Juli 2015

MÜNCHEN: TOT ZIENS JOHAN

jetzt geht er also zurück nach holland, johan simons, während fünf jahren intendant und zuvor bereits regisseur an den münchner kammerspielen. tot ziens johan, steht über dem bühnenportal, leb wohl. an seinem letzten abend spielen die stars seines ensembles noch einmal seinen "hiob". es ist die 80. vorstellung seit der première im april 2008. und weil sie ein aussergewöhnliches ensemble sind, erreichen sie auch in dieser 80. vorstellung eine spannung und eine emotionalität und eine poesie, als wär's die première. es ist auch ihr letzter abend und sie bezeugen damit ganz trefflich, was simons in seinem abschiedsinterview mit der "süddeutschen zeitung" zur rolle des deutschen stadttheaters und seiner zukunft gesagt hat: "das theater hat eine ungeheure kraft, weil es alle disziplinen in sich vereinen kann. damit steht es mitten in der welt. und es ist live, das ist in diesen digitalen zeiten eine nicht zu unterschätzende qualität." das publikum bedankt sich für diese ungeheure kraft und die vielen magischen momente mit einer standing ovation. die simons-truppe, am schluss vollständig auf der bühne versammelt, applaudiert zurück. tot ziens.

Mittwoch, 8. Juli 2015

FRANKFURT: DON GIOVANNI, VOM ENDE HER

don giovanni ist müde geworden. er geht langsam, leicht gebückt, setzt sich immer wieder hin und braucht gegen ende einen stock. und durchaus synchron bröckelt auch das barocke palais, wo er lebt. die frühere pracht lässt sich noch erahnen, so wie die feurigen blicke die einstige leidenschaft des grossen verführers immer wieder durchschimmern lassen. mit seinem wunderbar beweglichen, hellen bariton gelingt dem jungen daniel schmutzhard das sowohl stimmlich wie darstellerisch eindrückliche porträt eines alternden mannes: dieser don giovanni erobert nicht mehr, sondern – wie alfred döblin das formuliert hat – er lacht über seine natur. er geistert gleichsam durch rückblenden. christof loy arbeitet in seiner inszenierung an der oper frankfurt mit raffinierten kontrasten: je fahler der titelheld unter seiner blondgrauen mähne wird, desto mehr farbe und leben gewinnen die anderen figuren. don giovannis opfer, die frauen und indirekt auch die männer, werden zu einer quirligen schicksalsgemeinschaft und emanzipieren sich von takt zu takt mehr. eine schicksalsgemeinschaft sind sie bei unserem besuch auch aus einem anderen grund: karsten januschke dirigiert sich dermassen lustvoll durch den höllischen melodienreigen, dass ihm die koordination zwischen orchestergraben und bühne immer wieder entgleitet. trotz vielen kraft- und gefühlvollen stimmen also keine tonspur für die ewigkeit. umso nachhaltiger wirken einzelne bilder, einzelne szenen: ein erotisches tableau, vom ende her gedacht.

Dienstag, 7. Juli 2015

FRANKFURT: DER ROSENKAVALIER

wer an den „rosenkavalier“ von hugo von hofmannsthal und richard strauss denkt, hat immer gleich die bilder im kopf parat: putzige rokoko-interieurs, puder, perücken, parfümierte parvenus. claus guth (regie) und christian schmidt (bühne) wählen an der oper frankfurt einen anderen ansatz für das spiel um werden und vergehen der liebe: das café sperl in der gumpendorfer strasse in wien, wo das dunkle holz und die düstergelben wände noch heute schwer das ausgehende 19.jahrhundert atmen, inspirierte die beiden zu einem beklemmenden sanatorium, melancholie total. hier ist die feldmarschallin patientin, unheilbar, ihre mésalliance mit dem 17jährigen oktavian scheint in weiter ferne, sie gönnt ihm sein leben, sie hilft ihm zu seiner sophie, denn ihre zukunft heisst alter, nicht jugend: „man ist dazu da, dass man’s ertragt. und in dem ‚wie‘ da liegt der ganze unterschied.“ amanda majeski ist für die rolle der marschallin eigentlich zu jung – und doch eine traumbesetzung: keine verbitterte frau eben, sondern eine weise und offene, die das leben liebt und strauss‘ hinreissender melodienfülle mit lodernder, leichter stimme alles, wirklich alles abgewinnt, das komödiantische und das tiefschürfende. auch die anderen hauptrollen sind toll besetzt (paula murrihy, christiane karg, bjarni thor kristinsson), doch ihr gehört dieser abend: die ganze oper wird – musikalisch und szenisch absolut konsequent – zu einem einzigen rückzug, einem abschied mit grösse und stil. am ende, wenn sich die zwei jungen liebenden definitiv gefunden haben, wendet sich die marschallin dezent ab, legt sich aufs klinikbett und lässt los. die vergänglichkeit überholt die zeit. ein kleines mädchen findet sie zum schlussakkord, kalt.

Samstag, 4. Juli 2015

ZÜRICH: GIANNA UND DIE RÜSTIGEN RENTNER

die dame gehört nicht mehr zu den jüngsten. die dame sollte bei 31 grad am schatten eigentlich keinen hochleistungssport mehr betreiben. die dame ist 61. sie trägt ein weisses t-shirt mit der aufschrift „sex, roll, rock, drugs“. sie trägt dieses t-shirt zu einer edlen olivfarbenen trainingshose mit weissen streifen und einer jacke aus rotem leder oder eher kunstleder. das würde bei jeder anderen frau in diesem alter peinlich wirken. nicht bei gianna nannini. sie ist so was von fit und so was von gut drauf an diesem traumhaften abend beim „live at sunset“ im zürcher dolder. ciao a tutti, sagt sie, wie eh und je, und legt dann los: i maschi innamorati, io senza te, latin lover, oh marinaio, profumo, america, bello e impossibile. es sind die songs, mit denen frau nannini das publikum durch die vergangenen vier (!)  jahrzehnte begleitet hat – und dies mit einer beachtlichen erfolgsquote: viele rüstige rentner summen und pfeifen und klatschen und stampfen mit, was das zeug hält, und retten ihre wilde vergangenheit in eine immerhin noch halbwilde gegenwart. älter werden mit gianna, nicht das schlechteste programm. power und poesie, nicht der schlechteste mix. immer wieder zwinkert sie jemandem zu, scherzhaft, herzlich, wie unter alten freunden. alles stimmt an diesem abend, und deshalb schreckt sie auch vor den grössten schnulzen nicht zurück: „volare“, mit dem domenico modugno 1958 am festival von sanremo abgeräumt hat, italien ist überall, volare con tutti, nel blu dipinto di blu.

Freitag, 3. Juli 2015

GISWIL: HUISSOSSÄ UND MAGISCHE MOMENTE

am anfang waren alle skeptisch. die, die’s organisiert hatten. und die, die gar nicht anders können. doch das volkskulturfest „obwald“ auf der gsang-lichtung bei giswil wurde schneller als erwartet ein voller erfolg und gehört mittlerweile zu den sommerlichen musts. auf dem parkplatz autonummern aus luzern, solothurn, zürich, basel und deutschland - und im publikum sieht man jetzt, beim zehn-jahr-jubiläum, sogar die eine und den anderen obwaldner, die anfänglich gar nicht anders konnten als skeptisch-sein. gut so. weiter so. immer noch braucht’s für die speisekarte übersetzungshilfe: säimerwurscht und ruichbrot, essiggmiäs, huissossä (das ist kein einheimischer jodel, sondern die haussauce). lokales auf dem teller, globales auf der bühne: tamara riebli in obwaldner tracht und nguyen thi trung in vietnamesischer seide machen gemeinsam den anfang und dann, ja, sind sie alle wieder da zu diesem jubiläum, verteilt auf zwei wochenenden, die vietnamesen mit ihren saiten- und bambusinstrumenten, die familia bermudez aus andalusien, für deren flamenco-performance die bühne verstärkt werden muss, chimi wangmo aus bhutan, die appenzeller, die toggenburger, die greyerzer. sie wärmen die herzen. und wenn dann (welch klingende namen) omar bandinu, bachisio pira, marco serra und arcangelo pittudu bei vollmond zu ihren obertongesängen ansetzen, die von tierstimmen, von wind und wellen inspiriert sind, dann rührt das auch mal zu tränen. die vier sarden sind bekannt als tenores di bitti, ihre melodien gehören zu den immateriellen kulturgütern der unesco und sind hier im nächtlichen wald einfach einer von vielen magischen momenten.

Sonntag, 14. Juni 2015

MÜNCHEN: DER STRASSENKÖTER KOMMT

johan simons also ist auf die zielgerade eingebogen, derweil matthias lilienthal, der künftige intendant der münchner kammerspiele, gerade so richtig warmgelaufen scheint. und es steht nicht zu befürchten, dass er es sich, den kammerspielen und dem münchner publikum zu bequem macht: "ich bin ein kleiner berliner strassenköter, und wenn man dem sagt, geh rechts rum, geht er aus prinzip links rum." das ist, in einem sehr langen interview mit christine dössel von der "süddeutschen zeitung", der allerletzte satz. und also programm.

Samstag, 13. Juni 2015

MÜNCHEN: HOPPLA, WIR STERBEN!

kriegsähnliche zustände sollen jeweils herrschen bei louis vuitton in münchen, wenn arabische kundinnen nur drei taschen kaufen dürfen pro person, obwohl sie gerne zehn hätten. beschluss der geschäftsleitung. kriegsähnliche zustände, sagt zmarak, der bei louis vuitton gearbeitet hat, im neuen stück von arnon grünberg. der niederländische autor hat sich für „hoppla, wir sterben!“ während mehreren monaten von den menschen in dieser stadt, den eingeborenen und den zugereisten, den auffälligen und den unauffälligen, inspirieren lassen zu einem subtilen text über identität und internationalität. den roten faden liefert ein abwesender, oberstleutnant fuchs, der in afghanistan verschwunden ist. frau fuchs redet über ihn und frau merkel, ein beinloser und ein interkultureller berater, passanten in allen varianten. die stadt, die sie verbindet, ist in der inszenierung von johan simons ein gigantisches, zwei stunden lang loderndes lagerfeuer. hier treffen sie sich oder auch nicht, hier reden sie miteinander oder für sich. „identität ist ein aufrichtiges spiel mit dem anderen.“ aufrichtig und unspektakulär spielen sie sich durch grünbergs text - 19 szenen, die zeigen, wie die globalisierung jeden trifft und jeden anders. es ist johan simons‘ letzte inszenierung als intendant der münchner kammerspiele: kein knaller, sondern eine sorgfältige, stille meditation. die offenheit für andere menschen, andere ideen, andere argumente, die hier während fünf jahren programm war, sie bekommt noch einmal ihren platz.

Samstag, 11. April 2015

ROMA: TRAUMNOVELLE (DOPPIO SOGNO)

eher unvorteilhaft gebaute herren in vulgären slips und mit überdimensionierten winnie-the-pooh-plüschmasken sind nicht das erste, was mir zum stichwort "erotische phantasien" einfällt. meiner gemahlin übrigens auch nicht. mit genau solchem personal aber bevölkert regisseur giancarlo marinelli seine inszenierung von arthur schnitzlers "traumnovelle" am grossen teatro quirino in rom. das ausgeklügelte spiel zwischen dem arzt fridolin und seiner gattin albertine, die sich mit erotischen phantasien und geheimen wünschen zunächst necken und später, wenn sich die grenzen von traum und wirklichkeit verschieben oder aufheben, zutiefst verunsichern, entbehrt hier jeder raffinesse; ein gespür für intimere szenen oder für das abgründig-knisternde der vorlage entwickeln weder regisseur noch schauspieler. da wird nicht mit feinen verbalen klingen gefochten, sondern mit brusthaarteppichen gewedelt. fridolins mutter wird unvermittelt zu einer hauptfigur, ihre schimpftiraden auf sohn und schwiegertochter geraten zu hässlichen und letztlich unmotivierten arien; der verdacht liegt nahe, dass die ältere kollegin im ensemble auch wieder mal rollenfutter brauchte. und auch den verdacht, dass einem mit rai und mediaset sozialisierten publikum selbst ein ernsthafter, tiefgründiger stoff nur noch in knalliger variété-verpackung zugemutet werden kann, werden wir nicht ganz los. schnitzler a roma: es war eine art mutprobe.

Mittwoch, 8. April 2015

ROMA: FUTURO

walter veltroni, ehemaliger bürgermeister von rom und ehemaliger italienischer kulturminister, hat mit kindern einen film gedreht. über ihre welt. über ihre geheimnisse. über ihre träume. "i bambini sanno" läuft noch nicht in den kinos, erst der trailer. und da werden ein paar kinder am schluss gefragt, ob sie die zukunft eher mit sorgen oder eher mit hoffnung verbinden. ein junge mit down-syndrom antwortet: "futuro è una bella parola." er sagt es herzlich und er sagt es überzeugt.

Dienstag, 7. April 2015

ROMA: BRIEFE INS LEERE

ein grosser dunkler raum. im alten teil von zaha hadids maxxi in rom hängen fünf zimmerhohe screens unregelmässig angeordnet in der schwarzen leere. darauf ein paar vereinzelte menschen in einem einst repräsentativen, mittlerweile heruntergekommenen festsaal, fahles licht von aussen, die offensichtliche inszenierung einer belasteten zeit: auf einem bildschirm sitzt eine ältere frau auf einer bettkante, ein mann wie ein beichtvater ihr gegenüber; auf einem anderen ein jüngerer mann grübelnd an einem alten schreibtisch; stille, schweigen, keine bewegungen. zu dieser bleiernen ereignislosigkeit lassen die beiden albanisch-italienischen videokünstler adrian paci und roland sejko auf der tonspur briefe lesen, briefe aus der zeit nach 1943, als über 20'000 italiener nach der okkupation für jahre in albanien festgehalten wurden und keinen kontakt zur heimat haben durften. es sind briefe von angehörigen, geliebten, müttern, brüdern. zunächst überrascht, solange nichts zu hören, dann verzweifelt, dann hoffnungslos. "dopo mesi e mesi che non ho più notizie del tuo arrivo, non posso più nascondertelo, tuo padre è morto otto mesi fa." und in der letzten phase versuchen sie sich mit dem unausweichlichen zu arrangieren, weil zum beispiel entscheidungen nicht länger aufgeschoben werden können, weil grössere ausgaben beschlossen werden müssen. es sind briefe, die ihre empfänger nie erreichen. briefe ins leere. auch umgekehrt, auch die post aus albanien gelangt nicht nach italien. zwei länder, keine 100 kilometer und doch durch die geschichte welten voneinander entfernt. die säcke mit all den ungelesenen briefen wurden erst jahrzehnte später im albanischen staatsarchiv entdeckt. jetzt liegen diese briefe im maxxi, am eingang zum grossen dunklen saal.

Mittwoch, 1. April 2015

ROMA: LUCIA DI LAMMERMOOR

staatspräsident sergio mattarella betritt mit entourage die königsloge. der botox-gesättigte saal erhebt sich und applaudiert. dirigent roberto abbado setzt an, nicht zur ouverture, sondern zur italienischen nationalhymne. der botox-gesättigte saal erhebt sich erneut und singt ergriffen mit. eine opernpremière als staatsakt. geehrt wird starregisseur luca ronconi, der am 21.februar 83jährig starb. er hätte diese "lucia di lammermoor" an der opera di roma inszenieren sollen; das konzept stand, die proben allerdings konnte er nicht mehr leiten. seine mitarbeiter übernahmen. das resultat: zwiespältig. auf der positiven seite die bühnengestaltung, die sich jedem realismus widersetzt und eindrückliche psychologische räume schafft, hell und hoch und trotzdem ausweglos wie ein kerker, ein kloster, ein kastell. hier gibt es kein entrinnen, für lucia nicht (die aus familienräson den falschen mann heiraten muss) und ebenso wenig für all die drahtzieher, die sie umgeben. doch dieser visuelle ansatz findet im szenischen keine entsprechung. die protagonisten, eh schon ziemlich steif gehalten in den kostümen aus der schaffenszeit von donizetti, werfen sich in die konventionellsten opernposen, da entsteht keine spannung zwischen den figuren, viel plumpes rampensingen, nix raffinierte psychologie - das kann ronconi so nicht gewollt haben. jessica pratt (lucia), marco caria (enrico) und stefano secco (edgardo), deren leidenschaftliche stimmen prächtig harmonieren, verleihen dem abend immerhin eine ganze reihe vokaler glanzlichter. ein stimmenfest für den toten regisseur.

Sonntag, 15. März 2015

ST. GALLEN: LUCREZIA BORGIA

bei der party in der gestylten weissen villa hebt einer kurz den weissen teppich. darunter: blut, noch schön frisch. leichen pflastern den weg von lucrezia borgia, tochter eines papstes, blutschänderin, ehebrecherin, giftmischerin, berüchtigt, wenn auch historisch nicht einwandfrei verbürgt. in seiner inszenierung von donizettis oper am theater st. gallen verlegt tobias kratzer die handlung von der renaissance ins heute, mit viel attraktivem, geschniegeltem jungvolk, was den italo-mafia-intrigantenstadel nicht weniger nachvollziehbar macht, im gegenteil. der kontrast zwischen donizettis süffigem belcanto und den wachsenden leichenbergen nimmt schon beinahe parodistische dimensionen an, zumal pietro rizzo mit dem sinfonieorchester st. gallen gelegentlich ziemlich dick aufträgt. doch die regie nimmt die figuren durchaus ernst, allen voran jene im zentrum: katia pellegrino als lucrezia, die sich in den eigenen unehelichen sohnemann gennaro – anicio zorzi giustiniani, so heisst er und so singt er – in den sohnemann also verliebt und ihn versehentlich auch vergiftet, ist nicht einfach das rachsüchtige machtweib, sondern eine von sehnsucht, angst und verzweiflung getriebene frau. ein eindrückliches rollenporträt, auch stimmlich, mit einem von intimen momenten hin zu dramatischen ausbrüchen reich differenzierenden sopran. schlicht genial ihr auftritt als todesengel im kleinen schwarzen, wenn sie im letzten akt ihren bereits am boden röchelnden giftopfern mit stechendem blick mitteilt, dass ihre fünf särge schon bereitstehen vor der villa. wie heisst es jeweils so schön: wenn sie krimis mögen, mögen sie auch diese oper.

Samstag, 7. März 2015

MÜNCHEN: MEG STUART, HUNTER

eine frau sitzt an einem tisch, schneidet konzentriert bilder aus ihrer kindheit und jugend aus, klebt sie neu zusammen. die frau ist meg stuart, die 50jährige tänzerin und choreografin aus den usa, die heute in brüssel und berlin arbeitet (damaged goods). es ist ihr erster solo-abend, und die bilder-schnipselei legt die spur: während eineinhalb stunden tanzt sich meg stuart in der spielhalle der münchner kammerspiele durch ihre biografie. der titel des abends („hunter“) macht deutlich, dass kein sentimentales zurückdenken angesagt ist, sondern ein mitunter aggressives suchen nach stationen und ereignissen, die sie geprägt, die in ihrem kopf und in ihrem nach wie vor höchst athletischen körper spuren hinterlassen haben. eine psychische und physische erinnerungsarbeit, an der sie das publikum teilhaben lässt. zu einer sehr suggestiven tonspur aus geräusch-, gesprächs- und musikfetzen entstehen expressive bilder und bewegungen, berührend, beklemmend, erschöpfend – das bild einer vielschichtigen choreografin, neu zusammengeklebt. und bevor sie, kreisend und schreiend, zu einem höchst ironischen yoko-ono-finale ausholt, setzt sie sich zum publikum und erzählt ein paar geschichten aus ihrem leben, in vertraulichem ton: wie sie tänzerin wurde, weil sie sich wie eine lieblings-trickfilmfigur zum verschwinden bringen wollte. oder wie sie sich jetzt, wo ihre grosse kollegin trisha brown an demenz leidet, immer wieder fragt, was wir wohl träumen werden, wenn wir uns nicht mehr erinnern.

Freitag, 6. März 2015

MÜNCHEN: SING MAL WAS AUF RUSSISCH

keine party und kein abend mit freunden, wo genija rykova diesen satz nicht hören muss: „sing mal was auf russisch!“ rykova ist schauspielerin am residenztheater in münchen und hat sibirische wurzeln. jetzt erfüllt sie diesen wunsch gleich abendfüllend, tritt im marstall mit timoschenko-frisur und im aufreizend knappen glitterschwarzen auf, nicht als genija rykova, sondern als irina klischevetskaja. und singt sich, nomen est omen, ironisch den ganzen klischees entlang, singt all die volkslieder und schlager von bären und beeren und birken am baikalsee, von aufgeschlitzten müttern und dem mann mit der axt. mit samtener stimme kostet sie all die zisch- und schlürflaute ihrer muttersprache lustvoll aus und die melancholie fliesst ihr literweise über die lippen. ein ganz und gar unpolitischer abend also. begleitet wird genija/irina von einer formidablen vierköpfigen jazzformation (die sie als ihre vier sibirischen brüder vorstellt), was die russische folklore einerseits ganz hervorragend erträgt und dem konzert anderseits, in raumgreifenden instrumentalsoli etwa, auch eine zusätzliche, reiche dimension verleiht. zwischendurch werden russische gewürzgurken durch die dichten publikumsreihen gereicht und wodka ausgeschenkt, nicht aus der flasche, sondern gleich aus dem 20-liter-kanister. man könnte von russland träumen. wenn man denn ausgerechnet jetzt von russland träumen wollte.

Donnerstag, 5. März 2015

OUARZAZATE: LAMM-EINTOPF

„la caravane des épices“ – was für ein märchenhafter name für einen laden in einer unscheinbaren seitenstrasse in einem unscheinbaren aussenquartier von ouarzazate. aber „la caravane des épices“ ist eben nicht einfach eine unscheinbare gewürz-boutique, sondern eine akkurat eingerichtete apotheke, die neben sandelholzölen und arganölen und anderen köstlichen essenzen auch erlesene gewürze verkauft. in diesem kleinen paradies haben wir im herbst unser ras el hanout erstanden, den duft marokkos: eine mischung aus über 25 gewürzen, darunter koriander, kurkuma, paprika, muskat, anis, chili, kardamom, lavendel, rosenblätter. und mit diesem gedicht von gewürz bereiten wir seither unseren lamm-eintopf zu, kein original marokkanischer, sondern ein marokkanisch inspirierter. wer´s auch probieren will, braucht dazu: 800 gramm lammschulter, 1 grosse zwiebel, ½ rande, ½ sellerie, 6 kartoffeln, 2 rüebli, ½ quitte, 15 dörraprikosen, rotwein, bratensauce, ras el hanout, geröstete mandeln, kümel, sesam, frischer koriander. – rande und quitte mit etwas rotwein in einem separaten topf knackig kochen und später unters hauptgericht mischen. fleisch und zwiebel würfeln, würzen und anbraten, auf kleinem feuer garen, später gemüse und früchte beigeben, am schluss mandeln, sesam und koriander. und schon macht die caravane des épices auch in mitteleuropa halt.

Montag, 16. Februar 2015

MÜNCHEN: MARIA STUART

„aha“, sagt sie trocken, als man ihr kundtut, dass sich auch ihr letzter vermeintlicher vertrauter abgesetzt hat („der lord lässt sich entschuldigen, er ist zu schiff nach frankreich“). aha. dann bricht bei königin elisabeth von england die ganze einsamkeit und verzweiflung durch, in die sie sich mit dem todesurteil gegen maria stuart manövriert hat, die königin von schottland, ihre cousine und rivalin. fassungslos und bleich steht sie allein auf der bühne der münchner kammerspiele, ein unkontrolliertes zucken überwältigt ihr gesicht, minutenlang und immer heftiger, bis sich der eiserne vorhang vor ihr senkt. ein letzter grossartiger auftritt von annette paulmann, deren elisabeth nur vordergründig eine starke und mächtige frau ist; hinter der fassade bewegt sie sich unsicher und kommt im netz aus eifersucht, intrigen und demütigungen kaum mehr zu luft – ihr enggeschnürtes, hochgeschlossenes, schrecklich gelbes königinnenkleid ist mehr korsett als prunk. mit brigitte hobmeier ist auch die stuart erstklassig besetzt, dünnhäutig und schwach und doch bis zur letzten minute ihres lebens von einer moralischen energie beseelt, die sie nicht triumphieren, aber doch immer wieder an menschen glauben lässt. regisseur andreas kriegenburg sperrt die beiden gegenspielerinnen und das männliche personal in einen bunker aus betonwürfeln, einzig die sprache sorgt für dynamik zwischen den figuren. die sprache so sehr im zentrum, ein mutiger entscheid, da sich ganz offenkundig auch grosse schauspieler in schillers komplex gedrechselten versen nicht mehr einfach heimisch fühlen. aha.

Sonntag, 15. Februar 2015

MÜNCHEN: ERFOLG

bauen, brauen, sauen – das sei das leitmotiv gewesen, damals in münchen, als lion feuchtwanger 1930 seinen roman „erfolg“ veröffentlichte – ein gewaltiges panorama der abgründe in bayerns seele und in bayerns politik. diesem 750-seiten-buch und seinem autor widmete das münchner literaturhaus jetzt eine exzellente ausstellung: das personal des romans wird hier lebendig, das in jeder beziehung wilde leben der zwanziger jahre und nicht zuletzt auch die situation des jüdischen schriftstellers in diesem zunehmend schwierigeren umfeld. in seiner autobiografie notierte er in der ihm eigenen mischung aus bitterkeit und sarkasmus: „die stadt zählte im letzten jahr, das der schriftsteller l.f. in ihr verbrachte, 137 begabte, 1012 über mittelmass, 9002 normal, 537´284 unternormal veranlagte und 122´963 voll-antisemiten. es beweist die ungewöhnliche vitalität des schriftstellers l.f., dass er in der luft dieser stadt 407´263´054 atemzüge tun konnte, ohne an seiner geistigen gesundheit erkennbaren schaden zu nehmen.“ was für ein erfolg.

Samstag, 31. Januar 2015

MÜNCHEN: GUILLAUME TELL

riesige schwarze röhren schweben über der riesigen schwarzen bühne. sie sehen aus wie überdimensionierte kanonenrohre. und wenn sie sich auf den boden senken, erinnern sie an kräftige baumstämme oder gefängnisgitter. das bühnenbild, das florian lösche für rossinis „guillaume tell“ an der bayerischen staatsoper geschaffen hat, ist ein eigenständiges, abstraktes kunstwerk. hier erzählt schauspielregisseur antú romero nunes in seiner ersten operninszenierung tells geschichte: kein bergidyll, keine folklore, kein pathos. die erwartungen des publikums irritiert er auch, indem er ihm schon mal die bekannte ouverture vorenthält – und sie erst als soundtrack zum apfelschuss nachliefert, wenn alpenmonster und kindersoldaten des tell-buben hirn durchzucken und ihn nachhaltig traumatisieren. michael volle als tell (strickpulli, brille, rote haare) ist hier nicht der gefeierte freiheitsheld, sondern ein trotziger klein- und wutbürger, der die welt in gut und böse teilt, der verzweiflung meist näher als der überlegenheit; ein faszinierendes rollenporträt und eine grosse stimme, kräftig und warm. daneben yosep kang mit strahlendem tenor und krassimira stoyanova mit dunklem sopran sehr berührend als obwaldnerisch-habsburgisches liebespaar arnold/mathilde – und auch alle anderen figuren, bis in die letzte nebenrolle, sind top-besetzt. mit diesem tollen ensemble schafft dirigent dan ettinger aus rossinis ernsthaftester oper ein musikalisches stimmungsbild, das sich mit der intelligenten inszenierung aufs eindrücklichste verbindet. überwältigender applaus für diesen frischen blick auf die anfänge der schweiz.

Dienstag, 27. Januar 2015

MÜNCHEN: DIANA DI LAMMERMOOR

was sollen wir bei kennedys zuhause? der kennedy-clan, sagte regisseurin barbara wysocka vorab, habe sie inspiriert für die umsetzung von donizettis „lucia di lammermoor“ (1835) an der bayerischen staatsoper, der kennedy-clan und fürs bühnenbild der bildband „the ruins of detroit“. uiuiui, denkt man sich, ziemlich hergeholt und ziemlich kopfig. doch dann erzählt frau wysocka in einem bröckelnden ballsaal (detroit) die geschichte der familie ashton zwischen machtgier, glamour und fluch (kennedy), in den spiessig-bunten kostümen der sechziger zwar, aber ohne unnötige gags oder us-firlefanz: sie erzählt die geschichte konsequent, spannend, brutal. mit diana damrau steht ihr als lucia eine traumbesetzung zur verfügung, blond wie hollywood und tough wie hillary; eine starke frau, die nicht ihre grosse liebe heiraten darf, sondern einen mann verordnet bekommt, der ins clan-konzept passt, woran sie zerbricht. die damrau ist nicht einfach diva, sie ist ein theatertier: sie singt diesen berühmtesten wahnsinn der opernliteratur teils rücklings auf dem kofferraum eines chevrolet-cabrios, teils wild mit der pistole fuchtelnd und die pistole wie ein irres gegenüber beschwörend, sie macht – mit furioser mimik und mörderischen koloraturen - diesen politkrimi zum psychothriller. dass dirigent kirill petrenko, der sämtliche schichten der partitur freilegt, lucias wahnsinnsarie nicht wie üblich von einer querflöte begleiten lässt, sondern – wie donizetti das bereits für die uraufführung gerne gehabt hätte - von einer die melodie leicht verzerrenden glasharmonika, eröffnet neue, unwirkliche dimensionen. sphärisch. ein grosser abend.