das
ist grosses schauspielertheater. drei männer, zwei stunden, ein konflikt. die
schlacht um troja scheint odysseus nur noch mit dem überragenden bogenschützen
philoktet für sich entscheiden zu können, doch den hat er wegen einer arg
stinkenden wunde vor jahren kaltblütig ausgesetzt. also schickt er den
unbelasteten jüngling neoptolemos vor, um den ausgesetzten für sich
zurückzugewinnen. ein verhängnisvolles dreieck, eine zeitlose konstellation:
ein machtmensch, ein aussenseiter, ein vermittler. das politische und das
private überlagern sich allgegenwärtig. worte werden hier zu waffen – das beabsichtigte
heiner müller in seiner sprachmächtigen zuspitzung von sophokles‘ „philoktet“ und
das unterstreicht der bulgarische regisseur ivan panteleev mit seiner
inszenierung am cuvilliéstheater der münchner residenz. worte sind waffen, ob
geschleudert, gefeuert oder taktisch subtil und schleimerisch eingesetzt: sie
verwunden und sie töten. shenja lacher (odysseus), aurel manthei (philoktet)
und franz pätzold (neoptolemos) sind drei energiegeladene und hochpräzise
schauspieler, die jedes wort auch körperlich umsetzen, ihm seine unmittelbare
wirkung geben und sein nachhaltiges echo lassen, was durch den wunderbar
leeren, nur mit daunenfedern bedeckten bühnenraum von johannes schütz eine
zusätzliche dimension gewinnt. es zucken die worte, es zucken die gedanken, es
zucken die gesichter. lauter monologe und dialoge und erst nach zwei stunden
dann das finale terzett, wo sich die drei im stakkato konfrontativ und
überlagernd vorhalten, was ihr jeweiliges handeln oder nicht handeln für
individuelle oder politische konsequenzen nach sich ziehen wird. ein terzett
der ohnmacht, ein terzett der ausweglosigkeit, ein terzett hin zum tod.
Sonntag, 20. Dezember 2015
Freitag, 18. Dezember 2015
MÜNCHEN: DER SPIELER
vier
clevere schulkinder lesen und spielen sequenzen aus dostojewskis „der spieler“.
wie aus einer fernen, fremden welt. fünf schauspieler lesen und spielen
ebenfalls szenen aus diesem roman. wie aus einer sehr nahen, sehr vertrauten
welt, die vom geld getrieben wird und nur vom geld. was die kinder und die erwachsenen
verbindet, sind mehrere dutzend umzugskartons: das symbol des unterwegsseins,
des unbehaustseins, des suchens als bühnenbild und spielmaterial
für grosse und kleine schauspieler, die sich immer wieder begegnen und
spiegeln. christopher rüping zeigt in seiner inszenierung an den münchner
kammerspielen eine annäherung an diese russische gesellschaft, die im fiktiven
roulettenburg ultimativ dem glücksspiel verfällt und dabei geld und gefühle
gleichermassen verjubelt. thomas schmauser in der titelrolle als privatlehrer
mit casinodrang hat gefühlt alle zehn minuten eine schreiarie, einmal darf er –
durchaus beeindruckend – auch tierstimmen imitieren; der weg des spielers in
die verzweiflung und einsamkeit wird hier also permanent und penetrant
akustisch markiert. dieser abend ist alles: brülltheater, dancefloortheater, videotheater,
hüpfburgentheater. und dieser abend ist nichts: die figuren bleiben eindimensional,
der diskurs und die atmosphäre auf der strecke, dostojewski verhackstückelt, die regie findet keinen rhythmus. dieser abend
ist alles und nichts, er ist mal erheiternd, oft ernüchternd und mit vielen
längen vor allem auch sehr ermüdend. für die kinder gab´s am schluss herzlichen
beifall, fürs regieteam üppig buhs. christopher rüping ist ab nächster
spielzeit hausregisseur an den kammerspielen. mal sehen.
Mittwoch, 18. November 2015
MÜNCHEN: IVO
bastian, caroline, colin, daniel, irina, jonathan, maike, merlin, nurit, philipp. schöne
namen. vier frauen, sechs männer, zwischen 21 und 27 jahre alt. sie sind der
vierte jahrgang der otto-falckenberg-schule in münchen, abschlussklasse. sie sind die
schauspielerinnen und schauspieler von morgen. ivo ist die abkürzung des
grauens für alle schauspielschüler. ivo, intendantenvorsprechen. da sitzen sie
dann, die theaterleiter und dramaturginnen und agenten, und glotzen und mustern und entscheiden über karrieren.
die falckenberg-klasse gibt alles, poetisches und plakatives, koltès und
kroetz, hofmannsthal und tschechow, allein und zu zweit. die ganze kunst und
der ganze schweiss - wie immer beim ivo. doch etwas ist anders: die
kammerspiele und der schweizer regisseur boris nikitin haben das vorsprechen
dieses jahr zu einer öffentlichen veranstaltung gemacht, das vorsprechen findet
vier oder fünf mal statt, mit publikum. beim anschliessenden gespräch neben der bühne wird
schnell klar: dieses setting ist eine erlösung für die theaterklasse, weil der
saal atmet und reagiert; es ist eine erleichterung für die beobachtenden
profis, weil sie mit ihrer unangenehmen rolle in einer masse verschwinden
können; es ist ein gewinn fürs publikum, das einen entscheidenden moment in
einer schauspielerkarriere live miterleben kann. warum also ist dieses
öffentliche vorsprechen die ausnahme, nicht die regel? und warum heisst eine
veranstaltung, wo so viel bewegung und musik und emotion und kraft den raum
füllt, vorsprechen?
Dienstag, 17. November 2015
MÜNCHEN: ROCCO UND SEINE BRÜDER
„im
wohnzimmer der parondis“ steht in roter leuchtschrift auf halber bühnenhöhe
oder „im boxclub“ oder „auf dem dach der kirche“. der rest: eine grosse,
schwarze, meist leere bühne. der rest also: schauspielkunst – und phantasie des
zuschauers, die durch keine umbaupause belästigt wird. so einfach erzählt simon
stone, seit dieser spielzeit hausregisseur am theater basel, in den münchner
kammerspielen jetzt den neorealismo-klassiker „rocco und seine brüder“ von luchino
visconti. stone hat die geschichte der familie parondi, die aus dem armen süden
in die grosse stadt im norden zieht, überschrieben: aus italien wird irgendwo,
aus 1960 wird 2015, die fünf parondi-brüder sprechen eine sehr heutige, sehr
schnelle sprache, alles ist emotional aufgeladen, der klassenkampf kennt keine
nebensätze. trotz diesem tempo, trotz den harten schnitten gelingt es dem
regisseur, seinen figuren pralles leben mitzugeben, sie zu entwickeln bei ihrem
versuch, die vergangenheit hinter sich zu lassen. in der gegenwart dreht sich
alles nur ums boxen und um die nutte nadia (wunderbar vielschichtig: brigitte
hobmeier), die simone am schluss in seiner verzweiflung ermordet. fünf tolle
schauspieler, vier davon neu an den kammerspielen, lassen das traditionelle
familienbild und die hochtrabenden zukunftspläne sehr plastisch und sehr rasant
ins wanken geraten: „diese stadt bringt uns um.“ aus den zuzüglern wird die
neue unterschicht. die migrationsdebatte hat ihr déjà vu.
Donnerstag, 12. November 2015
MÜNCHEN: POLT, POLTER, POLTERABEND
die
nürnberger gesellschaft für konsumforschung (gfk) ermittelte die häufigsten
gründe für streit unter nachbarn in deutschland: ruhestörender lärm,
missachtete nachbarpflichten (treppenhausreinigung usw.), stinkende/dreckige/laute
haustiere, unfreundlichkeit, störende besucher, lästiger
zigarettenrauch, verdreckte gemeinschaftsräume. welches gewicht dieser
kleinkrieg im alltag der deutschen hat, welche bedeutung für die befindlichkeit
dieser nation, wird erst dadurch vollumfänglich klar, dass gerhard polt ihm ein
abendfüllendes programm widmet! zweieinhalb stunden über
nachbarschaftsstreitereien!! an den münchner kammerspielen, dem theater der
ganz grossen themen und konzepte!!! „ekzem homo“ heisst die veranstaltung, der
mensch als plage. kulminationspunkt der poltschen volkskunde ist der satz: „um
einen anderen umzubringen, muss man ja nicht zwangsläufig religiös sein.“
vereint mit seinen nach wie vor brillanten musikantenkumpeln, den well-brüdern
aus dem biermoos, kämpft sich polt durch laubbläser- und grillrauchattacken,
die kleingeistigkeit der ortsfeuerwehr bekommt ihr fett ab, die
kleingeistigkeit der laientheatergruppe, die kleingeistigkeit der csu und die
kleingeistigkeit der katholischen kirche. immer auch liebevoll augenzwinkernd,
immer auch mit hundert gramm philosophie, wobei ihm der gute alte nestroy pate
stand: der mensch an und für sich ist gut, aber die leut´ sind ein gesindel.
die zahl der nachbarschaftsverfahren vor deutschen gerichten wächst. mag sein,
dass man als nicht-deutscher die ultimative brisanz der thematik nicht wirklich
nachvollziehen kann oder will, doch auch die scharfe beobachtung des
rest-publikums lässt kaum zweifel an der gesamtbilanz: der polt war auch schon
polter.
Dienstag, 10. November 2015
MÜNCHEN: MÜNCHEN!
"solange die eltern am leben sind, sollst du keine weiten reisen unternehmen." (konfuzius)
Samstag, 31. Oktober 2015
LUZERN: SWEENEY TODD
klamauk.
sagt eine alt nationalrätin in der pause. klamauk. die dame hat recht. der
barbier benjamin barker alias sweeney todd bringt im düsteren london seinen
konkurrenten adolfo pirelli um, er bringt den büttel bamford um, er bringt eine
bettlerin um, er bringt den richter turpin um und dann verliert man den
überblick. er bringt sie alle aus rache um, weil er zu unrecht 15 jahre
verbannt wurde. und mrs. lovett, die bäckerin seines vertrauens, macht aus den
leichen seiner opfer köstliche fleischpasteten, best of fleet street. so weit,
so schlecht. leider hat stephen sondheim aus diesem stoff 1979 ein musical
gemacht, das leider immer noch gespielt wird. zum beispiel jetzt am luzerner
theater. regisseur johannes pölzgutter und dirigent florian pestell unternehmen
den verzweifelten versuch, aus diesem groschenroman quasi grosse oper zu
machen. ohne erfolg. zu einem musical gehören nun mal ein paar eingängige
melodien, doch die wollten dem komponisten partout nicht einfallen. stattdessen:
ohne unterbruch aggressive, grelle tonfetzen, zu denen die kultivierten stimmen
des luzerner opernensembles so gar nicht passen wollen. alles absicht? „sozialkritisch“
sei das ganze und voll von „tiefschwarzem humor“, stand irgendwo. ein scharfes
rasiermesser und ein paar pasteten aus menschenfleisch, nun ja, dieser humor
reicht einfach doch nicht ganz für drei abgrundtief beschwingte stunden. es
gibt zwei sorten von klamauk: gehobenen und überflüssigen.
Sonntag, 25. Oktober 2015
MÜNCHEN: MEFISTOFELE
ausgelassene
jahrmarktstimmung, singen und tanzen auf bänken und tischen. doch dann: ein
feuerball, ein knall, die menschen liegen regungslos auf und neben den tischen.
in den sesseln des karussels im hintergrund baumeln jetzt leichen. mefistofele
bahnt sich einen weg durch diese trümmerlandschaft, nähert sich faust und
seinem gefährten mit einem oktoberfest-lebkuchenherz: i mog di. die elysischen
chöre knattern nur noch vom alten grammophon, das göttliche reich eine vision
aus der vergangenheit, der himmel flimmert als schwarz-weiss-reminiszenz über die
leinwand. willkommen in der hölle. i mog di, faust. rené pape mit seinem
einerseits weich schmeichelnden, anderseits abgrundtief diabolischen bass zieht
als mefistofele alle register des üblen menschenverführers und joseph calleja
mit seinem strahlenden tenor ist kein naiver verdammter, sondern ein
verzweifelt suchender. mit dieser traumbesetzung der beiden hauptrollen (die
frauen um kristine opolais können nicht mithalten) inszeniert roland schwab
arrigo boitos "mefistofele" von 1868 an der bayerischen staatsoper
als apokalyptisches musical, deftig und doch differenziert. und omer meir
wellber dirigiert das staatsorchester ebenso präzis wie lustvoll durch die
hölle, die feger temporeich, die weniger ausgegorenen melodien der partitur
geradezu quälerisch langsam auskostend. boitos werk wird hier ausgesprochen
ernst genommen: es ist bei allem vordergründig-furiosen spektakel eine
bildintensive meditation über die hölle in uns allen. so landet faust im
vierten akt nicht im sonnentrunkenen griechenland, sondern unter
papierschiffchen faltenden dementen im altersasyl. ihr, die ihr hier eintretet,
lasst alle hoffnung fahren.
Sonntag, 4. Oktober 2015
LUZERN: GISELLE UND DAS WILDE NONNENBALLETT
albrecht,
ein junger herzog, und giselle, ein mädchen vom land, verlieben sich, etwas
läuft schief, sie zerbricht, stirbt und landet, im zweiten akt, bei den
geistern der unglücklichen jungfrauen. oh gott oh gott, so was geht natürlich
gar nicht mehr. allerdings hat adolphe adam dazu 1841 die allersüffigste
ballettmusik komponiert, den romantischen tanzklassiker schlechthin, marzipan
für die ohren. irgendwie ist „giselle“ also doch pflichtstoff für die
tanztheater dieser welt. der spanische choreograf gustavo ramirez sansano zieht
sich aus der affäre, indem er am luzerner theater zur romantischen tonspur
(das sinfonieorchester unter boris schäfer in bestlaune) völlig neue bilder
erfindet: giselle als junge journalistin (rachel lawrence), albrecht als ihr chefredaktor
(anton rosenberg), der alltag im verlagshaus der 60er-jahre ein unerschöpfliches
slapstick-gewusel. unglaublich wendige körper versuchen sich aus den
gesellschaftlichen konventionen freizustrampeln. viel bewegung, viel tempo, viel
witz, eine wonne. überraschende bilanz zur pause: funktioniert erstaunlich gut,
diese kombination von romantischen ohrwürmern und neuzeitlichem büroleben. und
dann haut ramirez sansano noch einen drauf, was keinen zweifel daran lässt,
dass er sowohl katholisch sozialisiert wie auch katholisch traumatisiert wurde:
die unglücklichen jungfrauen des zweiten aktes mutieren bei ihm – almodóvar lässt
grüssen – zu einem wildgewordenen haufen mehrheitlich männlicher klosterfrauen,
beinespreizend und bösartig, gierig und diabolisch den prior umgarnend, ein
nonnenballett der anderen art. kein wunder, dass giselle in diesem kloster
bleiben will und ihren vitaminarmen chefredaktor ziehen lässt. gehobener klamauk
statt originaler kitsch, lautet die devise. das luzerner theater leistet sich
damit ein echt perlendes spässchen.
Sonntag, 27. September 2015
MÜNCHEN: LULU, LABYRINTHISCH
ein labyrinth aus glas verstellt die riesige bühne der bayerischen
staatsoper. darin tanzend und taumelnd: die gesellschaft. alkohol, geld,
triebe, kampf der geschlechter, die gesamte choreographie des lebens.
davor, auf knappstem raum an der rampe, ein paar quadratmeter nur und
ein paar stühle, lässt dmitri tcherniakov die tragödie der lulu spielen,
"die tragödie von der gehetzten frauenanmut" nannte sie karl kraus.
dieses fragile kabinett ist als visuelles konzept ebenso überzeugend
(lulus lust, leidenschaft und leiden als spiegelbild der wirklichkeit)
wie für die dauer von vier stunden doch eher redundant und in seiner
räumlichen beschränktheit ermüdend. die dramatische wucht des abends,
seine sprengkraft, entwickelt sich umso mehr im orchestergraben: kirill
petrenko zieht das bayerische staatsorchester - wieder einmal - in einen
sog. die todbringende schönheit lulus, die projektionen der ihr
verfallenen männer, das alptraumhafte der beziehungen, zeugung und
zerstörung - alles, was in alban bergs komplexer melodik angelegt ist,
voller dynamik und dunklem zauber, wird hier aufs prächtigste
ausgestaltet und zu einem musikalischen rausch gesteigert. marlis
petersen als lulu und bo skovhus als dr. schön und jack the ripper
bringen stimmlich genau das mit, was die partitur und die rollen von
ihnen fordern: das obsessive, im anziehenden wie im abstossenden, das
lang anhaltend obsessive. alle lust will ewigkeit.
Donnerstag, 24. September 2015
ZÜRICH: MANN/FRAU
"die welt ist wieder männlicher geworden, wir brauchen eine neue feministische welle." stephan kimmig, 56, regisseur, der am zürcher schauspielhaus zurzeit schillers "jungfrau von orleans" inszeniert (im "tages-anzeiger").
Samstag, 12. September 2015
LUGANO: EIN HERZ AUS GRANIT UND BIRNBAUMHOLZ
das kkl sei das vorbild gewesen für ihr lac (lugano arte e cultura),
sagen die luganesi gerne. da muss man als luzerner schon mal kurz
vorbeischauen. lugano im mildesten herbstlicht, giornata
dell'inaugurazione. "il lac è il nuovo cuore pulsante di lugano,
crocevia culturale tra il nord e il sud dell'europa." das pulsierende
herz besteht zunächst einmal aus viel grünem granit (aussen) und viel
birnbaumholz (innen). den granit und das holz kombiniert der tessiner
architekt ivano gianola oft und nicht immer nachvollziehbar mit metall
und/oder glas, dazu da ein kühnes fenster und dort ein labyrinthischer
korridor. nur: kein durchgängiges konzept, keine klare geste. der
birnbaumholz-konzertsaal atmet den kühl-abweisenden charme der grossen
halle des volkes in peking. für 210 millionen hätte das lac ja durchaus
auch ein wurf werden können. immerhin: die lage am see, die tolle
piazza, die ins ensemble integriert ist, und das grosszügige,
lichtdurchflutete atrium haben das potenzial, das lac tatsächlich zum
treffpunkt und zur crocevia culturale werden zu lassen. am ersten tag
fühlen sich die luganesi zwischen granit und nino rota und birnbaumholz
und gioacchino rossini ganz offenkundig sehr wohl. erste anzeichen einer
herzensangelegenheit. das wäre dann die wirkliche parallele zum kkl in luzern.
Sonntag, 2. August 2015
MÜNCHEN: MORE THAN NAKED
so
unerotisch kann tanz sein. so unerotisch kann nacktheit sein. für „more than
naked“ lässt die österreichische choreographin doris uhlich in der münchner
muffathalle zu dancefloor-hits und barockmusik 19 splitternackte tänzerinnen
und tänzer eine gute stunde lang ihre brüste und hintern, ihre pimmel und
oberschenkel schwingen und wabeln und wabern und wabbeln und wabbern. leute,
freut euch an euren körpern, auch wenn da und dort ein paar pfunde zu viel dran
hängen – das soll wohl die botschaft sein. „körperdiskurs“ (programmheft) tönt
natürlich besser und mag die eine und den anderen durchaus inspirieren. unter
dem strich allerdings bleibt mehr transpiration als inspiration: da werden
pyramiden gebaut wie bei grossvater im turnverein, einfach textilfrei. da
werden schwitzende körper aufeinander losgelassen, dass es flutscht und spritzt
und knackt. ziemlich anstrengend für die tänzer, ziemlich anstrengend fürs
publikum. und obwohl es hier offensichtlich um lebenslust und lebenskraft geht,
erinnern gewisse partien, wenn das ensemble sich zäh am boden wälzt, an
leichenberge. die bedeutungsschwangeren leerstellen, die immer wieder
zwischengeschaltet werden, sind vor allem leerstellen. und die muffathalle war
früher ein kraftwerk, keine metzgerei.
Freitag, 31. Juli 2015
MÜNCHEN: WENN DIE HARFE FLÖTEN GEHT
die
idee ist schon hübsch. die pasinger fabrik, ein multikulti-kulturzentrum in der
vorstadt, verwandelt sich im sommer regelmässig in „münchens kleinstes
opernhaus“. in der wagenhalle (kleiner als ein handballfeld) spielen sie dann
zu sprizz und weissbier grosse oper, dieses jahr 36 mal „rusalka“ von antonin
dvorak. andreas pascal heinzmann, der musikalische leiter, schrieb die partitur
um für ein zehnköpfiges orchesterchen. da geht einiges flöten, zum beispiel die
für diese oper nicht unentscheidende harfe (wird durch streicher-pizzicato ersetzt).
dafür werden instrumental-soli viel plastischer als im grossen orchestergraben.
und dann: die stimmen! keine spur mehr von kleinstem opernhaus, sondern eine
von a bis z wuchtige besetzung. die japanische sopranistin ikumu mizushima gibt
der wassernixe rusalka, die aus liebe zu einem prinzen auf ihr element verzichtet
und dann an den intrigen der menschen scheitert, sowohl stimmlich als auch
darstellerisch eine grossartige tiefe. die kälte des mondes, den die
inszenierung von julia dippel gross ins zentrum der kleinen bühne rückt,
erfasst diese wasserfrau zunehmend und – weil wir so nahe dran sitzen –
sichtbar. der prinz stirbt in ihren armen und beinahe auch in unseren. der
zauber von dvoraks überaus vielschichtiger märchenmusik berührt gerade auch in
dieser neuen, reduzierten dimension. münchens kleinstes opernhaus, allerliebst.
Dienstag, 28. Juli 2015
MÜNCHEN: DON CARLO
im nachthemd sitzt der spanische könig auf der bettkante, unruhig, fassungslos,
allein. er beklagt, dass seine frau ihn nicht liebt, nie geliebt hat, weil sie
schon vor ihrer politisch motivierten vernunftehe seinem sohn carlo zugeneigt
war. er beklagt, er jammert, steht auf, legt sich wieder hin, wälzt sich
verzweifelt auf dem bett. zwischendurch packt er die prächtige purpurrote
königsrobe, wohl in der hoffnung, dieses äusserliche zeichen seiner macht möge
ihm halt geben in seinem privaten unglück, und lässt sie wieder fallen. rené
pape singt diesen philipp II. hinreissend und spielt berührend: "ella giammai
m'amò." weil diese intimen momente, die die menschen hinter den königlichen und
kirchlichen macht- und drohkulissen zeigen, so präzis gearbeitet sind, entfaltet
jürgen roses inszenierung von verdis "don carlo" an der bayerischen staatsoper
immer noch eine enorme kraft, obwohl seit der première 15 jahre vergangen und
längst andere sänger im einsatz sind. auch die bühne erweist sich als zeitlos:
ein dunkler, sich nach hinten arg verengender raum wird zum kerker für alle
menschlichen regungen, ein raum zum ersticken. einen ähnlich intensiven eindruck
wie rené pape hinterliess in unserer vorstellung auch der italienische bariton
simone piazzola als posa, der mitfühlende freund und vermittler. die übrigen
stimmen (alfred kim als don carlo, anja harteros als elisabetta, anna smirnova
als eboli) sind für sich alle hochkarätig, wollten aber unter der leitung von
asher fisch kein rundes ganzes ergeben. was man bei einer aufführung im rahmen
der opernfestspiele und entsprechenden preisen doch eigentlich erwarten
dürfte.
Sonntag, 26. Juli 2015
MÜNCHEN: TOT ZIENS JOHAN
jetzt geht er also zurück nach holland, johan simons, während fünf jahren
intendant und zuvor bereits regisseur an den münchner kammerspielen. tot ziens
johan, steht über dem bühnenportal, leb wohl. an seinem letzten abend spielen
die stars seines ensembles noch einmal seinen "hiob". es ist die 80. vorstellung
seit der première im april 2008. und weil sie ein aussergewöhnliches ensemble
sind, erreichen sie auch in dieser 80. vorstellung eine spannung und eine
emotionalität und eine poesie, als wär's die première. es ist auch ihr letzter
abend und sie bezeugen damit ganz trefflich, was simons in seinem
abschiedsinterview mit der "süddeutschen zeitung" zur rolle des deutschen
stadttheaters und seiner zukunft gesagt hat: "das theater hat eine ungeheure
kraft, weil es alle disziplinen in sich vereinen kann. damit steht es mitten in
der welt. und es ist live, das ist in diesen digitalen zeiten eine nicht zu
unterschätzende qualität." das publikum bedankt sich für diese ungeheure kraft
und die vielen magischen momente mit einer standing ovation. die simons-truppe,
am schluss vollständig auf der bühne versammelt, applaudiert zurück. tot
ziens.
Mittwoch, 8. Juli 2015
FRANKFURT: DON GIOVANNI, VOM ENDE HER
don giovanni ist müde geworden. er
geht langsam, leicht gebückt, setzt sich immer wieder hin und braucht gegen
ende einen stock. und durchaus synchron bröckelt auch das barocke palais, wo er
lebt. die frühere pracht lässt sich noch erahnen, so wie die feurigen blicke
die einstige leidenschaft des grossen verführers immer wieder durchschimmern
lassen. mit seinem wunderbar beweglichen, hellen bariton gelingt dem jungen
daniel schmutzhard das sowohl stimmlich wie darstellerisch eindrückliche
porträt eines alternden mannes: dieser don giovanni erobert nicht mehr, sondern
– wie alfred döblin das formuliert hat – er lacht über seine natur. er geistert
gleichsam durch rückblenden. christof loy arbeitet in seiner inszenierung an
der oper frankfurt mit raffinierten kontrasten: je fahler der titelheld unter
seiner blondgrauen mähne wird, desto mehr farbe und leben gewinnen die anderen
figuren. don giovannis opfer, die frauen und indirekt auch die männer, werden
zu einer quirligen schicksalsgemeinschaft und emanzipieren sich von takt zu
takt mehr. eine schicksalsgemeinschaft sind sie bei unserem besuch auch aus
einem anderen grund: karsten januschke dirigiert sich dermassen lustvoll durch
den höllischen melodienreigen, dass ihm die koordination zwischen
orchestergraben und bühne immer wieder entgleitet. trotz vielen kraft- und
gefühlvollen stimmen also keine tonspur für die ewigkeit. umso nachhaltiger
wirken einzelne bilder, einzelne szenen: ein erotisches tableau, vom ende her
gedacht.
Dienstag, 7. Juli 2015
FRANKFURT: DER ROSENKAVALIER
wer
an den „rosenkavalier“ von hugo von hofmannsthal und richard strauss denkt, hat
immer gleich die bilder im kopf parat: putzige rokoko-interieurs, puder,
perücken, parfümierte parvenus. claus guth (regie) und christian schmidt (bühne)
wählen an der oper frankfurt einen anderen ansatz für das spiel um werden und
vergehen der liebe: das café sperl in der gumpendorfer strasse in wien, wo das
dunkle holz und die düstergelben wände noch heute schwer das ausgehende 19.jahrhundert
atmen, inspirierte die beiden zu einem beklemmenden sanatorium, melancholie
total. hier ist die feldmarschallin patientin, unheilbar, ihre mésalliance mit
dem 17jährigen oktavian scheint in weiter ferne, sie gönnt ihm sein leben, sie
hilft ihm zu seiner sophie, denn ihre zukunft heisst alter, nicht jugend: „man
ist dazu da, dass man’s ertragt. und in dem ‚wie‘ da liegt der ganze
unterschied.“ amanda majeski ist für die rolle der marschallin eigentlich zu
jung – und doch eine traumbesetzung: keine verbitterte frau eben, sondern eine
weise und offene, die das leben liebt und strauss‘ hinreissender melodienfülle
mit lodernder, leichter stimme alles, wirklich alles abgewinnt, das
komödiantische und das tiefschürfende. auch die anderen hauptrollen sind toll
besetzt (paula murrihy, christiane karg, bjarni thor kristinsson), doch ihr
gehört dieser abend: die ganze oper wird – musikalisch und szenisch absolut
konsequent – zu einem einzigen rückzug, einem abschied mit grösse und stil. am
ende, wenn sich die zwei jungen liebenden definitiv gefunden haben, wendet sich die marschallin dezent ab, legt sich aufs klinikbett und lässt los. die vergänglichkeit überholt die
zeit. ein kleines mädchen findet sie zum schlussakkord, kalt.
Samstag, 4. Juli 2015
ZÜRICH: GIANNA UND DIE RÜSTIGEN RENTNER
die
dame gehört nicht mehr zu den jüngsten. die dame sollte bei 31 grad am schatten
eigentlich keinen hochleistungssport mehr betreiben. die dame ist 61. sie trägt
ein weisses t-shirt mit der aufschrift „sex, roll, rock, drugs“. sie trägt
dieses t-shirt zu einer edlen olivfarbenen trainingshose mit weissen streifen
und einer jacke aus rotem leder oder eher kunstleder. das würde bei jeder
anderen frau in diesem alter peinlich wirken. nicht bei gianna nannini. sie ist
so was von fit und so was von gut drauf an diesem traumhaften abend beim „live
at sunset“ im zürcher dolder. ciao a tutti, sagt sie, wie eh und je, und legt
dann los: i maschi innamorati, io senza te, latin lover, oh marinaio, profumo,
america, bello e impossibile. es sind die songs, mit denen frau nannini das
publikum durch die vergangenen vier (!)
jahrzehnte begleitet hat – und dies mit einer beachtlichen erfolgsquote:
viele rüstige rentner summen und pfeifen und klatschen und stampfen mit, was
das zeug hält, und retten ihre wilde vergangenheit in eine immerhin noch
halbwilde gegenwart. älter werden mit gianna, nicht das schlechteste programm.
power und poesie, nicht der schlechteste mix. immer wieder zwinkert sie
jemandem zu, scherzhaft, herzlich, wie unter alten freunden. alles stimmt an
diesem abend, und deshalb schreckt sie auch vor den grössten schnulzen nicht
zurück: „volare“, mit dem domenico modugno 1958 am festival von sanremo abgeräumt
hat, italien ist überall, volare con tutti, nel blu dipinto di blu.
Freitag, 3. Juli 2015
GISWIL: HUISSOSSÄ UND MAGISCHE MOMENTE
am
anfang waren alle skeptisch. die, die’s organisiert hatten. und die, die gar
nicht anders können. doch das volkskulturfest „obwald“ auf der gsang-lichtung
bei giswil wurde schneller als erwartet ein voller erfolg und gehört
mittlerweile zu den sommerlichen musts. auf dem parkplatz autonummern aus
luzern, solothurn, zürich, basel und deutschland - und im publikum sieht man
jetzt, beim zehn-jahr-jubiläum, sogar die eine und den anderen obwaldner, die
anfänglich gar nicht anders konnten als skeptisch-sein. gut so. weiter so. immer
noch braucht’s für die speisekarte übersetzungshilfe: säimerwurscht und
ruichbrot, essiggmiäs, huissossä (das ist kein einheimischer jodel, sondern die
haussauce). lokales auf dem teller, globales auf der bühne: tamara riebli in
obwaldner tracht und nguyen thi trung in vietnamesischer seide machen gemeinsam
den anfang und dann, ja, sind sie alle wieder da zu diesem jubiläum, verteilt
auf zwei wochenenden, die vietnamesen mit ihren saiten- und bambusinstrumenten,
die familia bermudez aus andalusien, für deren flamenco-performance die bühne
verstärkt werden muss, chimi wangmo aus bhutan, die appenzeller, die
toggenburger, die greyerzer. sie wärmen die herzen. und wenn dann (welch klingende namen) omar bandinu, bachisio pira, marco serra und arcangelo pittudu bei vollmond zu ihren
obertongesängen ansetzen, die von tierstimmen, von wind und wellen inspiriert
sind, dann rührt das auch mal zu tränen. die vier sarden sind bekannt als
tenores di bitti, ihre melodien gehören zu den immateriellen kulturgütern der
unesco und sind hier im nächtlichen wald einfach einer von vielen magischen
momenten.
Sonntag, 14. Juni 2015
MÜNCHEN: DER STRASSENKÖTER KOMMT
johan simons also ist auf die zielgerade eingebogen, derweil matthias lilienthal, der künftige intendant der münchner kammerspiele, gerade so richtig warmgelaufen scheint. und es steht nicht zu befürchten, dass er es sich, den kammerspielen und dem münchner publikum zu bequem macht: "ich bin ein kleiner berliner strassenköter, und wenn man dem sagt, geh rechts rum, geht er aus prinzip links rum." das ist, in einem sehr langen interview mit christine dössel von der "süddeutschen zeitung", der allerletzte satz. und also programm.
Samstag, 13. Juni 2015
MÜNCHEN: HOPPLA, WIR STERBEN!
kriegsähnliche
zustände sollen jeweils herrschen bei louis vuitton in münchen, wenn arabische
kundinnen nur drei taschen kaufen dürfen pro person, obwohl sie gerne zehn
hätten. beschluss der geschäftsleitung. kriegsähnliche zustände, sagt zmarak,
der bei louis vuitton gearbeitet hat, im neuen stück von arnon grünberg. der
niederländische autor hat sich für „hoppla, wir sterben!“ während mehreren
monaten von den menschen in dieser stadt, den eingeborenen und den zugereisten,
den auffälligen und den unauffälligen, inspirieren lassen zu einem subtilen
text über identität und internationalität. den roten faden liefert ein
abwesender, oberstleutnant fuchs, der in afghanistan verschwunden ist. frau
fuchs redet über ihn und frau merkel, ein beinloser und ein interkultureller
berater, passanten in allen varianten. die stadt, die sie verbindet, ist in der
inszenierung von johan simons ein gigantisches, zwei stunden lang loderndes
lagerfeuer. hier treffen sie sich oder auch nicht, hier reden sie miteinander
oder für sich. „identität ist ein aufrichtiges spiel mit dem anderen.“ aufrichtig
und unspektakulär spielen sie sich durch grünbergs text - 19 szenen, die
zeigen, wie die globalisierung jeden trifft und jeden anders. es ist johan
simons‘ letzte inszenierung als intendant der münchner kammerspiele: kein
knaller, sondern eine sorgfältige, stille meditation. die offenheit für andere
menschen, andere ideen, andere argumente, die hier während fünf jahren programm
war, sie bekommt noch einmal ihren platz.
Samstag, 11. April 2015
ROMA: TRAUMNOVELLE (DOPPIO SOGNO)
eher
unvorteilhaft gebaute herren in vulgären slips und mit überdimensionierten
winnie-the-pooh-plüschmasken sind nicht das erste, was mir zum stichwort
"erotische phantasien" einfällt. meiner gemahlin übrigens auch nicht.
mit genau solchem personal aber bevölkert regisseur giancarlo marinelli seine
inszenierung von arthur schnitzlers "traumnovelle" am grossen teatro
quirino in rom. das ausgeklügelte spiel zwischen dem arzt fridolin und seiner
gattin albertine, die sich mit erotischen phantasien und geheimen wünschen
zunächst necken und später, wenn sich die grenzen von traum und wirklichkeit
verschieben oder aufheben, zutiefst verunsichern, entbehrt hier jeder
raffinesse; ein gespür für intimere szenen oder für das abgründig-knisternde
der vorlage entwickeln weder regisseur noch schauspieler. da wird nicht mit feinen
verbalen klingen gefochten, sondern mit brusthaarteppichen gewedelt. fridolins
mutter wird unvermittelt zu einer hauptfigur, ihre schimpftiraden auf sohn und
schwiegertochter geraten zu hässlichen und letztlich unmotivierten arien; der
verdacht liegt nahe, dass die ältere kollegin im ensemble auch wieder mal
rollenfutter brauchte. und auch den verdacht, dass einem mit rai und mediaset
sozialisierten publikum selbst ein ernsthafter, tiefgründiger stoff nur noch in
knalliger variété-verpackung zugemutet werden kann, werden wir nicht ganz los.
schnitzler a roma: es war eine art mutprobe.
Mittwoch, 8. April 2015
ROMA: FUTURO
walter
veltroni, ehemaliger bürgermeister von rom und ehemaliger italienischer
kulturminister, hat mit kindern einen film gedreht. über ihre welt. über ihre
geheimnisse. über ihre träume. "i bambini sanno" läuft noch nicht in
den kinos, erst der trailer. und da werden ein paar kinder am schluss gefragt,
ob sie die zukunft eher mit sorgen oder eher mit hoffnung verbinden. ein junge
mit down-syndrom antwortet: "futuro è una bella parola." er sagt es
herzlich und er sagt es überzeugt.
Dienstag, 7. April 2015
ROMA: BRIEFE INS LEERE
ein
grosser dunkler raum. im alten teil von zaha hadids maxxi in rom hängen fünf
zimmerhohe screens unregelmässig angeordnet in der schwarzen leere. darauf ein
paar vereinzelte menschen in einem einst repräsentativen, mittlerweile
heruntergekommenen festsaal, fahles licht von aussen, die offensichtliche
inszenierung einer belasteten zeit: auf einem bildschirm sitzt eine ältere frau
auf einer bettkante, ein mann wie ein beichtvater ihr gegenüber; auf einem
anderen ein jüngerer mann grübelnd an einem alten schreibtisch; stille,
schweigen, keine bewegungen. zu dieser bleiernen ereignislosigkeit lassen die
beiden albanisch-italienischen videokünstler adrian paci und roland sejko auf
der tonspur briefe lesen, briefe aus der zeit nach 1943, als über 20'000 italiener
nach der okkupation für jahre in albanien festgehalten wurden und keinen
kontakt zur heimat haben durften. es sind briefe von angehörigen, geliebten,
müttern, brüdern. zunächst überrascht, solange nichts zu hören, dann
verzweifelt, dann hoffnungslos. "dopo mesi e mesi che non ho più notizie
del tuo arrivo, non posso più nascondertelo, tuo padre è morto otto mesi
fa." und in der letzten phase versuchen sie sich mit dem unausweichlichen
zu arrangieren, weil zum beispiel entscheidungen nicht länger aufgeschoben
werden können, weil grössere ausgaben beschlossen werden müssen. es sind
briefe, die ihre empfänger nie erreichen. briefe ins leere. auch umgekehrt,
auch die post aus albanien gelangt nicht nach italien. zwei länder, keine 100
kilometer und doch durch die geschichte welten voneinander entfernt. die säcke
mit all den ungelesenen briefen wurden erst jahrzehnte später im albanischen
staatsarchiv entdeckt. jetzt liegen diese briefe im maxxi, am eingang zum
grossen dunklen saal.
Mittwoch, 1. April 2015
ROMA: LUCIA DI LAMMERMOOR
staatspräsident
sergio mattarella betritt mit entourage die königsloge. der botox-gesättigte
saal erhebt sich und applaudiert. dirigent roberto abbado setzt an, nicht zur
ouverture, sondern zur italienischen nationalhymne. der botox-gesättigte saal
erhebt sich erneut und singt ergriffen mit. eine opernpremière als staatsakt.
geehrt wird starregisseur luca ronconi, der am 21.februar 83jährig starb. er
hätte diese "lucia di lammermoor" an der opera di roma inszenieren
sollen; das konzept stand, die proben allerdings konnte er nicht mehr leiten.
seine mitarbeiter übernahmen. das resultat: zwiespältig. auf der positiven
seite die bühnengestaltung, die sich jedem realismus widersetzt und
eindrückliche psychologische räume schafft, hell und hoch und trotzdem ausweglos
wie ein kerker, ein kloster, ein kastell. hier gibt es kein entrinnen, für
lucia nicht (die aus familienräson den falschen mann heiraten muss) und ebenso
wenig für all die drahtzieher, die sie umgeben. doch dieser visuelle ansatz
findet im szenischen keine entsprechung. die protagonisten, eh schon ziemlich
steif gehalten in den kostümen aus der schaffenszeit von donizetti, werfen sich
in die konventionellsten opernposen, da entsteht keine spannung zwischen den
figuren, viel plumpes rampensingen, nix raffinierte psychologie - das kann
ronconi so nicht gewollt haben. jessica pratt (lucia), marco caria (enrico) und
stefano secco (edgardo), deren leidenschaftliche stimmen prächtig harmonieren,
verleihen dem abend immerhin eine ganze reihe vokaler glanzlichter. ein
stimmenfest für den toten regisseur.
Sonntag, 15. März 2015
ST. GALLEN: LUCREZIA BORGIA
bei der party in der gestylten weissen villa hebt einer kurz den weissen
teppich. darunter: blut, noch schön frisch. leichen pflastern den weg von
lucrezia borgia, tochter eines papstes, blutschänderin, ehebrecherin,
giftmischerin, berüchtigt, wenn auch historisch nicht einwandfrei verbürgt. in
seiner inszenierung von donizettis oper am theater st. gallen verlegt tobias
kratzer die handlung von der renaissance ins heute, mit viel attraktivem,
geschniegeltem jungvolk, was den italo-mafia-intrigantenstadel nicht weniger
nachvollziehbar macht, im gegenteil. der kontrast zwischen donizettis süffigem
belcanto und den wachsenden leichenbergen nimmt schon beinahe parodistische
dimensionen an, zumal pietro rizzo mit dem sinfonieorchester st. gallen
gelegentlich ziemlich dick aufträgt. doch die regie nimmt die figuren durchaus
ernst, allen voran jene im zentrum: katia pellegrino als lucrezia, die sich in
den eigenen unehelichen sohnemann gennaro – anicio zorzi giustiniani, so heisst
er und so singt er – in den sohnemann also verliebt und ihn versehentlich
auch vergiftet, ist nicht einfach das rachsüchtige machtweib, sondern eine von
sehnsucht, angst und verzweiflung getriebene frau. ein eindrückliches rollenporträt,
auch stimmlich, mit einem von intimen momenten hin zu dramatischen ausbrüchen
reich differenzierenden sopran. schlicht genial ihr auftritt als todesengel im kleinen
schwarzen, wenn sie im letzten akt ihren bereits am boden röchelnden giftopfern
mit stechendem blick mitteilt, dass ihre fünf särge schon bereitstehen vor der
villa. wie heisst es jeweils so schön: wenn sie krimis mögen, mögen sie auch
diese oper.
Samstag, 7. März 2015
MÜNCHEN: MEG STUART, HUNTER
eine
frau sitzt an einem tisch, schneidet konzentriert bilder aus ihrer kindheit und
jugend aus, klebt sie neu zusammen. die frau ist meg stuart, die 50jährige
tänzerin und choreografin aus den usa, die heute in brüssel und berlin arbeitet
(damaged goods). es ist ihr erster solo-abend, und die bilder-schnipselei legt
die spur: während eineinhalb stunden tanzt sich meg stuart in der spielhalle
der münchner kammerspiele durch ihre biografie. der titel des abends („hunter“)
macht deutlich, dass kein sentimentales zurückdenken angesagt ist, sondern ein
mitunter aggressives suchen nach stationen und ereignissen, die sie geprägt,
die in ihrem kopf und in ihrem nach wie vor höchst athletischen körper spuren
hinterlassen haben. eine psychische und physische erinnerungsarbeit, an der sie
das publikum teilhaben lässt. zu einer sehr suggestiven tonspur aus geräusch-,
gesprächs- und musikfetzen entstehen expressive bilder und bewegungen, berührend,
beklemmend, erschöpfend – das bild einer vielschichtigen choreografin, neu
zusammengeklebt. und bevor sie, kreisend und schreiend, zu einem höchst ironischen yoko-ono-finale
ausholt, setzt sie sich zum publikum und erzählt ein paar geschichten aus ihrem
leben, in vertraulichem ton: wie sie tänzerin wurde, weil sie sich wie eine lieblings-trickfilmfigur
zum verschwinden bringen wollte. oder wie sie sich jetzt, wo ihre grosse kollegin
trisha brown an demenz leidet, immer wieder fragt, was wir wohl träumen werden,
wenn wir uns nicht mehr erinnern.
Freitag, 6. März 2015
MÜNCHEN: SING MAL WAS AUF RUSSISCH
keine
party und kein abend mit freunden, wo genija rykova diesen satz nicht hören
muss: „sing mal was auf russisch!“ rykova ist schauspielerin am residenztheater
in münchen und hat sibirische wurzeln. jetzt erfüllt sie diesen wunsch gleich
abendfüllend, tritt im marstall mit timoschenko-frisur und im aufreizend
knappen glitterschwarzen auf, nicht als genija rykova, sondern als irina
klischevetskaja. und singt sich, nomen est omen, ironisch den ganzen klischees
entlang, singt all die volkslieder und schlager von bären und beeren und
birken am baikalsee, von aufgeschlitzten müttern und dem mann mit der axt. mit samtener
stimme kostet sie all die zisch- und schlürflaute ihrer muttersprache lustvoll
aus und die melancholie fliesst ihr literweise über die lippen. ein ganz und
gar unpolitischer abend also. begleitet wird genija/irina von einer formidablen
vierköpfigen jazzformation (die sie als ihre vier sibirischen brüder
vorstellt), was die russische folklore einerseits ganz hervorragend erträgt und
dem konzert anderseits, in raumgreifenden instrumentalsoli etwa, auch eine
zusätzliche, reiche dimension verleiht. zwischendurch werden russische gewürzgurken
durch die dichten publikumsreihen gereicht und wodka ausgeschenkt, nicht aus
der flasche, sondern gleich aus dem 20-liter-kanister. man könnte von russland
träumen. wenn man denn ausgerechnet jetzt von russland träumen wollte.
Donnerstag, 5. März 2015
OUARZAZATE: LAMM-EINTOPF
„la
caravane des épices“ – was für ein märchenhafter name für einen laden in einer
unscheinbaren seitenstrasse in einem unscheinbaren aussenquartier von
ouarzazate. aber „la caravane des épices“ ist eben nicht einfach eine unscheinbare
gewürz-boutique, sondern eine akkurat eingerichtete apotheke, die neben
sandelholzölen und arganölen und anderen köstlichen essenzen auch erlesene gewürze
verkauft. in diesem kleinen paradies haben wir im herbst unser ras el hanout
erstanden, den duft marokkos: eine mischung aus über 25 gewürzen, darunter
koriander, kurkuma, paprika, muskat, anis, chili, kardamom, lavendel, rosenblätter.
und mit diesem gedicht von gewürz bereiten wir seither unseren lamm-eintopf zu,
kein original marokkanischer, sondern ein marokkanisch inspirierter. wer´s auch
probieren will, braucht dazu: 800 gramm lammschulter, 1 grosse zwiebel, ½ rande,
½ sellerie, 6 kartoffeln, 2 rüebli, ½ quitte, 15 dörraprikosen, rotwein,
bratensauce, ras el hanout, geröstete mandeln, kümel, sesam, frischer koriander. – rande
und quitte mit etwas rotwein in einem separaten topf knackig kochen und später
unters hauptgericht mischen. fleisch und zwiebel würfeln, würzen und anbraten,
auf kleinem feuer garen, später gemüse und früchte beigeben, am schluss mandeln,
sesam und koriander. und schon macht die caravane des épices auch in
mitteleuropa halt.
Montag, 16. Februar 2015
MÜNCHEN: MARIA STUART
„aha“,
sagt sie trocken, als man ihr kundtut, dass sich auch ihr letzter
vermeintlicher vertrauter abgesetzt hat („der lord lässt sich entschuldigen, er
ist zu schiff nach frankreich“). aha. dann bricht bei königin elisabeth von
england die ganze einsamkeit und verzweiflung durch, in die sie sich mit dem
todesurteil gegen maria stuart manövriert hat, die königin von schottland, ihre
cousine und rivalin. fassungslos und bleich steht sie allein auf der bühne der
münchner kammerspiele, ein unkontrolliertes zucken überwältigt ihr gesicht,
minutenlang und immer heftiger, bis sich der eiserne vorhang vor ihr senkt. ein
letzter grossartiger auftritt von annette paulmann, deren elisabeth nur
vordergründig eine starke und mächtige frau ist; hinter der fassade bewegt sie
sich unsicher und kommt im netz aus eifersucht, intrigen und demütigungen kaum
mehr zu luft – ihr enggeschnürtes, hochgeschlossenes, schrecklich gelbes
königinnenkleid ist mehr korsett als prunk. mit brigitte hobmeier ist auch die
stuart erstklassig besetzt, dünnhäutig und schwach und doch bis zur letzten
minute ihres lebens von einer moralischen energie beseelt, die sie nicht
triumphieren, aber doch immer wieder an menschen glauben lässt. regisseur
andreas kriegenburg sperrt die beiden gegenspielerinnen und das männliche
personal in einen bunker aus betonwürfeln, einzig die sprache sorgt für dynamik
zwischen den figuren. die sprache so sehr im zentrum, ein mutiger entscheid, da
sich ganz offenkundig auch grosse schauspieler in schillers komplex
gedrechselten versen nicht mehr einfach heimisch fühlen. aha.
Sonntag, 15. Februar 2015
MÜNCHEN: ERFOLG
bauen,
brauen, sauen – das sei das leitmotiv gewesen, damals in münchen, als lion feuchtwanger
1930 seinen roman „erfolg“ veröffentlichte – ein gewaltiges panorama der
abgründe in bayerns seele und in bayerns politik. diesem 750-seiten-buch und
seinem autor widmete das münchner literaturhaus jetzt eine exzellente
ausstellung: das personal des romans wird hier lebendig, das in jeder beziehung
wilde leben der zwanziger jahre und nicht zuletzt auch die situation des
jüdischen schriftstellers in diesem zunehmend schwierigeren umfeld. in seiner
autobiografie notierte er in der ihm eigenen mischung aus bitterkeit und
sarkasmus: „die stadt zählte im letzten jahr, das der schriftsteller l.f. in
ihr verbrachte, 137 begabte, 1012 über mittelmass, 9002 normal, 537´284
unternormal veranlagte und 122´963 voll-antisemiten. es beweist die
ungewöhnliche vitalität des schriftstellers l.f., dass er in der luft dieser
stadt 407´263´054 atemzüge tun konnte, ohne an seiner geistigen gesundheit
erkennbaren schaden zu nehmen.“ was für ein erfolg.
Samstag, 31. Januar 2015
MÜNCHEN: GUILLAUME TELL
riesige
schwarze röhren schweben über der riesigen schwarzen bühne. sie sehen aus wie
überdimensionierte kanonenrohre. und wenn sie sich auf den boden senken,
erinnern sie an kräftige baumstämme oder gefängnisgitter. das bühnenbild, das
florian lösche für rossinis „guillaume tell“ an der bayerischen staatsoper
geschaffen hat, ist ein eigenständiges, abstraktes kunstwerk. hier erzählt
schauspielregisseur antú romero nunes in seiner ersten operninszenierung tells
geschichte: kein bergidyll, keine folklore, kein pathos. die erwartungen des
publikums irritiert er auch, indem er ihm schon mal die bekannte ouverture
vorenthält – und sie erst als soundtrack zum apfelschuss nachliefert, wenn
alpenmonster und kindersoldaten des tell-buben hirn durchzucken und ihn
nachhaltig traumatisieren. michael volle als tell (strickpulli, brille, rote
haare) ist hier nicht der gefeierte freiheitsheld, sondern ein trotziger klein-
und wutbürger, der die welt in gut und böse teilt, der verzweiflung meist näher
als der überlegenheit; ein faszinierendes rollenporträt und eine grosse stimme,
kräftig und warm. daneben yosep kang mit strahlendem tenor und krassimira
stoyanova mit dunklem sopran sehr berührend als obwaldnerisch-habsburgisches
liebespaar arnold/mathilde – und auch alle anderen figuren, bis in die letzte
nebenrolle, sind top-besetzt. mit diesem tollen ensemble schafft dirigent dan
ettinger aus rossinis ernsthaftester oper ein musikalisches stimmungsbild, das
sich mit der intelligenten inszenierung aufs eindrücklichste verbindet.
überwältigender applaus für diesen frischen blick auf die anfänge der schweiz.
Dienstag, 27. Januar 2015
MÜNCHEN: DIANA DI LAMMERMOOR
was sollen wir bei kennedys zuhause?
der kennedy-clan, sagte regisseurin barbara wysocka vorab, habe sie inspiriert
für die umsetzung von donizettis „lucia di lammermoor“ (1835) an der
bayerischen staatsoper, der kennedy-clan und fürs bühnenbild der bildband „the
ruins of detroit“. uiuiui, denkt man sich, ziemlich hergeholt und ziemlich
kopfig. doch dann erzählt frau wysocka in einem bröckelnden ballsaal (detroit)
die geschichte der familie ashton zwischen machtgier, glamour und fluch
(kennedy), in den spiessig-bunten kostümen der sechziger zwar, aber ohne
unnötige gags oder us-firlefanz: sie erzählt die geschichte konsequent, spannend, brutal. mit diana damrau steht ihr als lucia eine traumbesetzung
zur verfügung, blond wie hollywood und tough wie hillary; eine starke frau, die
nicht ihre grosse liebe heiraten darf, sondern einen mann verordnet bekommt,
der ins clan-konzept passt, woran sie zerbricht. die damrau ist nicht einfach
diva, sie ist ein theatertier: sie singt diesen berühmtesten wahnsinn der
opernliteratur teils rücklings auf dem kofferraum eines chevrolet-cabrios,
teils wild mit der pistole fuchtelnd und die pistole wie ein irres gegenüber
beschwörend, sie macht – mit furioser mimik und mörderischen koloraturen - diesen
politkrimi zum psychothriller. dass dirigent kirill petrenko, der sämtliche
schichten der partitur freilegt, lucias wahnsinnsarie nicht wie üblich von
einer querflöte begleiten lässt, sondern – wie donizetti das bereits für die
uraufführung gerne gehabt hätte - von einer die melodie leicht verzerrenden glasharmonika,
eröffnet neue, unwirkliche dimensionen. sphärisch. ein grosser abend.
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