estamira
lebt auf einer müllhalde in rio de janeiro. seit über 20 jahren. es gibt einen
dokumentarfilm über sie. jetzt spielt die holländische schauspielerin elsie de
brauw diese estamira an den münchner kammerspielen. an einem ganz und gar
aussergewöhnlichen abend. die bühne ist über und über mit kleidern bedeckt, in
allen farben. estamira sucht darin sich und die welt: sie wühlt und wandert und
schreit herum, mal sind es philosophische satzbrocken, mal chaotische. „did you
hear the storm? it was inside me.“ der belgische choreograf alain platel
konfrontiert diese frau mit zwei tänzerinnen und drei tänzern von les ballets c
de la b, sie tauchen auf aus den kleiderbergen und verschwinden wieder, sie
geben estamiras welt eine form und einen inhalt. dies zu behutsam eingespielter
musik von johann sebastian bach, die teilweise – und sehr innig – von gehörlosen
interpretiert wird, was dem abend auch den titel gab: „tauberbach“. so entsteht
ein panorama der menschlichen regungen: mal erinnern die tänzer an glücklich
spielende und experimentierende kinder, mal lieben sie sich ohne scham wie
tiere, mal arrangieren sie szenen, die an christi leidensgeschichte erinnern,
wild und zärtlich, exstatisch und verletztlich. jeder wird hier andere bilder
sehen, jeder wird anderen gedanken nachhängen. auch estamira ist erstaunte
beobachterin, gelegentlich kommentiert sie, gelegentlich greift sie ein. das
ist sprechtheater, musiktheater und körpertheater in einem – und vor allem ist
es eine vollkommene meditation über das menschsein.
Samstag, 22. März 2014
Montag, 17. März 2014
SURSEE: DIE SCHWARZE SPINNE
es beginnt ganz harmlos. auf der kleinen bühne im somehuus sursee
berichten drei frauen und drei männer mit barocker lust von einem
üppigen taufessen im emmental, von züpfen und braten und vollen bäuchen.
fast beiläufig tauchen die horrorgeschichten aus der vergangenheit auf,
als die zugereiste christine einen pakt mit dem teufel einging, um die
not der talbewohner zu lindern, und dann nicht zur retterin, sondern zum
sündenbock wurde. regisseurin bernadette schürmann interessiert an
gotthelfs novelle von der schwarzen spinne die zeitlose soziale dynamik,
der umgang mit aussenseitern. flink lässt sie die figuren zwischen
erzählen und spielen wechseln, minimale aktion, das wesentliche passiert
in den worten und zwischen den worten: kein offener konflikt wird in
diesem tal ausgetragen, sondern gemeinheiten und ausgrenzungen vergiften
das klima. das gelingt den laiendarstellern ganz vortrefflich, dieses
unterschwellige, heimliche, bedrohliche. kontrastierend zu diesem
bewusst schlichten szenischen ansatz illustriert christian johannes koch
das innenleben der dorfleute mit so raumfüllenden wie rauschhaften projektionen:
blutrote wälder jagen vorbei, dunkle wolken werfen noch dunklere
schatten, schwarze flecken wachsen bedrohlich über alle wände,
dazwischen gellende schreie und gequälte akkordeontöne - keine idylle im
emmental, sondern seelische not und grausamkeit. man versteht
christine gut, wenn sie andeutet, "wie's grumoret hed i mim gmüet".
Donnerstag, 13. März 2014
LEIPZIG: BERSET ERKLÄRT DIE SCHWEIZ
"als schweizer geboren zu werden, ist ein grosses glück. es ist auch schön, als schweizer zu sterben. doch was tut man dazwischen?" so fragte einmal der österreichische schriftsteller alexander roda roda. und der schweizer kulturminister alain berset wagte jetzt bei der eröffnung der leipziger buchmesse eine mögliche antwort auf diese frage: "zurzeit ist man versucht, zu sagen: man verwirrt die welt. und danach erklärt man der verwirrten welt die schweiz." und bersets erklärungsversuch beschönigt nichts: "man muss es zugeben: die schweiz leidet nicht nur an den schweiz-klischees, sie ist auch stets freudig an deren produktion beteiligt..."
Donnerstag, 6. März 2014
BERLIN: WIE MAX FRISCH SCHREIBT
in den
vorabdrucken und rezensionen zu max frischs „berliner journal“ drehte sich,
einigermassen voyeuristisch, alles um seine notizen über schriftstellerkollegen
(johnson, andersch, becker, grass) und den ddr-alltag. jetzt, beim lesen, die
grosse überraschung: wie sehr ihn sein eigenes schreiben umtrieb. berührende
sätze über veränderte wahrnehmung und veränderte wiedergabe: „wenn es zu
erfahrungen kommt, so nur noch durch schreiben.“ (s.62) – „die hormone und die
sprache! tatsächlich wird jeder satz unsinnlich.“ (s.67) – „ich sitze meistens
an der schreibmaschine, weil es mir da am wohlsten ist.“ (s.70) – „nachlassen
der erfindungskraft.“ (s.79) – „beim schreiben kann man wenigstens nachsehen,
was man vorher gesagt hat; aber das verrät auch nicht immer, was man hat sagen
wollen.“ (s.88) – „denken und veröffentlichen sind zweierlei; das schärft
vielleicht das denken.“ (s.93) – „diese schriftlichen anstrengungen gegen das
tägliche vergessen und was dann im netz hängen bleibt: dasselbe, dasselbe,
dasselbe.“ (s.108) – „wenn man nicht genau weiss, was einen beschäftigt.“
(s.137) – „es wäre noch einiges zu sagen, o ja, sogar viel, aber es müsste sehr
genau gesagt sein.“ (s.154) – „ich weiss nicht, was arbeiten. langeweile
rundum.“ (s.163) – max frisch ist da 63. fünf jahre später erscheint „der
mensch erscheint im holozän“. dieser herr frisch heisst da herr geiser.
Mittwoch, 5. März 2014
MÜNCHEN: A VILLAGER FROM ARICAKÖYU
„a
villager from aricaköyu arriving in mahmutbey, istanbul” – 271,5 auf 209,5
zentimeter, grossbild-dia in leuchtkasten, fotografiert 1997 von jeff wall, zu
sehen jetzt in der pinakothek der moderne in münchen. ein mann mit einer
sporttasche, eine strasse, ein stoppelfeld, eine moschee, eine vorstadt,
stromleitungen, rohbauten, niemandsland. man ahnt die träume und sieht die realität. ikonografie der globalisierung. 271,5 auf 209,5 zentimeter.
Dienstag, 4. März 2014
MÜNCHEN: MÄRZ, DOPPELTE PERSPEKTIVE
„manchmal
ist ich sehr schwer“, sagt märz, die hauptfigur in heinar kipphardts gleichnamigem
roman von 1978. alexander märz ist ein hochbegabter, schizophrener künstler,
dem intendant johan simons in der spielhalle der münchner kammerspiele jetzt
einen abend widmet. bettina pommer hat ihm dafür einen hohen, weissen,
klinischen raum gebaut; die zuschauer sitzen auf drei seiten, aufgereiht wie
studenten einer psychiatrie-vorlesung. im fokus steht dann aber keine
krankengeschichte, sondern eine grossartige liebesgeschichte zweier
aussergewöhnlicher menschen. unter den augen von dr. kofler (sylvana krapatsch
mit ausserordentlicher präsenz) turnen thomas schmauser als märz und sandra
hüller als seine ebenfalls kranke freundin hanna in diesem leeren raum herum.
sie reden über reiseträume und naturerlebnisse, über käseherstellung in den bündner
bergen und sex, wirr und herzlich. die beiden spielen den dialog zweimal in
folge, mit identischem text: im ersten durchgang ist märz der aufgedrehte,
chaotische und hanna die liebevolle, naive; im zweiten durchgang ist sie die
unruhige und er der ausgelaugte. dieser perspektivenwechsel ist eine
schauspielerische meisterleistung. er macht deutlich, wie subjektiv die grenzen
zwischen gesund und krank verlaufen, in der gesellschaft und beim einzelnen.
märz verbrennt sich als christus in der krone eines apfelbaums (erfährt man aus
dr. koflers akten). eine schwierige, eine traurige geschichte, die durchaus
auch ihre hellen seiten hat: manchmal ist ich auch sehr leicht.
Montag, 3. März 2014
MÜNCHEN: DER FALL M.
eine
frau steht, nur mit bh und slip bekleidet, im grossen, leeren, dunklen raum.
ihr ist kalt, denn sie hat die welt gegen sich. sie schreit ins leere und sie
schreit stumm in sich hinein. es sind die schreie der verzweiflung nach der
aufnahmeuntersuchung in der psychiatrischen klinik. die lehrerin elly maldaque
wurde 1930 in regensburg nach 17 jahren schuldienst fristlos entlassen, ohne
dass sie sich etwas hätte zu schulden kommen lassen, sie wurde in die anstalt
entsorgt, wo sie wenig später starb. diesen krassen fall von behörden-willkür
hat florian fischer, regie-schüler an der otto-falckenberg-schule, ausgewählt
für seine abschlussinszenierung, die er jetzt im werkraum der münchner
kammerspiele zeigt. unter dem titel „der fall m.“ gelingt ihm mit zwei schauspielerinnen und drei schauspielern eine bewegende collage, die subtil die perspektiven verbindet:
die öffentliche (zeitungen, landtagsprotokolle), die behördliche (akten) und die
persönliche (briefe und tagebuch von elly maldaque). dazu montiert er geschickt
motive von kafka (prozess) und horvath (glaube, liebe, hoffnung) und textfetzen
aus dem noch frischen bayerischen justizskandal um gustl mollath, einem
weiteren fall m. was textlich dicht und konsequent komponiert und fokussiert
ist, wird inszenatorisch überfrachtet mit filmzitaten, dröhnendem helikopterlärm,
musik und einstürzenden bühnenbauten. weniger wäre mehr. ein starker abend
bleibt´s so oder so.
Samstag, 1. März 2014
BRÜSSEL/MÜNCHEN: DIE BAYERISCHE BREZE
jetzt ist es passiert. jetzt hat die eu die bayerische breze offiziell geschützt. auch als brezn oder brezel. nach nur sechsjähriger prüfung. und natürlich wurden zwecks veröffentlichung im europäischen amtsblatt die allertalentiertesten wortartisten aus dem brüsseler amt für kulinarische prosa aufgeboten. das ergebnis lässt da keinen zweifel: "wertbestimmend für den genusswert ist der laugige geschmack in verbindung mit dem röschen, kurzen bruch der breze sowie die wattige, noch weiche beschaffenheit der krume beim verzehr." ein kümmerling, wer da nicht reinbeissen möchte. in die eu.
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