Freitag, 31. Januar 2014

LUZERN: TOLLES PROFIL

sie entwickelt innovative theaterformen. sie schafft grundlegend neues. sie ist eine kreative künstlerpersönlichkeit, die gleichzeitig über einen soliden realitätssinn verfügt. sie weiss, was kommunikation ist. sie begeistert als gewandte gastgeberin. sie schätzt den kontakt zu verschiedenen stakeholdern. sie kann politische zusammenhänge schnell erfassen und adaptieren. sie sorgt als offene und ideenreiche führungskraft hausintern für einen elektrisierenden und motivierenden teamgeist. sie strahlt nach innen wie nach aussen ein hohes mass an dringlichkeit und begeisterungsfähigkeit aus. sie arbeitet mit festivals und dem freien theaterschaffen zusammen. sie verfügt über eine solide praxis und führungserfahrung in einem etablierten haus. schon alles? ja, schon alles. – sie, das ist die „persönlichkeit“, wie sie per inserat in „theater heute“ und „opernwelt“ gesucht wird als neuer intendant oder neue intendantin des luzerner theaters. heute läuft die bewerbungsfrist ab. man darf echt gespannt sein, wie manches dutzend derartige eierlegende wollmilchtheatertiere der deutschsprachige raum derzeit zu bieten hat. vorhang auf!

Sonntag, 26. Januar 2014

LUZERN: ZÄSUR

besuch bei den schwiegereltern im betagtenzentrum. in der cafeteria stelle ich mich mit einem tee in die schlange. als ich an der reihe bin, schaut mich die dame an der kasse kurz an und fragt: "besucher oder bewohner?" besucher oder bewohner?!?! erfreulicherweise zeigt sich meine psychische kondition dieser nahtoderfahrung absolut gewachsen.

Freitag, 24. Januar 2014

ZÜRICH: FULMINANTER WERTHER-COCKTAIL

eine zauberhafte junge frau in einem brautkleid aus weisser seide und mit luftigem schleier steht auf einem erdhaufen und spielt auf einem rubinroten akkordeon melancholische melodien. das ist während eineinhalb stunden im theater am neumarkt in zürich einer der wenigen stillen momente. gegeben wird goethes briefroman "werther" (1774), bis zur unkenntlichkeit remixed mit texten aus roland barthes' "fragmente einer sprache der liebe" (1977). die junge regisseurin laura koerfer entwickelt mit dem fulminanten ensemble eine rasante etude über liebesfreud und -seligkeit und -leid und -elend und -wahn. janet rothe, yanna krüger und maximilian kraus als gleich dreifacher werther und philippe graber als sprach-sucher und conférencier stürmen mit textfetzen durchs leben, wälzen sich und turnen, verkleiden und bespritzen sich, singen "baby, don't hurt me" und lieben sich im trockeneisnebel. kurz, sie zeigen die kräfte und katastrophen der liebe mit den mitteln des pop-theaters. und trotz viel tempo und temperament bleibt die poetische kraft von goethe und barthes immer im zentrum - und damit die frage: wie viel raum geben wir der liebe und wie viel raum lässt die liebe uns?

Donnerstag, 23. Januar 2014

ZÜRICH: EMBRACE THE KILLER BEE

die killerbienen der medienbranche sind die onlineportale. sagt simone meier. unter dem motto "embrace the killer bee" wechselt die "print-biene" (selbstdeklaration) und kultur-edelfeder deshalb nach 16 jahren beim "tages-anzeiger" zum nigelnagelneuen onlineportal "watson". der wechsel, da lässt ihr abschiedsartikel keinen zweifel, scheint ihr nicht nur leicht zu fallen, aber - auch der journalismus tanzt jetzt online: "die menschheit verspürte bei aller nostalgie noch nie den drang, eine technologische entwicklung rückgängig zu machen."

Sonntag, 19. Januar 2014

BASEL: EUGEN ONEGIN, UNTERKÜHLT

teile des basler premièrenpublikums leiden unter chronischem applauszwang: kaum hält das orchester einen moment inne, bricht krankhaftes klatschen los (xeirokrotorrhoe...). das wirkt bei „eugen onegin“ erstens extrem störend – weil tschaikowsky ein „intimes, erschütterndes drama“ vorschwebte – und ist zweitens bei der inszenierung von corinna von rad unbegründet und unverdient. die regisseurin möchte die figuren, die in der russischen provinz lieben und leiden und ihre ungelebten leben zelebrieren, aus kritisch-ironischer distanz sehen, wie dies puschkin im gegensatz zu tschaikowsky in seiner romanvorlage tat. diesen ironischen zugriff allerdings schafft nur, wer sein personal liebt – und frau von rad liebt es nicht und bemüht sich neben kritischer auch noch um coole distanz, woraus eine total unterkühlte atmosphäre resultiert (in einer hässlichen hotellobby), die die protagonisten isoliert und zur schwelgerischen musik tschaikowskys in unüberbrückbarem kontrast steht. die zentrale ballszene gestaltet frau von rad als schräge parodie auf die russenmafia und übersieht dabei völlig, dass hier die eskalation der dreiecksbeziehung zwischen onegin, seinem freund lenski und dessen freundin olga, die später zum tödlichen duell führt, im fokus stehen würde. ziemlich weit am ziel und an der musik vorbei. dass erik nielsen im letzten moment als dirigent einspringen musste, macht den abend auch nicht eben runder. immerhin ganz tolle stimmen, durchs band: eung kwang lee als onegin, sunyoung seo als tatjana, andrej dunaev als lenski, liang li als gremin. in der letzten viertelstunde, endlich, werden sie ins zentrum und in eine echte beziehung zueinander gerückt. ziemlich spät, zu spät.

Sonntag, 12. Januar 2014

MÜNCHEN: RÄUBER. SCHULDENGENITAL

vier alte, zwei paare, sitzen auf einem verkohlten baumstamm und brabbeln über die zeit und das ende, über das warten und den tod; kaffeerunde am rand der katastrophe, das prekariat philosophiert. daneben liegen drei junge stumm in einem aschehaufen. ein arg düsterer einstieg. der österreichische dichter ewald palmetshofer (*1978) hat schillers „räuber“, die sich von ihren ahnen emanzipieren und sie gleichzeitig entsorgen, ins heute phantasiert: die jungen wollen ihre alten nicht pflegen, sie wollen ihnen nicht dankbar sein, sie wollen ihr geld jetzt erben und ihre träume jetzt verwirklichen. palmetshofers in jamben gehaltener, sprachmächtiger text „räuber. schuldengenital“ nimmt das absurde von beckett auf und das redundante von jelinek. regisseur alexander riemenschneider zeigt das stück im marstall des münchner residenztheaters als absolut garstiges märchen über die gräben zwischen den generationen: aus eltern und kindern macht er monster mit hässlichen fratzen, böse feen, widerliche clowns. ein dutzend ballons, die bunten und verspielten träume in dieser brandschwarzen welt, werden regelrecht exekutiert. auch die eltern werden am schluss überfallen und totgeschlagen, die jungen zeugen ein kind, und alle wissen, dass dies kein neuer anfang ist, sondern nur die immergleiche endlose schleife: „ringsum fällt´s an euch vorbei, hinab / was schert´s die zeit / was kümmert sie der sturz der dinge / ihr egal / es zieht die welt vorbei / nach unten halt / hinab.“

Samstag, 11. Januar 2014

MÜNCHEN: EUGEN ONEGIN ALS SCHWULE PHANTASIE

hitzlsperger! die deutschen sind mal wieder in hype-laune, „überbordende begeisterung“ über das coming-out des fussballers, „ein meilenstein der fussballgeschichte“. ach, herrje. politik und kunst sind diesbezüglich doch schon ein schrittchen weiter. selbst an der bayerischen staatsoper, nicht eben treffpunkt der gesellschaftlichen avantgarde, zeigt regisseur krzysztof warlikowski „eugen onegin“ von tschaikowsky als erotische phantasie des komponisten, der seine homosexualität verstecken musste: viel nackte männerhaut in der ballszene, schwule matrosen und schwule cowboys immer wieder, was @rossignol, die operntwitterin meines vertrauens, vor dem wiederholten besuch einer vorstellung zu der herzallerliebsten frage veranlasste: „should i call a taxi or better take a horse to brokeback mountain?“ das duell zwischen onegin und lenski - im original frauenbedingt - findet nicht im handelsüblichen birkenwäldchen statt, sondern als bizarrer streit unter freunden auf der bettkante. diese biografisch unterfutterte perspektive (ausgehend von onegins satz zu tatjana: „die ehe wäre eine qual für uns beide“) stellt sich keineswegs quer zum romantischen melodienpanorama, im gegenteil. generalmusikdirektor kirill petrenko bahnt sich mit dem orchester einen weg tief in die russische seele, brillant pendelnd zwischen melancholie und verzweiflung, und schafft, was vielen bei tschaikowsky nicht gelingt: immer emotion, nie kitsch. von den stimmen muss man sich (leider) nur den tenor edgaras montvidas aus litauen merken, ein lenski mit hellem, magisch elegantem timbre. - ein kommentar zur zunehmend dramatischen situation homosexueller in russland ist die inszenierung im übrigen nicht; die première fand lange vor putins neuster hatz statt.

Freitag, 10. Januar 2014

MÜNCHEN: CASA SARDA - A DOPODOMANI

sonnenschein bei jedem wetter: mario, der sarde aus borore, ist die gute seele vom elisabethmarkt. er freut sich am leben, an seinem und an unserem, er strahlt und erzählt und futtert in seinem häusl in der hintersten ecke des marktes halb schwabing durch, am mittag die schülerinnen des nahen gymnasiums, am nachmittag die senioren, am samstag die bussibussis und manchmal auch alle gleichzeitig. marios „casa sarda“ ist kaum grösser als eine waschküche, aber sie hat´s in sich: mehr trattoria als marktstand. der absolute höhepunkt sind die antipasti per due, liebevoll präsentiert auf einer riesigen scheibe pane carasau: gefüllte peperoncini, gegrillte artischoken und auberginen, eingelegte zwiebeln, knoblauch-oliven, pecorino sardo, basilikumzipfel, rohschinken- und coppatranchen, ein kulinarisches und farbliches feuerwerk, cinque stelle. jeden tag bereitet mario neue pasta-kreationen zu, mit kürbis, speck, feigen, safran, trüffel, alles con cuore. dazu kommt eine auslage mit erlesensten wurst- und käseköstlichkeiten, von denen 100 gramm der einfachheit halber alle gleich viel kosten, ein überzeugendes geschäftsmodell, schliesslich will mario die zeit ja nicht mit rechnen vergeuden. schon nach unserem ersten besuch blinzelt er uns zu: „ciao, a domani.“ der kleine sarde ist ein grosser marketing-profi. domani können wir nicht. ganz bestimmt aber dopodomani.

Mittwoch, 1. Januar 2014

SERNEUS: UNSCHULDIGE BELUSTIGUNGEN

aus den "baad- und aufführungs-regeln des gesund- und heil-baads serneus" vom 17. heumonat 1762: "(...) von 8 bis 9 uhr gehet man in das baad. von 9 bis 10 uhr ist zum ausdünsten und anziehung säuberlicher kleidern bestimmt. 10 bis 12 uhr ist zum spazieren bey schönem wetter, und beym regen zum spielen, conversiren oder andern unschuldigen belustigungen gewidmet." unlustige beschuldigungen? unschuldige belustigungen! der nahe zauberberg lässt grüssen.