„was
für ein schönes wetter heute. nicht heiss.“ „bei solchem wetter ist es schön,
sich aufzuhängen.“ willkommen in der enge der russischen provinz. karin henkel
(und johan simons, der die proben an den münchner kammerspielen nach ihrer
erkrankung zu ende führte) stecken das personal von tschechows „onkel wanja“ in
einen kaum fünf meter breiten, schwarzen passepartout, eine art kasperletheater
für erwachsene. sieben leute auf engstem raum, das zwingt zu totaler reduktion
und führt zu brillanter konzentration: jedes wort, jede geste, jeder blick
sitzt – und verletzt mindestens einen der anwesenden. alle nörgeln an allen
herum, keiner gönnt einem ein quäntchen glück, es sind verpfuschte und vergeudete
leben auf diesem landgut; es dominiert die „skúka“, das leere warten auf ferne,
unbestimmte ereignisse. „aus mir hätte ein dostojewskij werden können… ein
schopenhauer…“, sinniert benny claessens´ von sich selbst erschöpfter onkel
wanja und schiebt seine phlegmatischen pfunde vor sich her. langeweile und
perspektivenlosigkeit weichen allmählich schierer verzweiflung: dieser mann heult und
schwitzt und zittert am ganzen körper, als er realisiert, dass die zukunft auch
nicht mehr das ist, was sie noch nie war. vorhang. begeisterter applaus. es ist
the final curtain: saisonende jetzt auch hier.
Montag, 29. Juli 2013
Sonntag, 28. Juli 2013
MÜNCHEN: REQUIEM UNTERM STERNENHIMMEL
es
beginnt zur heure bleue. die leute legen ihre badetücher, wolldecken und
sitzkissen aus, drappieren ihre picknickkörbe, futtern knackwurst und
tomatensalat aus plastikbehältern, suchen verzweifelt ihre brillen oder
vergnügen sich mit ihrem iphone. es sind tausende. der stattliche max-joseph-platz
vor der staatsoper und der residenz in münchen präsentiert sich an diesem abend
wie ein stark überbuchtes strandbad. „oper für alle“ heisst das happening, bmw
zahlt. und jetzt giuseppe verdis „messa da requiem“? totenmesse, hier und jetzt?
geht nicht! geht doch: kaum erklingt, pianissimo, der erste ton, legt sich eine
grosse andacht über die szenerie, und sie hält an, die ganzen 85 requiem-minuten lang. es liegt nicht nur am dirigenten zubin mehta (den die „süddeutsche zeitung“
gerade eben als „gefühlsüberschwangentfacher“ bezeichnete) – es ist die musik,
die auch dieses wunder schafft: alt und jung in meditative stille gebeamt. wie
ekaterina gubanova und rené pape das „lacrimosa“ in die nacht hinaus mehr beten
als singen, das geht tatsächlich tief, selbst in dieser open-air-kulisse. und
zum schluss das hoffnungsfrohe „libera me“, der wunsch, von allen qualen
befreit zu werden, unter dem sternenklaren nachthimmel. was will man mehr?
Dienstag, 23. Juli 2013
VENEZIA: DIE SCHLANGE UND DAS TÖFFLI
es
muss, nach all den biennale-freuden, doch noch gesagt sein: der schweizer
pavillon in venedig ist eine herbe enttäuschung. der walliser künstler valentin carron
zeigt dort eine metallschlange, die sich durch die praktisch leeren
räume windet, und ein töffli (ciao n.6), das im vorhof parkiert ist. ziemlich
schlichte angelegenheit, die dann allerdings auf dem aufliegenden handzettel
durch üppigste kuratoren-prosa aufs heftigste geadelt wird: „er findet seine
inspiration meist in der region, aus der er stammt und in welcher er nach wie
vor lebt. der künstler entwickelt so einen diskurs über das regionale, aber
auch über die ästhetischen und interpretatorischen missverständnisse, mit denen
sich die idee des ‚modernen‘ häufig konfrontiert sieht.“ wir sahen vor lauter
schlange die missverständnisse gar nicht… und zum töffli: „carrons kunst
wechselt oft und gern die ebene, und der künstler vermag, wie nur wenige
andere, in ein und demselben raum brutalität und eleganz nebeneinander bestehen
zu lassen. (…) das ergebnis kommt dem nahe, was wir als modifiziertes readymade
definieren könnten. (…) dank der überraschenden veränderungen des kontextes und
der heterogenität der ausgestellten werke gelingt es dem künstler, dem publikum
die komplexität der frage nach skulptur zu vermitteln, ohne dabei jemals
didaktisch zu werden.“ ganz im gegensatz zum kuratoren-handzettel. der kontrast
zwischen dem schwulst dieser mitgelieferten texte und der einfachheit der
exponate führt immerhin zum rätselraten, ob das ganze nun als parodie oder als
provokation gedacht sein mag. vielen besucherinnen und besuchern ist allerdings
nicht nach rätseln zumute; sie verlassen den pavillon lustlos oder grimmig.
Montag, 22. Juli 2013
VENEZIA: IL PALAZZO ENCICLOPEDICO
und
plötzlich diese ruhe. venedig im sommer ist ziemlich überbevölkert, man weiss
es ja, doch die beiden grossen biennale-areale, giardini und arsenale, sind
wahre inseln der kontemplation. und ein fest für die sinne. einer dieser
sinnlichen höhepunkte ist der „campo de color“ im lateinamerika-pavillon, weit
über 100 tonteller mit kleinen gewürzbergen, intensiver curry-geruch, doch nicht
nur gelb und orange, auch blau, türkis, purpur – alle farben dieser welt. das
will die biennale 2013 ganz offensichtlich, alle farben dieser welt abbilden,
wissen und reflexion aus allen erdteilen, und sie steht unter dem ganz hübsch
unbescheidenen motto „il palazzo enciclopedico“. da sieht man türkische
bodybuilder, eine überdimensionierte chinesische pissoir-schüssel in silber, sterbende
finnische bäume, pferde mit bein-prothesen, einen zu klein geratenen
picasso in bronze. diese kunst setzt sich ganz intensiv mit dem richtigen leben
auseinander. man schaut und staunt und schmunzelt und denkt nach. es ist ein stundenlanges
lustvolles eintauchen. apropos eintauchen: im chilenischen pavillon hat alfredo
jaar ein fünf mal fünf meter grosses modell des biennale-areals nachgebaut, das
in einem grossen wasserbecken steht und plötzlich in den trüben fluten versinkt.
biennale am ende? venedig am ende? kunst am ende? welt am ende? während man
meditiert, taucht das durchnässte gelände plötzlich wieder auf. gerade noch mal
gut gegangen.
Sonntag, 21. Juli 2013
VERONA: ES LOHNT SICH MAL WIEDER
200
jahre verdi, 100 jahre opern-festival im historischen gemäuer: da musste sich
sogar die total traditionell gestrickte arena di verona mal was einfallen
lassen. sie zeigt im august eine rekonstruktion der „aida“-inszenierung von 1913
(eben!), aber sie liess die „aida“ parallel, resp. vorgängig auch neu inszenieren
durch carlus padrissa und àlex ollé von la fura dels baus. „arena? klar,
können wir!“ haben sich die beiden gesagt, immerhin gestählt durch die
erfahrung mit der gigantischen eröffnungsfeier der olympischen spiele von
barcelona. und diese neue „aida“ ist tatsächlich ein lichtblick! padrissa und
ollé erzählen die dreiecksgeschichte von der äthiopischen sklavin, dem
ägyptischen feldherrn und der rivalin als zeitloses (nicht modernes) märchen, mit
dem absoluten gespür für tolle, aber nicht zu viele effekte: die
überdimensionierten elefanten und kamele sehen aus wie
hightech-kinderspielzeug, hunderte von sklaven tragen leuchtende mondkugeln
durch parkett und bühnenrund, am arena-horizont flammen hieroglyphen-fackeln auf, und
als aida und radames ihrem tod entgegensingen (im original: eingemauert in einem
tempel-gewölbe), senkt sich ein gigantisches solarpanel über die
beiden und bringt – wie die musik – licht, erlösung, seligkeit. ein spektakel
für auge und ohr, volkstheater im besten sinn. besonders erfreulich: hui he
(aida) und jorge de léon (radames) verfügen über stimmen, nicht einfach über
voluminöse arena-trompeten. das hätte auch verdi gefallen.
Sonntag, 14. Juli 2013
VYRITSA: DAS LEBEN AUF DER DATSCHA
"das leben auf der datscha besteht aus dem leben auf der datscha." hat möglicherweise tschechow gesagt. hat aber ganz bestimmt irene fleischlin gesagt, unsere russische freundin mit dem schweizer namen. und wie recht sie hat.
Samstag, 13. Juli 2013
ST. PETERSBURG: KAZNACEJSKAJA-TRÄUMEREIEN
grazdanskaja ulica, kanala griboedova,
voznesenskij most, allein schon die strassennamen sind poetische miniaturen,
voller phantasie und voller melodie. wir flanieren im quartier, wo dostojewskij
gelebt hat; es ist eine pracht, eine vergangene pracht. aus dem eckfenster an
der kaznacejskaja ulica nr. 7, wo die petersburger heute noch liebevoll blumen
deponieren, hat er das leben beobachtet – und verdichtet. „dieses geschäftig
eilende egoistische und stets gedankenverlorene volk hat für mich um acht uhr
früh etwas besonders anziehendes. (…) sie alle hasten und überschlagen sich,
aber wer weiss, vielleicht wird das alles von irgend jemand geträumt, und es
gibt hier nicht einen einzigen menschen, einen echten, richtigen menschen, und
nicht eine einzige wirkliche tat? irgend jemand, dem dies alles träumt, wird
plötzlich aufwachen – und alles ist plötzlich verschwunden.“ (fjodor
dostojewskij, ein grüner junge) – auch die befindlichkeit nach den kulinarischen,
alkoholischen, musikalischen und anderweitigen freuden der weissen nächte hat good old
fjodor in diesem eher unbekannten roman schon wunderbar auf den punkt gebracht:
„ich weiss nicht mehr, wie ich eingeschlafen bin, aber ich schlief einen festen
und süssen schlaf.“
Dienstag, 9. Juli 2013
ST. PETERSBURG: WAGNER AUF DER COSTA CONCORDIA
in einer coolen lounge am meer steht, ganz allein, eine frau in einem hautengen feuerroten cocktailkleid und blickt regungslos auf die wellen, die immer grösser werden. "der fliegende holländer", ouverture, ein vielversprechender anfang für die sage vom über alle weltmeere irrenden kapitän. doch dann ist vorbei mit ruhe und romantik, dann gibt's nur noch rambazamba: der holländer, in einer beziehungskrise, taucht in einem hotel den kopf zum goldfisch ins aquarium und stürzt mit einem rollkoffer durch die zimmer und die jahre; mädels lümmeln mit kopfhörern in den liegestühlen herum; jungs interessieren sich (achtung, matrosenchor!) nur für ihr neues surfbrett; in den hintergrund werden ausschnitte aus einer holländer-verfilmung von 1953 gebeamt, während senta kette raucht, was ihre stimme auch nicht runder macht; als der holländer ihr seine sehnsucht erklärt, stapelt sie die wäsche vom vortag, und beim liebesduett im 2. akt kleidet sie ihn ein wie francesco schettino, den unglückskapitän der costa concordia - womit diese neuinszenierung am mikhailovsky-theater in st. petersburg definitiv bei der buffonesken parodie gelandet ist. der junge regisseur vasily barkhatov degradiert wagners oper zum oberflächlichen spass-musical, zu laut, zu grell, zu üppig, alles überladen und alles so konsequent sinnfrei, dass die ganze oper absäuft wie die costa concordia und dann in totaler schieflage auf grund liegt. was dem armen wagner (und dem armen wagner-liebhaber) in diesem jubiläumsjahr nicht alles zugemutet wird!
Montag, 8. Juli 2013
GISWIL: ANDALUCIA MEETS MUOTATHAL
überschäumendes temperament gehört nicht zu den herausragendsten eigenschaften der obwaldner. deshalb laden sie sich das temperament einfach immer wieder ein. dieses jahr zum beispiel die familia bermudez aus andalusien als gasttruppe am volkskulturfest "obwald" im wald bei giswil. der feurige flamenco-clan bretterte mit einer wucht über die open-air-bühne, dass man hoffte, eine der vielen schreinereien in obwalden biete einen 24-stunden-notfalldienst. mit zittern, stampfen, beben und mit teils diabolischer mimik erzählten sie geschichten voller glut. bis zu 240 schläge pro minute, steht im programmheft; ich bin restlos überzeugt, dass es teilweise noch deutlich mehr waren. nicht ganz einfach, diese ausgangslage, für die muotathaler, die als zweite gastregion den beweis anzutreten hatten, dass es der entfesselte klopftanz (vulgo: bödälä, oder im muotathal gäuerlä) auch in den alpinen gegenden durchaus weit gebracht hat. doch auch die schweizer zeigten faszinierende holzschuh-und-balz-akrobatik. den totalen kontrast zu dieser rast- und grenzenlosen bretterei lieferte dann "natur pur" ebenfalls aus dem muotathal, sechs junge männer, die den naturjuiz von ihren vätern erlernt haben, in seiner reinsten, ehrlichsten form, klar und hell und aus tiefster seele. auch das ist feuer. höhenfeuer.
Samstag, 6. Juli 2013
LUZERN: SEITE 133
wenn
ich in einer buchhandlung rumstöbere und nicht sicher bin, ob ich ein buch
kaufen soll oder nicht, dann schlage ich immer seite 133 auf. es ist die
entscheidende seite. „hoch über dieser stille, über der welt, über zwei
verfeindeten städten, rabat und salé, und ein paar rätselhaften ruinen, hingen
khalid und ich, jeder für sich, unseren träumen nach.“ (abdellah taïa, der tag
des königs, s.133) - „es ist nichts los, schon lange kein krieg mehr, die
internationale verwaltung hat alles verboten, was die menschen in dieser gegend
aufregend finden, und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als katzen zu
überfahren.“ (miljenko jergovic, freelander, s.133) - „durch einen spalt zwischen
den vorhängen sah ich lenins söhne, die im hof auf und ab gingen. wieder war
etwas zeit vergangen, denn am oberen ende der langen tafel hatten turchina und
ihr bräutigam eine andere farbe angenommen.“ (antonio moresco, aufbrüche,
s.133) - „meine mutter drehte fast durch. mein vater hatte mich – ein achtjähriges
kind – zurückgelassen, um auf den bmw aufzupassen, mitten im wald voller wölfe
und vielleicht auch mörder vom schlag eines charles manson.“ (alberto fuguet,
die filme meines lebens, s.133) - auf seite 133 sind die autorinnen und autoren in
fahrt und am ehrlichsten. hier packen sie mich. oder nicht. bedeutend mehr als
mit dem ersten satz, wo sie den erwartungsdruck im genick sitzen haben und entsprechend
nervös sind, oder mit dem letzten, wo sie noch so viel zu sagen hätten. seite 133 ist enttäuschung oder versprechen. seite 133 entscheidet.
Freitag, 5. Juli 2013
LUZERN: MEHR ZEIT DANK KLEINSCHREIBUNG
da stiess ich doch neulich auf dieses zitat, eine rhetorische frage: "welche kräfte werden gespart, wenn die schreibmaschine die grossen staben fallen lässt?" das fragt walter porstmann, der erfinder des din-formats. respektive: er fragte, nämlich bereits 1920. es war dies ein frühes plädoyer für die kleinschreibung als zeit- und energiesparmassnahme. die frage liess mich nicht mehr los, und die antwort ist verblüffend: mal angenommen, man schreibt pro jahr 167 a4-seiten; mal angenommen, auf einer durchschnittlichen seite tummeln sich 200 grossbuchstaben; mal angenommen, der motorische und mechanische aufwand für einen grossbuchstaben nimmt 0,38 sekunden in anspruch - dann verschwendet man pro jahr 212 minuten. 212 minuten! pro jahr! so lange dauert "ben hur" oder eine eisenbahnfahrt von luzern nach mailand oder die zubereitung einer bouillabaisse für sechs personen. wenn das keine perspektiven sind. ab sofort schreibe ich nicht mehr nur aus gründen der visuellen ästhetik alles klein.
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