200
jahre giuseppe verdi, 200 jahre richard wagner – schön war’s, inspirierend war’s,
üppig war’s: „un ballo in maschera“ in basel, „la traviata“ in luzern, „nabucco“
in stuttgart, „der fliegende holländer“ in st.petersburg, „messa da requiem“ in
münchen, „wagner – wie ich welt wurde“ in zürich, „aida“ in verona, „die
walküre“ in luzern, „il trovatore“ in münchen. erfreulich viele neue ansätze, ziemlich
nahe an der überdosis. jetzt geht dieses kunterbunte verdi-und-wagner-jahr zu
ende, jetzt freuen wir uns wieder auf all die anderen komponisten, sie müssen
auch gar nicht extra einen runden gedenktag mit sich rumschleppen. aber das
schlusswort nach diesem monatelangen musik-marathon sei den beiden herren doch
noch gegönnt. giuseppe verdi: „das publikum soll streng sein, soll pfeifen,
aber sein beifall soll mich zu nichts verpflichten.“ richard wagner: „in dem wogenden
schwall, in dem tönenden schall, in des welt-atems wehendem all – ertrinken,
versinken – unbewusst – höchste lust!“ stille. sonne. vorhang.
Dienstag, 31. Dezember 2013
Samstag, 21. Dezember 2013
MÜNCHEN: DISGRACE/SCHANDE
mal ist der täter schwarz und das
opfer weiss, mal ist der täter weiss und das opfer schwarz. erniedrigung,
schiessereien, nötigung, raub, vergewaltigung, das volle programm, kein
leichter abend. weshalb dieses stück, weshalb jetzt? „disgrace“ von j.m. coetzee erschien 1999, ein roman über das
schwierige zusammenleben im südafrika der post-apartheid. regisseur luk
perceval bevölkert die bühne der münchner kammerspiele für seine version von „schande“ mit vier dutzend
schwarzen schaufensterpuppen, stummen farbigen beobachtern, doch mehr als die
politische dimension interessiert ihn die universelle (deshalb dieses stück, deshalb jetzt): was die triebe mit den
menschen anrichten und wie sexuelle übergriffe jedes leben aufs radikalste
verändern. stephan bissmeier zeigt professor lurie, der gerne eine kammeroper
über lord byron schreiben würde, wegen einer affäre mit seiner studentin melanie
dann aber den uni-job verliert, als gefangenen seiner begierden, in brenzligen
situationen wahlweise zynisch oder aggressiv reagierend. vielschichtiger
angelegt ist seine tochter lucy, lesbisch und auf dem land lebend, wohin sich
lurie flüchtet; nach einer vergewaltigung durch schwarze jungs entscheidet sie
sich, das kind zu behalten. warum, das bleibt ihr geheimnis, sie macht nicht
viele worte, doch brigitte hobmeier lässt keinen zweifel, wie sehr sie um diese
entscheidung gerungen hat und wie sehr sie hofft, die richtige antwort gefunden
zu haben. diese inszenierung bietet eine tiefenbohrung in einer welt, die nicht
einfach schwarz/weiss ist. unmittelbar vor mir, in reihe 1, sitzt ein pärchen,
er ü60 mit akkurat geföhnter grauer mähne, sie u30; sie halten händchen,
turteln, flüstern sich pennälermässig dinge ins ohr. sie könnten professor
lurie und seine studentin sein, doch das stück scheint ihnen nichts zu sagen.
seltsam.
Sonntag, 15. Dezember 2013
BEIJING: CHANG'E 3
14.12.2013 - dieses datum sollte man sich merken. erstmals ist ein chinesisches raumschiff auf dem mond gelandet. ein moment von grosser symbolischer bedeutung: china holt auf. und zwar exakt so, wie chang'e 3 auf dem mond aufgesetzt hat, "ohne viel staub aufzuwirbeln" (o-ton chinesisches staatsfernsehen).
Samstag, 23. November 2013
MÜNCHEN: GHETTO
berge
von kleidern bedecken die grosse bühne im münchner volkstheater, schwarze
kittel, schwarze hosen, schwarze hemden. es sind die kleider der toten juden aus
dem ghetto von wilna/vilnius, 50´000, 60´000, vielleicht noch mehr. leichenberge
als kleiderberge – auf diesem chaotisch-düsteren terrain siedelt christian
stückl „ghetto“ von joshua sobol an. ein paar ghetto-juden spielen hier
ghetto-theater, weil theater hilft, das schöne und gute nicht zu vergessen;
weil theater hilft, die richtigen fragen zu stellen; weil theater hilft im
kampf, ein mensch zu bleiben; weil theater ablenkt. srulik und seine freche
bauchrednerpuppe mit unnachahmlichem reich-ranicki-sprech halten die truppe
über wasser, robert joseph bartl spielt das absolut berührend zwischen
abnehmender hoffnung und zunehmendem humor. er bleibt das warmherzige zentrum
in diesem stück, das ganz beiläufig immer wieder die harten moralischen fragen
stellt: darf man einige menschen opfern, wenn man viele andere retten kann?
darf man die medikamente der todgeweihten zurückhalten für jene mit
überlebenschancen? darf man mit nazis kollaborieren, wenn es den juden nützt?
obwohl die jungen schauspieler ihre figuren (den ss-offizier, den jüdischen
ghetto-chef, den geschäftstüchtigen schneider) oft gefährlich nahe am klischee
spielen, wird der abend nie oberflächlich, sondern bleibt – dank srulik und
dank der sensiblen präsenz von drei klezmer-musikern auf offener bühne – ein
melancholischer und beklemmender totentanz. eine hoffnung gibt es nicht, für
niemanden, aber es gibt das theater.
Donnerstag, 21. November 2013
MÜNCHEN: DIE FRAU OHNE SCHATTEN
am
21.november 1963 wurde die wiederaufgebaute bayerische staatsoper mit richard
strauss´ „die frau ohne schatten“ eingeweiht. auf den tag genau 50 jahre später
gibt kirill petrenko, der kleine prinz des musiktheaters, mit dem gleichen werk
sein début als generalmusikdirektor an diesem haus. und wie! das märchen von
zwei ungleichen paaren, einem aus der zauberwelt und einem irdischen, die beide
keine kinder kriegen, weil die eine frau nicht will und die andere nicht kann
(also „ohne schatten“ ist), und die dann fruchtbarkeit gegen ewige jugend
tauschen wollen, dieses komplexe märchen leuchtet petrenko in allen farben aus;
traumwandlerisch findet er mit dem bayerischen staatsorchester und hochkarätigen solisten den mittelweg
zwischen transparenz und geheimnissen und liefert so den perfekten soundtrack
zur psychoanalyse oder, sehr treffend im programmbuch, zur „pathografie der
zeitgenössischen ehe“. kongenial verlegen der polnische regisseur krzysztof
warlikowski und seine bühnenbildnerin malgorzata szczesniak (die psychologie
studiert hat!) die handlung in ein kurhaus, spielen mit visuellen elementen aus
„zauberberg“, „l’année dernière à marienbad“ und „rosenkavalier“ und tauchen
ein in die wünsche, träume und blockaden der beiden paare. betörend und
verstörend. einem scheuen reh entschlüpft ein kleines mädchen mit feuerrotem
haar und blutrotem kleid, in einem riesigen aquarium schwimmen nur fünf
(tote) fische, auch king kong schaut vorbei und wir werden mit den
protagonisten durch furchterregende wälder und menschenleere friedhöfe gejagt, prüfung
und erlösung: willkommen in der praxis dr. freud! und am ende die utopie: „die
stimmen der ungeborenen“ als 80köpfige, bühnenfüllende kinderschar, bunt und
wild und von heute. 80 möglichkeiten für morgen.
Mittwoch, 20. November 2013
LUZERN/BAYREUTH: FRAU WAGNER UND HERR HITLER
sie
war meine nachbarin. luzern, schweizerhausstrasse 5, gute gegend. für mich
(3.etage) war es die erste eigene wohnung, für frau wagner (1.etage) die
letzte, den estrich teilten wir uns. friedelind wagner war die enkelin von richard
wagner. durch eine glückliche fügung sind mir jetzt, viele jahre später, ihre
jugenderinnerungen in die hand gekommen: „nacht über bayreuth“, dittrich-verlag.
als mädchen und junge frau erlebte sie, wie hitler bei ihren eltern ein und aus
ging, ein stammgast bei den festspielen, die vier kinder nannten ihn „onkel
wolf“, friedelind besuchte ihn mehrmals auch in berlin. das buch liest sich wie
eine reportage - nicht nur aus der villa wahnfried, sondern aus dem innersten
zirkel der nazi-hölle. friedelind beobachtete scharf und schrieb mit spitzer
feder: „es wollte mir nicht in den kopf, wieso männer und frauen, die sonst
völlig normal zu sein schienen, in seiner gegenwart offensichtlich den verstand
verloren, puterrot im gesicht wurden, ihre tassen fallen liessen und in
hysterische wein- oder lachkrämpfe ausbrachen. oft hoben sie, wenn sie mit ihm
sprachen, ihre stimme ganz unbewusst um mindestens eine oktave.“ friedelind
sagte sich los von ihrer mutter winifred, einer der glühendsten und unverbesserlichsten
hitler-verehrerinnen, und von ihrer familie, sie emigrierte und gilt vielen
wagnerianern noch heute als schwarzes schaf des clans. ihr weg war die ebenso
mutige wie konsequente emanzipation einer damals 26jährigen: „im festspielhaus
hatte der nazismus mit seiner falschen emphase und seiner falschen bewertung
der dinge alles so beschmutzt, dass ich den kaum zu unterdrückenden wunsch
empfand, das ganze gebäude zu verbrennen.“ friedelind wagner starb 1991. nur
einige wenige leute wissen, wo sie ihre letzte ruhe fand. in bayreuth liegt sie
nicht.
Sonntag, 17. November 2013
MÜNCHEN: DER FLUCH DER DREHBÜHNE
für
verdis „trovatore“ hat pierre-andré weitz der bayerischen staatsoper eine
gigantische drehbühne mit einer art bergwerk gebaut, mit blechhütten und einer dampflok,
mit leitern, aufzügen und riesigen zahnrädern (nun ja, die oper als kraftwerk
der gefühle wieder mal). ein bühnenbild fast noch komplexer als die story von
den zwei brüdern luna und manrico, die für unterschiedliche politische ideale,
aber um die gleiche frau kämpfen, ohne zu wissen, dass sie brüder sind. weil so
eine drehbühne enorm aufwändig ist, muss sie amortisiert, also dauerbewegt werden.
nicht sopran, mezzo, tenor und bariton sind hier die protagonisten, sondern
geschätzte 40 bühnenarbeiter, die das monströse teil permanent schieben,
drehen, wenden. bei so viel aktivismus und so vielen visuellen reizen bleibt
paolo carignanis dirigat, das nicht auf vordergründige effekte, sondern auf
differenzierte zeichnung setzt, einigermassen chancenlos. die bühne stiehlt
verdi die show. und regisseur olivier py setzt noch einen drauf: einmal wird
der tenor variétémässig in zwei teile zersägt, einmal fesselt ihn seine vermeintliche mutter mit einer langen roten leine an sich (aha, nabelschnur-kompensation,
erkennt der vulgärpsychologe sofort). und dann: im vierten akt kommt die überstrapazierte
drehbühne endlich mal zur ruhe und krassimira stoyanova (leonora) singt, ganz allein
im grossen dunklen raum, ihre arie von den seelenqualen und der todessehnsucht
der zwischen den beiden männern hin- und hergerissenen, berührend und
beklemmend. die melodie steht erstmals an diesem abend im mittelpunkt, ein
grossartiger moment für eine grossartige stimme. wogegen die stimme von
lokalmatador jonas kaufmann (manrico), dem die älteren groupies hier nach wie
vor ungebremst zujubeln, im piano und in tieferen lagen glanzlos bis gequetscht
wirkt, kurz: die zukunft schon hinter sich hat.
Montag, 11. November 2013
FRANKFURT AM MAIN: EZIO. EZIO WHO?
eine winzige gipsstatue des römischen kaisers valentinian, kaum 40 zentimeter gross, steht auf der spiegelglatten, schwarz lackierten bühne der frankfurter oper. sonst nichts. so klein, so verloren können die grossen posen der mächtigen wirken. und so gross dagegen die gefühle, die diese menschen hinter der fassade tatsächlich umtreiben: um die weisse statuette herum lässt regisseur vincent boussard die menschen hinter den posen in originalgrösse agieren und die geschichte des feldherrn ezio erzählen. ezio? der hiess im richtigen leben flavius und verlor selbiges, weil er in der folge einer liebesintrige fälschlicherweise eines mordkomplotts gegen den kaiser verdächtigt wurde. doch christoph willibald gluck komponierte seinen selten gespielten "ezio" 1750, als nicht historische übereinstimmung gefragt war, sondern der didaktische optimismus der aufklärung. weshalb ezio hier vom kaiser begnadigt wird - nach ellenlangen rezitativen und wortkaskaden, die die handlung nur referieren, nicht vorantreiben. boussard nutzt die fehlende action, um das machtpersonal mit all seinen nöten und neurosen, seinen obsessionen und narzisstischen störungen äusserst präzis zu zeichnen. christian curnyn unterstützt ihn aus dem orchestergraben aufs trefflichste, und die altistin sonia prina als ezio ist das zentrum eines ensembles, das das volle spektrum der musikalischen farben zum glänzen bringt. apropos farben: stardesigner christian lacroix hüllt die protagonisten in edle stoffe und joachim klein taucht sie in edles licht, üppigste opern-kulinarik also. kulinarik immerhin mit klugem konzept. begeisterter premièrenapplaus.
Samstag, 2. November 2013
ZÜRICH: HUNDEHERZ
wollten
sie auch immer schon mal einer hirnoperation beiwohnen, live? bitte: zunächst
wird der patient notdürftig geduscht, ein bisschen dreck bleibt noch kleben,
dann ein scharfer schnitt quer über die stirn, blut spritzt in alle richtungen,
die brechzange kommt zum einsatz, auf dem tisch liegt das ersatzorgan, eine
menschliche hypophyse, bereit unter, sagen wir mal, hygienisch suboptimalen
bedingungen, der ausführende professor preobraschenski atmet schwer, der
patient atmet noch. der patient heisst sharik und ist ein hund. die operation
geht schief: statt einem verjüngten hund resultiert ein mensch mit animalischen
instinkten, die er bis zum finalen abmurksen seiner entourage voll auslebt. die
schöpfung wendet sich gegen ihren schöpfer; kein wunder, war michail bulgakows
erzählung „hundeherz“ in der sowjetunion zu zeiten der kommunistischen
volksbeglückung verboten. jetzt hat sich pedro martins beja diese ätzende
satire im zürcher theater neumarkt vorgeknöpft – und nicht nur die zentrale
operation, sondern der ganze abend ist ein fulminantes spektakel für augen und
ohren und, ja eben, hirn: das gesellschaftliche experiment wird in jeder
beziehung ausgeweidet. maximilian kraus als sharik winselt und schnaubt und
hetzt, dass man zum hundefreund werden könnte, und sagt dann plötzlich mal ganz
ordinäre und mal ganz kluge dinge. ein durchtriebener hund. ein gefährlicher
hund. ein genialer hund, dieser junge mann.
Samstag, 26. Oktober 2013
GENÈVE: RESESTENCE!
widerstand
ist wichtig. also sperrt der junge genfer informatiker, autor und theatermacher
nicolas vivier in seinem neuen stück drei typen und eine junge frau in einen
keller. dort grübeln sie und faseln und trinken und planen: la résistance.
gegen die kleingeistigen beamten, gegen die konsumindustrie, gegen den staat, der
hier sogar die sprechdauer und die vokale rationiert hat (deshalb „resestence!“).
die energie der vier reicht jedoch nicht über den keller hinaus, ihre
revolution findet nicht statt, trotzdem werden sie verhaftet. vivier hat seinen
ionesco und seinen beckett gelesen und versteht es hervorragend, kluge
reflexionen über widerstand und freiheit in absurdes theater zu übersetzen. ein
schmieriger präsentator mit geschmackloser langhaarmähne und weisser plastikbrille hilft ihm dabei, lullt zu beginn lästig die leute ein („l’industrie
prend soin de nous“) und moderiert später den schauprozess gegen die widerständler
als widerliche tv-reality-show, wo er ihre zeugenaussagen mit zynischem
piano-gesäusel kommentiert; dario brander lebt in dieser rolle seine dunklen
seiten aus. die compagnie la ruche verhandelt während kurzweiligen 75 minuten
die grenzen zwischen wunsch und wirklichkeit, zwischen realität und phantasie,
zwischen politik und wahnsinn. am schluss grübeln sie wieder und faseln und
trinken. und über ihren köpfen flimmern die menschenrechte richtung
bühnenhimmel, mit rationierten vokalen. der überaus amüsante abend ist auch ein
überaus philosophischer abend.
Donnerstag, 24. Oktober 2013
ORANGE COUNTY: USA LIVE
sda-meldung heute: "ein fünfjähriger bub hat sich in den usa mit einer pistole erschossen, die seine babysitterin achtlos auf dem wohnzimmertisch liegen gelassen hatte." pistole. achtlos. auf dem wohnzimmertisch. und, ja, gleichzeitig wird bekannt, dass der us-geheimdienst vermutlich das handy von angela merkel abgehört hat. usa today.
Samstag, 19. Oktober 2013
ZÜRICH: ROCCO UND SEINE BRÜDER
der
zehnjährige luca steigt zu beginn auf den apennin, im theater neumarkt ein
kleiner steinhaufen in der mitte, der nord- und süditalien trennt, und erzählt anrührend,
wie die älteren brüder den vater im meer bestattet haben. es braucht nur diese
paar wenigen italienischen sätze und man ist schon mittendrin in der
trostlosigkeit (und der schwarz-weiss-ästhetik) der frühen sechziger jahre, als
die verarmten familien aus dem süden zu tausenden nach mailand zogen. mit „rocco
e i suoi fratelli“ hat ihnen luchino visconti ein geradezu dokumentarisches
denkmal gesetzt. und peter kastenmüller eröffnet mit dieser geschichte jetzt
seine intendanz am zürcher neumarkt, weil ihn das thema migration interessiert
und dabei die ankunft am neuen ort mehr als der abschied vom alten. er
verdichtet das epos auf eineinhalb stunden, schafft tempo mit einer
schienenkarre, die quer durch den raum rattert, und ruhe mit dezenten
videoeinspielungen, wechselt rasant die perspektiven vom erzählen zum spielen
und zurück, verkürzt massiv und gibt den figuren trotzdem scharfe und
unverwechselbare konturen. nein, diesen fünf brüdern geht es nicht um träume und
utopien, sondern um die nackte existenz. die einen versuchen es mit boxen, die
anderen strampeln nur und straucheln. das leben als kampf, als fortwährende
versuchung, als tödliche rivalität. theater ist immer live, deshalb entwickelt
dieses drama, das fürs kino geschrieben wurde, in diesem kleinen raum einen
enormen sog, durch die bewegung, durch die nähe, durch die präsenz dieser
jungen schauspieler. ein ausgesprochen kraftvoller zürcher einstand für
kastenmüller und sein ensemble.
Freitag, 18. Oktober 2013
LUZERN: TIĀN'É DÍFANG
saisonende? keine spur, nicht in luzern. hier bevölkern die chinesischen touristen den schwanenplatz nach wie vor zu hunderten, zu tausenden - und machen ihn zum tiān'é dífang. sie stürzen sich in die uhrenboutiquen, von denen fast im wochenrhythmus neue eröffnet werden. "der soziale druck, freunden und verwandten teure geschenke mitbringen zu müssen - das lässt chinesische gruppenreisen oft in wahre einkaufsorgien ausarten", schreibt china-korrespondent kai strittmatter im "tages-anzeiger". das erklärt die jagdstimmung am schwanenplatz. die nackten zahlen zu diesem sozialen druck: auf rund 90 millionen auslandreisen geben chinesinnen und chinesen dieses jahr mehr als 100 milliarden dollar für shopping aus. rechne.
Dienstag, 8. Oktober 2013
SERPA UND TAVIRA: 43x DIES UND DAS
theresia und christoph, alentejo und algarve, landleben und strandleben, thunfisch und zwiebeln, marlise und maria angela, romantische friedhöfe und gigantische flutlichtanlagen, pink wc-papier und smaragd wc-papier, fiat punto und eselkarre, moacyr scliar und florian illies, nicole und simone, luftmatratzen und fischerboote, engländer und holländer, cantinho do emigrante und restaurante sal, frankfurter allgemeine und informação, super bock und sagres, travessa de lisboa und cantar do grilo, sonja und felix, blauer himmel und rote erde, olivenbäume und eukalyptus, morgensonne und feldhasen, kürbiskonfitüre und pflaumenkonfitüre, syrah und lucky, ansichtskarten und whatsapp, pferdeflüsterer und hundeflüsterer, sonnenbrille und lesebrille, reife granatäpfel und keine eier, swimming-pool und stauseen, kieswege und schnellstrassen, portugiesische dorfplätze und spanische dorfplätze, anna und luis, schweinebacke und erbsen, minze und lavendel, fado und vivaldi, ziegenkäse und schafkäse, kein kanu und kein segelschiff, melancholie in den dörfern und monotonie in den tälern, olá und obrigado, eugen ruge und gaito gasdanow, ebbe und flut, rotkraut und rüben, piz buin und la roche-posay, mandeleis und mandala, nichts tun und gar nichts tun.
Montag, 23. September 2013
MÜNCHEN: DIE TOTEN AUGEN VON GAUTING
es gibt in münchen die alte pinakothek und die neue pinakothek und die pinakothek der moderne. sollte reichen, sollte man meinen. reicht aber offensichtlich nicht, denn da gab's und gibt's auch noch die pläne für die komische pinakothek, ein münchner satire-museum, für das loriot hätte pate stehen sollen. hätte, der tod war schneller. dass es auch ohne komische pinakothek geht, beweist jetzt das münchner literaturhaus mit einer überaus charmanten loriot-ausstellung: "spätlese", unbekanntes, halbprivates und privates aus dem nachlass des humoristen ("ein leben ohne mops ist möglich, aber sinnlos"). wie er zum beispiel die deutschen im auftrag der post auf die umstellung von den vier- auf die fünfstelligen postleitzahlen vorbereitete; wo sonst gibt's mehr fürs gleiche geld? ein philosoph des alltags, hintergründig und verspielt - und manchmal auch einfach schräg bis in den abgrund: mit gästen in seinem haus drehte er mal spontan eine verwackelte edgar-wallace-persiflage, wo schon der titel das ganze grauen erahnen lässt: "die toten augen von gauting". blut, schwarz-weiss. wer da noch ruhig schlafen kann. wie wär's übrigens mit einer pinakothek des horrors? und loriot als pate?
Donnerstag, 12. September 2013
MÜNCHEN: PAPER WEIGHT
während
die szene gerade mal wieder intensiv bis erbittert diskutiert, ob print morgen oder
übermorgen untergeht, ob mit getöse oder nur mit gejammer, präsentiert das haus der
kunst in münchen eine hübsche kleine ausstellung, die zeigen will, dass papier
gewicht hat: paper weight. gewicht und zukunft. in zwei räumen stehen
überdimensionale und ausgarnierte doppelseiten von 15 unabhängigen und stilbildenden magazinen,
die alle in diesem jahrtausend gegründet wurden und die alle, egal ob sie sich
design, sex, essen oder architektur widmen, prächtig pendeln zwischen verführung
und manifest. sinnlich und politisch sein, das ist ihr erfolgsrezept. damit
will so ein schweres magazin ein anker sein in einer flüchtigen welt. und es
hat tatsächlich welche drunter, über die man sich freut, weil es sie schon
längst geben sollte. „apartamento“ zum beispiel, ein magazin übers wohnen: keine
hochglanzpostille mit aseptischer architektur, keine unbelebten wahnsinnsräume,
sondern lauter behausungen mit menschen aus aller welt, die im schlafzimmer
gerade den neuen bh anprobieren, in der küche die brotzeit für den hund präparieren
oder ziemlich unbeobachtet auf ihrem lieblingssofa lümmeln. diese architektur
lebt, diese bildstrecken inspirieren mehr als alle kunst- und wohnkataloge. natürlich
ist „apartamento“ im museumsshop längst ausverkauft.
Sonntag, 1. September 2013
LUZERN: DIE WALKÜRE (OHNE REGIE)
luzern
spielt bayreuth. das lucerne festival bietet wagners „ring“ komplett, vier
abende, currywurst und flammkuchen in den langen pausen, weiss gedeckte tische
vor dem kkl, b-promis im a-outfit. wir gönnen uns „die walküre“ (nicht nur weil
man den walkürenritt einmal im leben live erlebt haben muss). angesagt ist eine
konzertante aufführung, „weil die sänger dann eine freiheit bekommen, die sie
auf der bühne nie haben können. diese freiheit verstärkt ihre erzählkraft.“ dies
versprach jonathan nott vorab, der frühere chef des luzerner
sinfonieorchesters, der jetzt mit seinen bamberger symphonikern diesen
wagner-marathon absolviert. irgendwie müssen ihn die sänger missverstanden
haben: sie singen nicht einfach konzertant, sondern bewegen sich vor dem
orchester, deuten szenen an und liefern ihre handelsüblichen posen, gesten,
blicke. wenn zwischen sieglinde (meagan miller) und ihrem zwillingsbruder
siegmund (klaus florian vogt) eine zarte liebe erwacht, schleichen sie auf dem
podium hin und her wie hänsel und gretel im wald. theäterle. so spielen
opernstars, wenn kein regisseur und kein konzept sie bändigen. das ist nicht
konzertant, sondern ärgerlich, richtig ärgerlich! und sonst? nott erzählt die
geschichte um machtstreben und liebesverzicht in schönen, strömenden farben, taucht
in die emotionen ein, entwickelt die grossen bogen, lässt die kleinen motive
glänzen – und kämpft zwischendurch immer wieder mit einer unpräzisen und
retardierten blech-sektion, die der aufgabe nicht gewachsen ist. ganz ist
luzern noch nicht in bayreuth angekommen.
Dienstag, 27. August 2013
LUZERN: ORIENTALISCH ANGEHAUCHT
huhn
mit minze und fenchelkompott. hat ausnahmslos allen geschmeckt. also kurz
festhalten, auf dass es nicht vergessen gehe. für vier personen etwa so: gratinform
bei 200 grad im ofen vorwärmen; ein grosses glas sherry (mind. 2 dl), dazu
wenig zitronensaft, geriebene zitronenschale, wenig ingwer, kurkuma, salz umrühren
und kalt bereitstellen; 750 gramm pouletbrust grob würfeln, mit zitronenschale, salz,
pfeffer, paprika und kurkuma würzen und kurz anbraten; das fleisch und den
kalten jus in die gratinform geben und im ofen bei 70 grad garen; vor dem
servieren mit fein geschnittener minze und allenfalls etwas basilikum
garnieren. – vier fenchel in feine streifen schneiden, im olivenöl kurz andünsten
und auf kleinem feuer mit wenig bouillon köcheln; eine handvoll datteln in feinen
scheiben, einen esslöffel lavendel und einen teelöffel kreuzkümel dazu geben. –
der vielfalt der farben und geschmäcker zuliebe mit schwarzem reis und weissem
yoghurt servieren.
Sonntag, 25. August 2013
LUZERN: 75 JAHRE LUCERNE FESTIVAL
die
stadt feiert ihr festival! es begann schon am samstag mit einem blumenmeer:
alle passantinnen - luzernerinnen und chinesinnen und inderinnen und obwaldnerinnen
- bekamen auf den plätzen eine festival-rose überreicht. ausgesprochen
sympathischer auftakt. und am sonntag folgt jetzt ein musikalisches feuerwerk
quer durch epochen und stilrichtungen. zum beispiel das „siegfried-idyll“, das
wagner seiner cosima 1870 im tribschen-haus als geburtstagsüberraschung
komponierte und mit dem arturo toscanini 1938 daselbst den grundstein zum
lucerne festival legte; wenn das jetzt, auf den tag 75 jahre später, 13
solisten des lucerne festival orchestra in der kammermusikalischen
originalfassung spielen, dann streift einen nicht weit von tribschen
aufgewachsenen luzerner doch kurz der schauder der (festival-)geschichte. oder
dann der österreichische multiperkussionist martin grubinger, der mit seiner
salsa-session den europaplatz vor dem kkl rockt und den allerheftigsten beweis
liefert, wie sehr dieses internationale festival mittlerweile auch bei
sämtlichen altersklassen und schichten dieser stadt angekommen ist. schliesslich
habe ich mir auch noch „von toscanini bis abbado“ angeschaut, den
dokumentarfilm über die geschichte des festivals, und festgestellt, dass das durchschnittsalter
des publikums in den historischen aufnahmen (1960, 1971, 1998) höher ist als
heute, und zwar massiv höher. dies der allererfreulichste befund an diesem tag:
das publikum klassischer konzerte ist jünger geworden, das festival hat eine
zukunft.
Freitag, 9. August 2013
PFÄFFIKON: DER ZÜRI-GRÖSSENWAHN
in
jeder waldlichtung und in jeder einigermassen idyllischen bucht lauert ein
freilichttheater. jetzt also auch noch „aida“ in pfäffikon, open-air am
pfäffikersee, mit der unvermeidlichen noëmi nadelmann. zur première heute hat
festival-chef george egloff ceos von börsenkotierten unternehmen und
nationalräte eingeladen, die crème de la crème, wie er dem „züritipp“ verriet: „wir
haben darauf verzichtet, b- und c-promis einzuladen. das bringt keine
wertschöpfung.“ klar doch, oper nicht als gesamtkunstwerk, sondern als
geldmaschine, schliesslich war herr egloff in seinem früheren leben ceo von
ticketcorner. aber es kommt noch dicker: ganz beiläufig schreibt der „züritipp“
den durchaus bemerkenswerten satz, der opernevent im oberland wolle „mit
bregenz und verona in der gleichen liga“ spielen. nach bregenz
pilgern jahr für jahr 200‘000 zuschauerinnen und zuschauer (umsatz 20 millionen
€), nach verona 500‘000 (umsatz 23 millionen €). die sieben vorstellungen von
egloffs „aida“, die übrigens mal verdis „aida“ war, sind nicht ausverkauft. der
züri-grössenwahn schwappt über die ufer des pfäffikersees.
Samstag, 3. August 2013
MÜNCHEN: BESCHRÄNKE NICHT DEN UNBESCHRÄNKTEN
grösster
wunsch? meine kinder wiederzusehen! grösster fussballer aller zeiten werden!
strassenkindern helfen! drei schöne kinder und star-psychologin werden! leuten
helfen, die schwach sind! reich werden und ein moralisches leben führen! meine
familie in brasilien besuchen! millionär werden! hip-hop-star werden!
beschränke nicht den unbeschränkten herrn! musik machen! meinen platz zu finden!
star werden! leute glücklich machen, probleme lösen! entertainer/comedian
werden! tanzschule eröffnen! – das sind die grössten wünsche von 16 jungen
flüchtlingen aus nigeria, senegal, sierra leone und sozial benachteiligten
jugendlichen in münchen. im rahmen des projekts „on stage – kultur im
sozialraum“ hat der regisseur laurenz leky mit ihnen das stück „unsere münchner
freiheit“ entwickelt, das sich ans märchen von den bremer stadtmusikanten
anlehnt: gemeinsam einen traum verwirklichen. das hat enorm viel afrikanischen
charme, und trotz einer überdosis europäischer sozial- und theaterpädagogik überwiegen
der rhythmus, die spiellust, der drang nach freiheit. wir freuen uns an diesen
schwarzen energiebündeln und müssen immer wieder an das riesenplakat denken,
das zurzeit an der fassade des residenztheaters hängt: „die realität ist für
diejenigen, die ihre träume nicht aushalten.“
Montag, 29. Juli 2013
MÜNCHEN: WANJA, FINAL CURTAIN
„was
für ein schönes wetter heute. nicht heiss.“ „bei solchem wetter ist es schön,
sich aufzuhängen.“ willkommen in der enge der russischen provinz. karin henkel
(und johan simons, der die proben an den münchner kammerspielen nach ihrer
erkrankung zu ende führte) stecken das personal von tschechows „onkel wanja“ in
einen kaum fünf meter breiten, schwarzen passepartout, eine art kasperletheater
für erwachsene. sieben leute auf engstem raum, das zwingt zu totaler reduktion
und führt zu brillanter konzentration: jedes wort, jede geste, jeder blick
sitzt – und verletzt mindestens einen der anwesenden. alle nörgeln an allen
herum, keiner gönnt einem ein quäntchen glück, es sind verpfuschte und vergeudete
leben auf diesem landgut; es dominiert die „skúka“, das leere warten auf ferne,
unbestimmte ereignisse. „aus mir hätte ein dostojewskij werden können… ein
schopenhauer…“, sinniert benny claessens´ von sich selbst erschöpfter onkel
wanja und schiebt seine phlegmatischen pfunde vor sich her. langeweile und
perspektivenlosigkeit weichen allmählich schierer verzweiflung: dieser mann heult und
schwitzt und zittert am ganzen körper, als er realisiert, dass die zukunft auch
nicht mehr das ist, was sie noch nie war. vorhang. begeisterter applaus. es ist
the final curtain: saisonende jetzt auch hier.
Sonntag, 28. Juli 2013
MÜNCHEN: REQUIEM UNTERM STERNENHIMMEL
es
beginnt zur heure bleue. die leute legen ihre badetücher, wolldecken und
sitzkissen aus, drappieren ihre picknickkörbe, futtern knackwurst und
tomatensalat aus plastikbehältern, suchen verzweifelt ihre brillen oder
vergnügen sich mit ihrem iphone. es sind tausende. der stattliche max-joseph-platz
vor der staatsoper und der residenz in münchen präsentiert sich an diesem abend
wie ein stark überbuchtes strandbad. „oper für alle“ heisst das happening, bmw
zahlt. und jetzt giuseppe verdis „messa da requiem“? totenmesse, hier und jetzt?
geht nicht! geht doch: kaum erklingt, pianissimo, der erste ton, legt sich eine
grosse andacht über die szenerie, und sie hält an, die ganzen 85 requiem-minuten lang. es liegt nicht nur am dirigenten zubin mehta (den die „süddeutsche zeitung“
gerade eben als „gefühlsüberschwangentfacher“ bezeichnete) – es ist die musik,
die auch dieses wunder schafft: alt und jung in meditative stille gebeamt. wie
ekaterina gubanova und rené pape das „lacrimosa“ in die nacht hinaus mehr beten
als singen, das geht tatsächlich tief, selbst in dieser open-air-kulisse. und
zum schluss das hoffnungsfrohe „libera me“, der wunsch, von allen qualen
befreit zu werden, unter dem sternenklaren nachthimmel. was will man mehr?
Dienstag, 23. Juli 2013
VENEZIA: DIE SCHLANGE UND DAS TÖFFLI
es
muss, nach all den biennale-freuden, doch noch gesagt sein: der schweizer
pavillon in venedig ist eine herbe enttäuschung. der walliser künstler valentin carron
zeigt dort eine metallschlange, die sich durch die praktisch leeren
räume windet, und ein töffli (ciao n.6), das im vorhof parkiert ist. ziemlich
schlichte angelegenheit, die dann allerdings auf dem aufliegenden handzettel
durch üppigste kuratoren-prosa aufs heftigste geadelt wird: „er findet seine
inspiration meist in der region, aus der er stammt und in welcher er nach wie
vor lebt. der künstler entwickelt so einen diskurs über das regionale, aber
auch über die ästhetischen und interpretatorischen missverständnisse, mit denen
sich die idee des ‚modernen‘ häufig konfrontiert sieht.“ wir sahen vor lauter
schlange die missverständnisse gar nicht… und zum töffli: „carrons kunst
wechselt oft und gern die ebene, und der künstler vermag, wie nur wenige
andere, in ein und demselben raum brutalität und eleganz nebeneinander bestehen
zu lassen. (…) das ergebnis kommt dem nahe, was wir als modifiziertes readymade
definieren könnten. (…) dank der überraschenden veränderungen des kontextes und
der heterogenität der ausgestellten werke gelingt es dem künstler, dem publikum
die komplexität der frage nach skulptur zu vermitteln, ohne dabei jemals
didaktisch zu werden.“ ganz im gegensatz zum kuratoren-handzettel. der kontrast
zwischen dem schwulst dieser mitgelieferten texte und der einfachheit der
exponate führt immerhin zum rätselraten, ob das ganze nun als parodie oder als
provokation gedacht sein mag. vielen besucherinnen und besuchern ist allerdings
nicht nach rätseln zumute; sie verlassen den pavillon lustlos oder grimmig.
Montag, 22. Juli 2013
VENEZIA: IL PALAZZO ENCICLOPEDICO
und
plötzlich diese ruhe. venedig im sommer ist ziemlich überbevölkert, man weiss
es ja, doch die beiden grossen biennale-areale, giardini und arsenale, sind
wahre inseln der kontemplation. und ein fest für die sinne. einer dieser
sinnlichen höhepunkte ist der „campo de color“ im lateinamerika-pavillon, weit
über 100 tonteller mit kleinen gewürzbergen, intensiver curry-geruch, doch nicht
nur gelb und orange, auch blau, türkis, purpur – alle farben dieser welt. das
will die biennale 2013 ganz offensichtlich, alle farben dieser welt abbilden,
wissen und reflexion aus allen erdteilen, und sie steht unter dem ganz hübsch
unbescheidenen motto „il palazzo enciclopedico“. da sieht man türkische
bodybuilder, eine überdimensionierte chinesische pissoir-schüssel in silber, sterbende
finnische bäume, pferde mit bein-prothesen, einen zu klein geratenen
picasso in bronze. diese kunst setzt sich ganz intensiv mit dem richtigen leben
auseinander. man schaut und staunt und schmunzelt und denkt nach. es ist ein stundenlanges
lustvolles eintauchen. apropos eintauchen: im chilenischen pavillon hat alfredo
jaar ein fünf mal fünf meter grosses modell des biennale-areals nachgebaut, das
in einem grossen wasserbecken steht und plötzlich in den trüben fluten versinkt.
biennale am ende? venedig am ende? kunst am ende? welt am ende? während man
meditiert, taucht das durchnässte gelände plötzlich wieder auf. gerade noch mal
gut gegangen.
Sonntag, 21. Juli 2013
VERONA: ES LOHNT SICH MAL WIEDER
200
jahre verdi, 100 jahre opern-festival im historischen gemäuer: da musste sich
sogar die total traditionell gestrickte arena di verona mal was einfallen
lassen. sie zeigt im august eine rekonstruktion der „aida“-inszenierung von 1913
(eben!), aber sie liess die „aida“ parallel, resp. vorgängig auch neu inszenieren
durch carlus padrissa und àlex ollé von la fura dels baus. „arena? klar,
können wir!“ haben sich die beiden gesagt, immerhin gestählt durch die
erfahrung mit der gigantischen eröffnungsfeier der olympischen spiele von
barcelona. und diese neue „aida“ ist tatsächlich ein lichtblick! padrissa und
ollé erzählen die dreiecksgeschichte von der äthiopischen sklavin, dem
ägyptischen feldherrn und der rivalin als zeitloses (nicht modernes) märchen, mit
dem absoluten gespür für tolle, aber nicht zu viele effekte: die
überdimensionierten elefanten und kamele sehen aus wie
hightech-kinderspielzeug, hunderte von sklaven tragen leuchtende mondkugeln
durch parkett und bühnenrund, am arena-horizont flammen hieroglyphen-fackeln auf, und
als aida und radames ihrem tod entgegensingen (im original: eingemauert in einem
tempel-gewölbe), senkt sich ein gigantisches solarpanel über die
beiden und bringt – wie die musik – licht, erlösung, seligkeit. ein spektakel
für auge und ohr, volkstheater im besten sinn. besonders erfreulich: hui he
(aida) und jorge de léon (radames) verfügen über stimmen, nicht einfach über
voluminöse arena-trompeten. das hätte auch verdi gefallen.
Sonntag, 14. Juli 2013
VYRITSA: DAS LEBEN AUF DER DATSCHA
"das leben auf der datscha besteht aus dem leben auf der datscha." hat möglicherweise tschechow gesagt. hat aber ganz bestimmt irene fleischlin gesagt, unsere russische freundin mit dem schweizer namen. und wie recht sie hat.
Samstag, 13. Juli 2013
ST. PETERSBURG: KAZNACEJSKAJA-TRÄUMEREIEN
grazdanskaja ulica, kanala griboedova,
voznesenskij most, allein schon die strassennamen sind poetische miniaturen,
voller phantasie und voller melodie. wir flanieren im quartier, wo dostojewskij
gelebt hat; es ist eine pracht, eine vergangene pracht. aus dem eckfenster an
der kaznacejskaja ulica nr. 7, wo die petersburger heute noch liebevoll blumen
deponieren, hat er das leben beobachtet – und verdichtet. „dieses geschäftig
eilende egoistische und stets gedankenverlorene volk hat für mich um acht uhr
früh etwas besonders anziehendes. (…) sie alle hasten und überschlagen sich,
aber wer weiss, vielleicht wird das alles von irgend jemand geträumt, und es
gibt hier nicht einen einzigen menschen, einen echten, richtigen menschen, und
nicht eine einzige wirkliche tat? irgend jemand, dem dies alles träumt, wird
plötzlich aufwachen – und alles ist plötzlich verschwunden.“ (fjodor
dostojewskij, ein grüner junge) – auch die befindlichkeit nach den kulinarischen,
alkoholischen, musikalischen und anderweitigen freuden der weissen nächte hat good old
fjodor in diesem eher unbekannten roman schon wunderbar auf den punkt gebracht:
„ich weiss nicht mehr, wie ich eingeschlafen bin, aber ich schlief einen festen
und süssen schlaf.“
Dienstag, 9. Juli 2013
ST. PETERSBURG: WAGNER AUF DER COSTA CONCORDIA
in einer coolen lounge am meer steht, ganz allein, eine frau in einem hautengen feuerroten cocktailkleid und blickt regungslos auf die wellen, die immer grösser werden. "der fliegende holländer", ouverture, ein vielversprechender anfang für die sage vom über alle weltmeere irrenden kapitän. doch dann ist vorbei mit ruhe und romantik, dann gibt's nur noch rambazamba: der holländer, in einer beziehungskrise, taucht in einem hotel den kopf zum goldfisch ins aquarium und stürzt mit einem rollkoffer durch die zimmer und die jahre; mädels lümmeln mit kopfhörern in den liegestühlen herum; jungs interessieren sich (achtung, matrosenchor!) nur für ihr neues surfbrett; in den hintergrund werden ausschnitte aus einer holländer-verfilmung von 1953 gebeamt, während senta kette raucht, was ihre stimme auch nicht runder macht; als der holländer ihr seine sehnsucht erklärt, stapelt sie die wäsche vom vortag, und beim liebesduett im 2. akt kleidet sie ihn ein wie francesco schettino, den unglückskapitän der costa concordia - womit diese neuinszenierung am mikhailovsky-theater in st. petersburg definitiv bei der buffonesken parodie gelandet ist. der junge regisseur vasily barkhatov degradiert wagners oper zum oberflächlichen spass-musical, zu laut, zu grell, zu üppig, alles überladen und alles so konsequent sinnfrei, dass die ganze oper absäuft wie die costa concordia und dann in totaler schieflage auf grund liegt. was dem armen wagner (und dem armen wagner-liebhaber) in diesem jubiläumsjahr nicht alles zugemutet wird!
Montag, 8. Juli 2013
GISWIL: ANDALUCIA MEETS MUOTATHAL
überschäumendes temperament gehört nicht zu den herausragendsten eigenschaften der obwaldner. deshalb laden sie sich das temperament einfach immer wieder ein. dieses jahr zum beispiel die familia bermudez aus andalusien als gasttruppe am volkskulturfest "obwald" im wald bei giswil. der feurige flamenco-clan bretterte mit einer wucht über die open-air-bühne, dass man hoffte, eine der vielen schreinereien in obwalden biete einen 24-stunden-notfalldienst. mit zittern, stampfen, beben und mit teils diabolischer mimik erzählten sie geschichten voller glut. bis zu 240 schläge pro minute, steht im programmheft; ich bin restlos überzeugt, dass es teilweise noch deutlich mehr waren. nicht ganz einfach, diese ausgangslage, für die muotathaler, die als zweite gastregion den beweis anzutreten hatten, dass es der entfesselte klopftanz (vulgo: bödälä, oder im muotathal gäuerlä) auch in den alpinen gegenden durchaus weit gebracht hat. doch auch die schweizer zeigten faszinierende holzschuh-und-balz-akrobatik. den totalen kontrast zu dieser rast- und grenzenlosen bretterei lieferte dann "natur pur" ebenfalls aus dem muotathal, sechs junge männer, die den naturjuiz von ihren vätern erlernt haben, in seiner reinsten, ehrlichsten form, klar und hell und aus tiefster seele. auch das ist feuer. höhenfeuer.
Samstag, 6. Juli 2013
LUZERN: SEITE 133
wenn
ich in einer buchhandlung rumstöbere und nicht sicher bin, ob ich ein buch
kaufen soll oder nicht, dann schlage ich immer seite 133 auf. es ist die
entscheidende seite. „hoch über dieser stille, über der welt, über zwei
verfeindeten städten, rabat und salé, und ein paar rätselhaften ruinen, hingen
khalid und ich, jeder für sich, unseren träumen nach.“ (abdellah taïa, der tag
des königs, s.133) - „es ist nichts los, schon lange kein krieg mehr, die
internationale verwaltung hat alles verboten, was die menschen in dieser gegend
aufregend finden, und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als katzen zu
überfahren.“ (miljenko jergovic, freelander, s.133) - „durch einen spalt zwischen
den vorhängen sah ich lenins söhne, die im hof auf und ab gingen. wieder war
etwas zeit vergangen, denn am oberen ende der langen tafel hatten turchina und
ihr bräutigam eine andere farbe angenommen.“ (antonio moresco, aufbrüche,
s.133) - „meine mutter drehte fast durch. mein vater hatte mich – ein achtjähriges
kind – zurückgelassen, um auf den bmw aufzupassen, mitten im wald voller wölfe
und vielleicht auch mörder vom schlag eines charles manson.“ (alberto fuguet,
die filme meines lebens, s.133) - auf seite 133 sind die autorinnen und autoren in
fahrt und am ehrlichsten. hier packen sie mich. oder nicht. bedeutend mehr als
mit dem ersten satz, wo sie den erwartungsdruck im genick sitzen haben und entsprechend
nervös sind, oder mit dem letzten, wo sie noch so viel zu sagen hätten. seite 133 ist enttäuschung oder versprechen. seite 133 entscheidet.
Freitag, 5. Juli 2013
LUZERN: MEHR ZEIT DANK KLEINSCHREIBUNG
da stiess ich doch neulich auf dieses zitat, eine rhetorische frage: "welche kräfte werden gespart, wenn die schreibmaschine die grossen staben fallen lässt?" das fragt walter porstmann, der erfinder des din-formats. respektive: er fragte, nämlich bereits 1920. es war dies ein frühes plädoyer für die kleinschreibung als zeit- und energiesparmassnahme. die frage liess mich nicht mehr los, und die antwort ist verblüffend: mal angenommen, man schreibt pro jahr 167 a4-seiten; mal angenommen, auf einer durchschnittlichen seite tummeln sich 200 grossbuchstaben; mal angenommen, der motorische und mechanische aufwand für einen grossbuchstaben nimmt 0,38 sekunden in anspruch - dann verschwendet man pro jahr 212 minuten. 212 minuten! pro jahr! so lange dauert "ben hur" oder eine eisenbahnfahrt von luzern nach mailand oder die zubereitung einer bouillabaisse für sechs personen. wenn das keine perspektiven sind. ab sofort schreibe ich nicht mehr nur aus gründen der visuellen ästhetik alles klein.
Sonntag, 23. Juni 2013
MÜNCHEN: ZUCCO - IKONE ODER NICHT?
es ist
ein uralter traum, unsichtbar zu sein. sagt der verbrecher roberto zucco, und
es ist nicht seine einzige sehnsucht. er möchte auch ein strassenköter sein,
der in den abfällen der menschen wühlt. und er möchte den schnee von afrika auf
seiner haut spüren. bernard-marie koltès hat diesen mann, der vater und mutter
und einen polizisten und ein kind umbrachte und sich mit einer flucht durch
halb europa quasi unsichtbar machte, 1989 in seinem letzten theaterstück „roberto
zucco“ zur ikone erhoben. leon pfannenmüller spielt zucco am münchner
volkstheater als harmlosen jungen, der ohne not und ohne leidenschaft mordet;
harmlos und rastlos geht er im riesigen, abgedunkelten bühnenraum auf und ab, ein
endlos suchender. am schluss stürzt er sich vom gefängnisdach „in die sonne“. die
mythische überhöhung zum todesengel hat zwar tradition in der literatur
(genet), doch regisseur milos lolic mag sich koltès` verklärung des verbrechens
nicht einfach anschliessen. sein zugriff hat die züge eines doku-dramas mit
gelegentlich gar parodistischen elementen. indem er die menschen um zucco herum
ununterbrochen wirkliche ikonen aus dem kollektiven gedächtnis und andere
visuelle codes der menschheit an ein baugerüst pinnen lässt, stutzt lolic den
mörder auf ein menschliches mass zurück. dieser zucco ist keine ikone, er
bleibt eine kleine schwarze episode.
Samstag, 22. Juni 2013
MÜNCHEN: KÖNIG LEAR UNTER SCHWEINEN
sei´s
der britische königshof, sei´s ein bauernhof in unseren
tagen – die grossen themen bleiben: macht, würde, liebe, die suche nach dem
sinn. deshalb zeigt intendant johan simons shakespeares „könig lear“ an den
münchner kammerspielen als spiel einer laientruppe auf einem bauernhof; er will
die fragen, die die welt immer umgetrieben haben, in menschlichen proportionen
angehen. eine leicht schiefe, mit grasziegeln belegte holzrondelle von kaum
fünf metern durchmesser ist die ganze welt, ist schloss, ist heide, ist
heerlager. hier spielen sie in gummistiefeln und kleidern vom dachboden,
umwuselt von echten schweinen, diesen grossen düsteren text als herrenbauerndrama:
prall, drastisch und damit sehr nahe an shakespeares idee von volkstheater.
andré jung als tyrann ohne innere grösse, der königreiche verteilt und töchter
enterbt, rennt in roten strumpfhosen durch sein britannien und lässt uns
eindrücklich teilhaben an der zunehmenden verdunstung seines gehirns. „du
hättst nicht alt werden solln, eh du weise wurdst“, seufzt ihm sein narr voller
mitleid zu. dass dieser lear bei der kleinsten unplanmässigkeit aggressiv und
laut wird, nährt die vermutung, er sei womöglich nicht dem wahnsinn verfallen,
sondern leide an einer perfiden form von demenz. „könig lear“ als welttheater
und endspiel – ein grosser abend.
Freitag, 21. Juni 2013
MÜNCHEN: BAUERN STERBEN
„solang
ich leb, wird nicht umgestellt. nichts wird umgestellt. gar nichts wird
umgestellt. und gehören tut alles noch mir. alles gehört noch mir. mein ist
alles noch. das milchgeld und der fernseher auch.“ eng ist sie, diese bauernwelt,
die jungen wollen so nicht leben und ziehen in die stadt, wo ihnen dann auch
wieder kalt ist. „bauern sterben“ heisst das dramatische fragment, das franz
xaver kroetz 1985 geschrieben und an den münchner kammerspielen uraufgeführt
hat, und daselbst entwickelt armin petras daraus jetzt eine szenische phantasie
über heimatverlust und heimatsuche, die zeigt, das kroetz´ kraftvoller text an
relevanz nichts eingebüsst hat. die bühne ist ein labyrinth aus gerüststangen,
in denen sich marie jung und thomas schmauser als schwester und bruder auf der
suche nach dem richtigen leben hoffnungslos verirren und verfangen. wurzeln können sie hier nicht schlagen. auch der
heiland aus der heimat (lasse myhr wie frisch vom kreuz) turnt allgegenwärtig
herum – und auch er erliegt später den versuchungen der grossstadt und endet
erschlagen und blutüberströmt in der gasse. „in der stadt ist das leben ein
grosses sterben, die stadt reitet das leben zuschanden“, sagt der bruder. er
hat heimweh. wonach?
Mittwoch, 19. Juni 2013
MÜNCHEN: KÖRPER UNTER STROM
die
muffathalle am isarufer in münchen ist die ehemalige turbinenhalle des städtischen
elektrizitätswerks, ein industriedenkmal aus klassizistik und jugendstil, ein
überaus stimmungsvoller ort. er bietet das treffende umfeld für meg stuarts
choreographie „violet“, in der die amerikanische choreographin und ihre
belgische company damaged goods pure energie zeigen – als stünden die körper
unter strom. der musiker brendan dougherty liefert live einen mal grellen, mal
versponnenen teppich aus elektronik und perkussion, akustik gewordene
elektrizität. die zwei tänzerinnen und drei tänzer scheinen wie verkabelt mit
diesem sound: er lädt sie auf, quält sie, stimuliert sie, sie winden sich und
zucken, sie leiden und bäumen sich auf. jedes gelenk, jeder muskel, jede faser
wird aktiviert und ausgereizt. alle fünf sind während 80 minuten permanent auf
der bühne und spielen permanent mit allen varianten von körpereinsatz; und es
sind dies nicht 100 oder 200 varianten, sondern gefühlte 50´000. der durchschnittlich
mobile zuschauer sitzt da und kann es kaum fassen. „violet“ ist ein abstraktes
ereignis, keine story, keine mission, sondern dynamik, die zu energie wird,
körper, die zu bewegten und bewegenden skulpturen werden. kraftwerk im
kraftwerk.
Montag, 17. Juni 2013
ZÜRICH: BLÄTTERN IM WAGNER-ALBUM
regisseur
hans neuenfels war mal ein provokativer geist. war mal. bei den zürcher
festspielen zeigt er sich jetzt von der ganz und gar zahmen seite und blättert
mit uns gemütlich im wagner-album. „richard wagner – wie ich welt wurde“ heisst,
ziemlich ambitioniert, neuenfels‘ beitrag zum wagner-jahr, ein potpourri von
biographischen und musikalischen episoden aus des komponisten zürcher zeit, kunterbunt angerichtet mit opern- und schauspielstars im schiffbau. robert hunger-bühler
spielt den komponisten eindimensional durchgeknallt, ein widerling, der seine
umgebung ohne unterlass tyrannisiert und sich zu seiner eigenen
lohengrin-ouverture am boden wälzt und aufgeilt bis zum feuchten ende – man möchte
das so genau weder wissen noch sehen. um wagners grössenwahn werden inmitten
putziger bergkulisse seine affären, seine gegner, seine mentoren drappiert; in
seinen fieberschüben schauen otto wesendonk, gottfried keller und charles
baudelaire vorbei, es gibt da ein bonmot, dort eine arie, da einen
briefwechsel, dort ein duett. wagners leben als variété. der disput um sein
grässliches pamphlet „über das judentum in der musik“ wird in so einem umfeld zur weiteren
nummer degradiert. es fehlt dem abend an intellektueller tiefe und dramaturgischer
stringenz. was bleibt, ist eine nicht wirklich inspirierte und inspirierende
mischung aus wikipedia und (immerhin hochkarätigem) wunschkonzert. die zürcher festspiele bescheren uns hier die denkbar luxuriöseste variante einer volkshochschul-veranstaltung.
Freitag, 14. Juni 2013
MÜNCHEN: LUZERN ALS VORBILD
seit
jahren jammern die münchner (und die weltklasse-dirigenten) über die üble
akustik im gasteig-konzertsaal, seit jahren suchen sie nach alternativen. jetzt
bekommt mariss jansons, chef des symphonieorchesters des bayerischen rundfunks,
den siemens-musikpreis, stiftet das gesamte preisgeld – immerhin 250‘000 euro –
für die planung eines international konkurrenzfähigen konzertsaales und bringt
damit neuen schwung in die sache. das mass aller dinge scheint dabei jean
nouvels kultur- und kongresszentrum in luzern zu sein. „eine halle von der
qualität des luzerner konzertsaals“ schwebt der „süddeutschen zeitung“ vor. und
auch manfred wutzlhofer, vorsitzender des vereins konzertsaal münchen und
mitglied der arbeitsgruppe zur standortsuche, sagt in einem interview: „wir
müssen uns sehr gut gelungene konzertbauten wie in luzern mit kosten zwischen
80 und 100 millionen euro zum vorbild nehmen.“ das freut den luzerner
natürlich. allerdings, herr wutzlhofer, ganz so günstig war’s dann auch wieder
nicht…
Mittwoch, 29. Mai 2013
PARIS: DER NIJINSKY-TUMULT
er
hatte hohe wangenknochen und schrägstehende augen – und trotzdem nannten sie ihn „das
achte weltwunder“. weil er tanzen konnte wie ein gott. vaslav nijinsky
(1889-1950) war so etwas wie der erste globale megastar, tourneen, gastspiele,
volle häuser bis nach südamerika. „j’ai peur, j’ai peur, car je vois l’acteur plus
grand du monde“, sagte sarah bernhardt voller bewunderung, immerhin selbst eine
quasi ultimative diva. exakt heute vor 100 jahren sorgte nijinsky mit seiner
interpretation von stravinskys „le sacre du printemps“ am théâtre des
champs-élysées in paris für einen nachhaltigen skandal. er revolutionierte die
ballettkunst: nicht mehr gepflegte ästhetik, sondern radikale körperlichkeit,
expressiv und erotisch. musik und choreographie überforderten die pariser
bildungsbürger dermassen, dass der abend in tumult, beschimpfungen,
nervenzusammenbrüchen, chaos endete. rückblickend wissen wir: dieses ballett war
der sprung in die moderne, weit vor der zeit. - nijinsky ist aber auch eines der
eindrücklichsten beispiele für die verbindung von genie und wahnsinn: „meine
krankheit ist zu schwer, als dass ich bald geheilt werden könnte. ich bin nicht
zu heilen. ich bin seelisch krank. ich bin arm.“ depression, schizophrenie,
apathie füllten mehr als die hälfte seines lebens. der psychiater peter
ostwald hat ein faszinierendes buch darüber geschrieben (europäische verlagsanstalt),
das biographie und anamnese in einem ist, kunstroman und psychokrimi. den titel
hat nijinsky selbst geliefert: „ich bin gott“. allerdings nahm sich die
originalsequenz in seinen notizbüchern mehr raum: „ich bin gott. ich bin gott.
ich bin gott.“
Sonntag, 19. Mai 2013
MÜNCHEN: VON GEORG BÜCHNER UND ALBAN BERG
das
messer…! ist nicht nur zum brotschneiden da…! kristof van boven ist woyzeck und
blinzelt vielsagend, wenn er über das messer und seine möglichkeiten nachdenkt.
dieser woyzeck zuckt während eineinhalb stunden, mal ganz offensichtlich mit armen
oder beinen, mal nur beiläufig mit den wimpern oder lippen. seine blicke sind
fiebrige stiche, sie stechen die mitmenschen und sie stechen ins leere. dazu
watet er ununterbrochen durch das enorme wasserbecken, das die bühne im
werkraum der münchner kammerspiele diesmal ausfüllt: ein spiegel der unruhigen
seele. die anderen figuren tauchen wie üble träume im oder am wasser auf, im
zentrum: immer woyzeck. die grösste leistung von kristof van boven ist, dass er
dieser geschundenen kreatur, die zum mörder wird, aller ausgestelltheit zum
trotz sämtliche geheimnisse lässt. wie viel dunkelheit ist in diesem menschen
drin und wie viel kommt durch die anderen dazu? eine krankheitsgeschichte mit
offenem ergebnis. sie hat den mediziner georg büchner 1836 zu seinem
dramenfragment inspiriert, und der komponist alban berg entwickelte die szenen
1921 zu einer expressionistischen oper. barbara wysocka nun überlagert in ihrer
inszenierung material aus schauspiel und oper, verdichtet und verfremdet es mit
neuen bildern und neuen klängen zu einem albtraum des kleinen mannes. düster,
monströs, ergreifend.
Donnerstag, 9. Mai 2013
MÜNCHEN: DAS GEHEIMNIS DER KAMMERSPIELE
nachrichten
aus dem himmel. wir berichten aus der champions league des europäischen
theaters. „glücklich das theater, welches solche schauspieler im ensemble hat!
die münchner kammerspiele – und hier muss man jetzt einfach mal fan sein dürfen
– haben immer noch die besten“, schrieb christine dössel in der „süddeutschen
zeitung“. auch das „münchner feuilleton“ gab sich schon ganz euphorisch: „das
ensemble der kammerspiele ist mittlerweile so gut, dass man sich von ihm selbst
heizdecken im hochsommer verkaufen lassen würde.“ und die theaterzeitschrift „die
deutsche bühne“ bilanziert die erst dreijährige aera von intendant johan simons:
„in diesem haus rumort es kräftig.“ und meint das nur positiv. wo liegt es, das
geheimnis dieses hauses, dieses ensembles, dieser theaterkunst auf der höhe der
zeit? sandra hüller, die am theatertreffen in berlin gerade gefeiert wird für
ihre rolle in jelineks „die strasse. die stadt. der überfall.“ hat das im „spiegel“
jetzt wunderschön auf den punkt gebracht: im dunstkreis von johan simons
herrsche eine art trancezustand, „in dem es nicht um psychologie und nicht um
spiel geht, sondern nur noch um eine bestimmte art von anwesenheit. keiner
versucht, etwas zu tun, sondern man füllt gemeinsam einen raum. und selbst der
text ergibt sich, er fliegt einem so zu.“ für sandra hüller ist diese
herangehensweise an stoffe und texte „der himmel“. für uns zuschauer auch immer
wieder (regelmässige besucher dieses blogs können das nachvollziehen). hoch
leben die münchner kammerspiele, hoch lebe dieses ensemble, hoch lebe der
theaterhimmel!
Mittwoch, 8. Mai 2013
BEIJING: ABWARTEN UND TEE TRINKEN
"der spiegel" (66): "wie fühlen sie sich auf dem gipfel ihrer laufbahn?" ai weiwei (56): "ich bin noch lange nicht auf dem gipfel. ich bin dabei, mich warm zu machen."
Samstag, 4. Mai 2013
MÜNCHEN: PLATTFORM
was
verbindet dostojewski und houellebecq? dostojewskis figuren zweifeln an gott,
an der liebe, am sinn des lebens. houellebecq treibt sein personal eine phase
weiter: kein zweifel, kein gott, keine liebe, kein sinn des lebens. michel zum
beispiel, die autobiografisch grundierte hauptfigur im roman „plattform“,
arbeitet lust- und ziellos im kulturministerium, vögelt ebenso ziellos herum,
leere, absolute leere. mit valérie gründet er eine plattform für sex-tourismus,
doch valérie stirbt kurz darauf in einer bombe muslimischer terroristen. michel
landet beim psychiater. hier setzt stephan kimmigs dramatisierung des romans an
den münchner kammerspielen an, in der klinik. ein raumhoher kubus aus
blendendweissen gazevorhängen und weissen sofas bildet den rahmen, in dem
michel von einer psychiaterin und einem psychiater befragt wird. zum plot des
romans montiert kimmig passagen aus einem gespräch, das star-interviewer andré
müller 2002 mit houellebecq geführt hat („das beste mittel gegen die angst ist
die gleichgültigkeit“). das ergibt zwei dichte, dokumentarische, deprimierende
stunden. steven scharf, wie immer meisterhaft, irrt als mann ohne freude und
ohne perspektiven rastlos in den gazeschleiern umher, verfolgt von einer
videokamera, die seinen leicht verschwitzten und gebeugten körper live und
porentief auf die vorhänge liefert. kein gramm optimismus, nix. man möchte
nicht psychiater sein.
Freitag, 3. Mai 2013
ZÜRICH: DIE BÜRGERLICHE STADT
"in stark bürgerlichen städten wie zürich..." - sagt udo jürgens, unwidersprochen, im "züri-tipp" über die stadt, die gerade eben den siebten linken in die neunköpfige regierung gewählt hat. und: in den vergangenen 100 jahren waren von zehn zürcher stadtpräsidenten und -innen sechs sozialdemokraten und -innen. udo jürgens lebt übrigens in zürich. seit 1977.
Donnerstag, 18. April 2013
MILANO: POESIE AUF DEM TELLER
carpaccio di polpo. der ganze teller ist liebevoll mit hauchdünn geschnittenen oktopus-scheiben ausgelegt (weiss), darüber reichlich granatapfelkerne (rot), ein wenig olivenöl (grün) und pfeffer (schwarz). eine freude fürs auge, eine freude für den gaumen. kulinarische poesie, so einfach. und das ist nur der anfang... dies ist der grund, weshalb es uns seit jahren immer, wenn wir in mailand sind, ins ristorante "rosa nera" treibt - und weshalb wir diesen geheimtipp auch gerne weitergeben: via solferino 12. unprätentiöses lokal an der unauffälligen strasse von der scala (opern-olymp) zum "corriere della sera" (zeitungs-olymp).
Montag, 15. April 2013
MILANO: IL SALONE
il
salone internazionale del mobile, das sind auf dem messegelände milano-rho 24
gigantische hallen mit möbeln, möbeln, möbeln, möbeln. design total,
inspiration total, man kann sich nicht satt sehen. jean nouvel liefert mit einer sonderschau ein flammendes plädoyer für mehr lebensqualität, individualität und farbe in unseren bürolandschaften. darüber hinaus erschliessen sich dem laien die trends angesichts der schieren
fülle der exponate nicht auf anhieb. ausser dass sich
auch die design-szene jetzt auf die senioren zu werfen beginnt: eine wachsende
kundschaft mit geld einerseits und anderseits auch eine wachsende kundschaft
mit ganz speziellen anforderungen an funktionales design im alltag. und auf der
anderen seite fallen die jungen auf. in der äussersten ecke des salone (halle
24 von 24) haben die kreativen frischlinge ihre spielwiese, den „salone
satellite“, ein wahres bijou an ideenreichtum. junge japaner (quartzd) schlagen
uns als insel der erholung im alltag einen kleinen wald aus weissem japanpapier
vor, nicht grösser als ein doppelbett; junge spanierinnen (mecedorama) entwerfen
neonfarbige schaukelstühle, die büro und garten gleichermassen in bewegung
bringen; junge deutsche (kunsthochschule halle) erfinden halboffene holzkisten
in allen grössen und formen, die die phantasien in kinderzimmern und
kindergärten neu beflügeln. statt cooler ästhetik begegnet man im „satellite“
überall wundervoller verspieltheit und wünscht, dass diese newcomer sich gerade
diesen ansatz lange bewahren mögen.
Samstag, 13. April 2013
ZÜRICH: DICKDARMKRÄMPFE
big
daddy (jean-pierre cornu) gaukelt sich und der welt vor, nicht ein tödlicher
krebs habe ihn befallen, sondern bloss dickdarmkrämpfe. sein sohn brick (markus
scheumann) gaukelt sich und der welt mit hilfe von reichlich alkohol vor, er
sei nicht schwul. bricks frau maggie (julia jentschs comeback nach der
babypause) hofft vergeblich, dass er auch für sie noch ein wenig wärme übrig
hat. tennessee williams führt in „die katze auf dem heissen blechdach“ in ein
erbärmliches kabinett der verlogenheiten und verschobenen wahrnehmungen. das erstklassige
ensemble am schauspielhaus zürich hätte alle voraussetzungen, dieses spiel mit
fassaden und abgründen, das zum geburtstag von big daddy die ganze sippe
zusammenführt, so zu spielen, dass es richtig weh tut. diesen text, diese
figuren muss man auf dem seziertisch präsentieren. doch regisseur stefan pucher
tut, was er immer wieder tut: er erstickt die subtile vorlage mit einer
bilderorgie. er macht auf grosse show, füllt die bühne mit sämtlichen
amerikanischen 50er-jahre-scheusslichkeiten, die ihm in die hand kommen, steckt
die leute in übertrieben geschmacklose kostüme, beamt unnötige filmchen auf die
hässliche, höhlenartige deko, und einmal mehr geht’s auch nicht ohne
mittelmässige gesangseinlagen. it’s too much for tennessee: kein heisses blechdach, sondern ein hoffnungslos überladenes. das resultat: dickdarmkrämpfe.
Freitag, 12. April 2013
MÜNCHEN: DIE KULISSE EXPLODIERT
ein aha-erlebnis. noch nie was von
friederick kiesler gehört und jetzt trotzdem die ausstellung über diesen
österreichischen architekten und bühnenbauer (1890-1965) in der villa stuck in münchen besucht. sie
trägt den alle theater-aficionados sofort neugierig machenden titel „die
kulisse explodiert“. das aha-erlebnis: dieser mann war der zeit und der
theaterkunst um jahrzehnte voraus; er hasste die traditionellen
guckkastenbühnen mit ihren traditionellen kulissen und prospekten und baute
deshalb schon vor hundert jahren bühnenbilder, bühnenräume, bühnenlandschaften,
die sich jeglichem illusionismus verweigerten und platz schufen (oder besser:
liessen) für das wort, für die figuren und – später an der renommierten
juilliard school in den usa – für die musik. kiesler erfand raumbühnen und
bühnenskulpturen, wie wir sie heute in den theatern der obersten liga zuhauf sehen
(altmann, kriegenburg, wilson). natürlich wurde er wie alle visionäre
verspottet – bei karl kraus etwa: „sie meinen also, herr kiesler, dass gretchen
auf dem motorrad zur plattform hinaufjagt, oben das lied am spinnrad singt und
dann im lift in die tiefe saust, während inzwischen faust und mephisto im
kleinauto den serpentinenweg hinaufbrausen?“ kieslers kunst hat den spott
überlebt.
Donnerstag, 11. April 2013
MÜNCHEN: PLAYMOBIL IM WIENER WALD
„geschichten aus dem wiener wald“! na
dann, hat sich christian stückl, der intendant des münchner volkstheaters,
gesagt und eine tüchtige portion wiener wald auf die bühne bauen lassen: bäume,
schilf, teich, nebelschwaden – die reinste idylle. das ist das eine. hier lässt
er all die hallodris aus ödön von horváths traurigem volksstück rumplauschen,
liebe machen, tanzen, tauchen, streiten. in ihren grellbunten kostümen wirken
sie wie playmobil-püppchen. das ist das andere. dazu auch noch sting, meat
loaf, wiener walzer, eine art wunschkonzert für 9 bis 99. das ist das dritte. üppigste
reize also auf allen ebenen – und sie wollen nicht zusammenpassen: vor lauter
effekthascherei kommt stückl die feingestrickte geschichte beinahe abhanden. die
geschichte von marianne, die der enge ihrer herkunft, der spiessigkeit des
alltags entkommen will, dabei immer nur an die falschen, die halbseidenen, die
unfertigen gerät und am schluss dort landet, wo sie herkommt, in ihrer gasse
bei ihrem fleischergesellen, der ihr schon immer gedroht hatte: „du wirst
meiner liebe nicht entgehen.“ tote gefühle, tote liebe, ein totes kind. man
würde, angesichts dieser befunde, den schauspielerinnen und schauspielern und sich
selbst mehr poesie gönnen und weniger musical-rambazamba.
Montag, 1. April 2013
BEIJING: ZENTIMETER FÜR ZENTIMETER IN DIE ZUKUNFT
china ist auf dem weg in die zukunft. und viele im westen bekunden immer wieder mühe, sich das tempo dieses wandels konkret vorzustellen. vielleicht hilft dies: "wenn wir die rote linie um drei zentimeter überschreiten, werden wir zwar zurückgedrängt, aber einen zentimeter können wir vielleicht halten. diesen zentimeter können dann auch andere medien nutzen, und nach einiger zeit versuchen wir, den nächsten zentimeter zu erobern." (wu si, chefredaktor der kritischen geschichtszeitschrift "yanhuang chunqiu", im deutschen wirtschaftsmagazin "brand eins")
Sonntag, 31. März 2013
LUZERN: ABENDFÜLLENDE SILIKONBRÜSTE
so
läuft’s wohl, wenn dragan, der autohändler, eine party schmeisst: bunga-bunga
zwischen sperrholzwänden, überblonde glitter-flittchen mit abendfüllenden
silikonbrüsten tanzen auf den tischen, alle mampfen spaghetti von
plastiktellern und schmieren sich torten ins gesicht. und exakt so zeigt der
tessiner regisseur lorenzo fioroni am luzerner theater den ersten akt von
giuseppe verdis „la traviata“. violetta, die edelkurtisane, verkehrt hier nicht
in noblen pariser salons, nicht in samt und gold, sondern in der trash-society.
diese comicartige überzeichnung zum süssen melodienreigen ist erstens
gewöhnungsbedürftig und zweitens überraschend sinnig. denn der kontrast zwischen
der kaputten, falschen welt und den plötzlich aufkeimenden echten gefühlen wird
dadurch vergrössert: die wahre liebe gewinnt an tiefe, die vielen konflikte
gewinnen an schärfe, verdis musik erreicht neue dimensionen. noch selten hat
man violettas liebhaber alfredo (carlo jung-heyk cho), dessen vater seine
unstandesgemässe liaison um jeden preis unterbinden will, so ausweglos
verzweifelt gesehen, so wütend, so nahe am wahnsinn. und noch selten hat man
violettas sehnsucht nach einem anderen leben besser nachvollziehen können. die
bulgarische sopranistin svetlana doneva gibt dieser rastlos zwischen hoffnung, glück und tod hin und her eilenden frau in
jedem moment grösse und würde; traumwandlerisch bewegt sie sich über alle musikalischen
klippen und durch alle emotionalen hochs und tiefs dieser partie. eine
überzeugende, eine sehenswerte arbeit.
Montag, 4. März 2013
STUTTGART: TOSCA NR. 79
„tosca“
an der staatsoper in stuttgart. die première fand im juli 1998 statt. die
inszenierung ist also 15 jahre alt. wir sehen die 79. vorstellung. eine
alarmierende ausgangslage, normalerweise: ausgelaugt, abgelutscht, mit sängern,
die den regisseur nie gekannt haben und deshalb spielen, was sie in ihrer
partie halt immer spielen zwischen moskau und madrid. es spricht schon sehr für
die qualität eines hauses und einer inszenierung, wenn es ganz anders läuft. regisseur
willy decker arbeitet mit minimaler dekoration (im ersten akt nur eine statue,
im zweiten akt nur ein riesiger tisch, im dritten akt nur ein fenster zum sternenhimmel)
und lässt so viel raum für die komplexen konstellationen zwischen den figuren,
für das spannungsfeld zwischen politik und kunst, zwischen macht und erotik, raum für puccinis musik; so
entstehen diese einfachen, grossen bilder, die auch 15 jahre unbeschadet
überdauern. zumal die drei protagonisten – catherine naglestad als tosca (sie
sang als einzige schon in der première), andrea carè als cavaradossi, michael
ebbecke als scarpia – die bei diesem werk permanent als versuchung lauernde
grosse opernpose vermeiden und, musikalisch wie darstellerisch, sehr
persönliche rollenporträts entwickeln: drei intensive geschichten von der
liebe, drei geschichten vom tod, die aufs verhängnisvollste miteinander
verknüpft sind. oper als wuchtiges kraftwerk der gefühle: diese 79. vorstellung
elektrisiert wie eine première.
Sonntag, 3. März 2013
STUTTGART: NABUCCO
giuseppe
verdis „nabucco“ ist eine oper über kollektive und individuelle heimatsuche und
heimatverlust und – eine choroper. stuttgart hat einen hervorragenden und
vielgerühmten opernchor. eine steilvorlage also für den erst 29jährigen österreichischen
regisseur rudolf frey. und wie er sie genutzt hat! zu „va pensiero“, dem chor
der gefangenen hebräer, stellt er die 80 sängerinnen und sänger vor 80 schwarze
stühle. eine statische graue masse. doch mit der melodie, dem musik gewordenen
durst nach freiheit, entwickeln sich aus dieser masse 80 individuen. jedes
einzelne hat seine not, jedes einzelne hat seine hoffnung, die stühle werden zu
bewegten metaphern: einer nimmt ihn als schutzschild, einer packt ihn sich als
waffe, eine sieht darin ihren geliebten, eine hält ihren stuhl mit verzweiflung
hoch, einer den seinen mit einem leuchten in den augen. schlichte, ergreifende
schicksale. man hat diesen gefangenenchor schon oft berührend gehört, so
gesehen hat man ihn noch nie. dank solcher detailarbeit mit jedem einzelnen
gelingt rudolf frey eine über weite strecken überzeugende deutung, zeitlos und weit
entfernt von den überladenen arena-produktionen dieses werks. einzig die
englische sopranistin catherine foster als nabuccos rivalisierende stieftochter
abigaille macht auf diva und deckt das differenzierte ensemble mit dröhnender
stimme zu; eine – das wort ist hier leider naheliegend – rampensau, die in dieser
nuancenreichen inszenierung fehl am platz ist.
Donnerstag, 28. Februar 2013
MÜNCHEN: HEDDA GABLER, MONOTON KALT
innerhalb
von zwei tagen bricht das bürgerliche kartenhaus zusammen. muss man sich mal
vorstellen. innerhalb von zwei tagen. steht so im programmheft. henrik ibsens
generalstochter hedda gabler kommt von der hochzeitsreise zurück und schafft
es, innerhalb von zwei tagen ausnahmslos alle in ihrer umgebung mit ihrem
eigenen unglück zu vergiften: keine zukunft, nur schatten, verleumdungen, verletzungen,
ennui. hausherr martin kusej stellt die figuren in seiner inszenierung am
münchner residenztheater (wo das stück 1891 uraufgeführt wurde) in einen
riesigen schwarzen raum, kaum möbliert. hier haben alle schon verloren. fin de
siècle, fin de vie. birgit minichmayr als hedda spannt die fäden, über die alle
durch den dunklen raum taumeln und mit ihr in den abgrund stürzen. sie spielt
diese frau, die keinen umgang mit den gesellschaftlichen konventionen findet,
als kalte schlange. etwas gar monoton kalt, immer verschränkte arme, immer
ungerührte miene, immer gleiche stimmlage. pessimismus kiloweise, und man fragt
sich, wo der funke leben ist oder war, der dieser frau überhaupt freunde
beschert hat. ein einziges mal rafft sie sich zu einer annähernd menschlichen
geste auf und legt ihrem alten freund ejlert die hand auf die schulter. um ihm
mit der anderen hand die pistole zu überreichen, auf dass er sich erschiesse.
Dienstag, 19. Februar 2013
MÜNCHEN: MCBW - AHA!
in münchen läuft gerade die mcbw. die munich creative
business week. und wenn silke claus, die geschäftsführerin des veranstalters
erklären muss, was diese mcbw denn ist und will, dann tönt das (im „münchner
feuilleton“) so: „letztes jahr stand dieser name, der eigentlich nur als
erläuternder untertitel gedacht war, noch im vordergrund. 2013 hingegen soll
sich alles um das motto ‚meet the builders of quality‘ drehen.“ oder so: „hier
gibt es eine ausgeprägte agenturszene – denken sie an ideo, designaffairs,
designit, hyve oder frog design, die als innovationstreiber querdenken und bei
vielen gesellschaftlichen fragestellungen schnittstellen zur gestaltung finden.“
oder so: „ganz ähnlich wie etwa bei der business of design week in hongkong
oder der dutch design week in eindhoven, bei denen sich die kürzel bodw bzw.
ddw etabliert haben, sprechen auch wir inzwischen von der mcbw.“ – aha! so viel zum thema kreativität.
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