Donnerstag, 28. Juni 2012

GENÈVE: MARS-501 - LE RETOUR

irgendwann gegen ende der 520-tägigen mars-mission zieht der irre sergej die mit einem kabel abgewürgte hand der kommandantin aus seiner hosentasche und grinst dazu ziemlich dreckig. der sauerstoff im raumschiff wird knapp und der irre sergej ist der einzige, der realisiert, dass er nicht für alle bis zur landung reichen wird und mit teambildung also eher nichts mehr zu holen ist. der junge genfer informatiker (!) nicolas vivier hat mit „mars-501 – le retour“ eine aberwitzige science-fiction-komödie geschrieben und sie jetzt mit sechs ebenso jungen und höchst wandelbaren laien im théâtre contretemps in genf inszeniert. auf der ostseite des kellerraums der mars, auf der westseite die erde (exakter das centre scientifique de développement aérospatial du groupement international pour la recherche physique et biochimique), auf den zehn metern zwischen mars und erde das publikum. on se bouge et s’amuse formidable. die fünf hochdotierten wissenschaftler wähnen sich auf dem weg zum heldentum und ahnen nicht, dass die mars-mission und der finale sauerstoffentzug nur ihrer gezielten entsorgung dient, weil sie – durch amouröse oder mafiöse bande – den mächtigen zu lästig werden könnten. man schaut ja immer wieder gern hinter die kulissen der macht, wo der witz und der wahnsinn siamesische zwillinge sind. diese jungen haben da bereits eine durchaus präzise und durchaus beängstigende vorstellung. und, ach ja, dieser irre sergej, der das kommandantinnen-händchen im sack und das jack-nicholson-grinsen auf dem gesicht und auch sonst noch einiges drauf hat, heisst im richtigen leben dario brander. musste doch noch gesagt sein.

Donnerstag, 14. Juni 2012

BASEL: ART, ART, ART

buntes pflästerli. generalverdacht. bleistiftabsätze. schmetterlingsflügel. barock-opulente wand mit 288 verschiedenen hängevasen. zynische buchstabenobjekte. ein riesiges xylofon. statements-koje. 175‘000 dollar. buddha in alu. erhöhte seismische aktivität. imponderabilia. mit glitzernden totenschädeln verzierte hinterbacken. kartenhaus. 180‘000 euro. first choice. architecture without architects. drei schicksale im luftleeren raum. gekröse. leichtfüssiger nonsens. big pig. auf riesigem bretterboden herumpickender vogelschwarm. kartoffel im meer. männer mit flugzeugen. 1000 polaroidaufnahmen. hure am strassenrand. hundetrainerin. bettwärme. mehr einkehr. hermetisch abgeriegeltes inselchen von trotziger schönheit. nice tits. globale wunde. first point. aus dem bauch heraus aufs papier. surferbraut. mörderhacken, of course. – wenn man das (danke, nzz und tages-anzeiger fürs trend-scouting) drei oder vier mal liest, beschleicht einen das zunächst diffuse und dann irgendwie erleichternde gefühl, die art basel 2012 bereits besucht zu haben. oder war es letztes jahr?

Donnerstag, 7. Juni 2012

MÜNCHEN: WIE MAN AUS TSCHECHOW KLEINHOLZ MACHT

zwölf sehr gute schauspielerinnen und schauspieler – brüllen herum, schmieren sich schwarze farbe ins gesicht, brüllen wieder herum, gackern wie hühner, bellen wie hunde, werfen mit doofen stofftieren um sich, machen wasserschlachten, brüllen herum. der katalane calixto bieito (von dem ich in basel schon einen radikalen, klugen „don carlos“ gesehen habe) inszeniert am residenztheater in münchen den „kirschgarten“ von anton tschechow und verdammt zwölf sehr gute schauspielerinnen und schauspieler dazu, permanent auf kindergeburtstag zu machen. ok, herr bieito, wir haben verstanden: tanz auf dem vulkan. die zeiten ändern sich und mit ihnen die finanziellen verhältnisse, der kirschgarten wird versteigert und abgeholzt. bieito macht nicht nur den kirschgarten zu kleinholz, sondern auch das landhaus der ranjewskaja, das schon zu beginn ausschaut wie ein ausgebombter rohbau, und – schlimmer noch – den gesamten stücktext. tschechow charakterisiert zwölf menschen nach ihrer ganz und gar unterschiedlichen einstellung zum wechsel der zeiten. hier wird niemand charakterisiert, hier fällt jeder charakter dem oberflächlichen lärm und der oberflächlichen hektik zum opfer. dass am ende der uralte diener firs in diesem eindrücklichen sperrholz-desaster, das von der bühne übrigbleibt, einen neuen kirschbaum pflanzen darf, ist nach diesen zwei stunden unerträglicher edelkitsch.

Mittwoch, 6. Juni 2012

DAVOS: GUTE FRAGE

"braucht mich das flachland überhaupt?" - diese frage stellt sich hans castorp, der held in thomas manns 1924 erschienenem roman "der zauberberg".

Dienstag, 5. Juni 2012

BREGENZ: DANH VÕ ZWISCHEN DEN WELTEN

ngô thi ha ist eine alte frau aus vietnam. sie überlebte den tod ihres mannes, der 1961 während der amerikanischen intervention umgebracht wurde; sie überlebte den tod ihres sohnes, der 1950 einem schlangenbiss erlag; sie überlebte den tod ihres enkels, der 1975 in den wirren nach dem fall von saigon umkam. als ngô thi ha vor ein paar monaten starb, erschien in der „los angeles times“ auf der seite mit den todesanzeigen eine kurze notiz, die an dieses leben erinnerte, geschrieben von ihrem grosskind, dem künstler danh võ (*1975), der in kopenhagen studiert hat und in basel lebt. in ein paar wenigen zeilen blitzt ein bewegtes leben auf. die seite mit dieser unscheinbaren notiz liegt jetzt auf einem unscheinbaren holztisch im kunsthaus bregenz, wo danh võ für seine grosse ausstellung alle drei obergeschosse zur verfügung stehen. nur ein paar wenige objekte stellt oder hängt der künstler in diese riesigen räume: da eine postkarte, die das martyrium eines französischen missionars im vietnam des 19.jahrhunderts zeigt, dort ein bild von soldaten in uniform, die sich zärtlich die hand reichen. dazwischen nichts, meterweise sichtbeton, radikale reduktion statt reizüberflutung. durch diese geradezu mystische leere zwingt danh võ den besucher zum genauen hinschauen, zur andacht. er nimmt ihn mit auf eine reise – auf seine reise von ost nach west, die ihm immer wieder neue antworten abverlangt zu fragen des kolonialismus, der migration, der identität.

Montag, 4. Juni 2012

CHUR: MARÍA DE BUENOS AIRES

die frau, die stadt, der tod. der schatten von maría wandelt nach ihrer beerdigung ziellos zwischen grabdenkmälern und schreibt im halbdunkel einen traurigen brief an die bäume und die kamine der stadt, man möge maría nicht vergessen. „maría de buenos aires“ ist die tango-oper des argentinischen komponisten astor piazzolla und des uruguayischen poeten horacio ferrer: sie zeichnen die geschichte der textilarbeiterin aus den einwanderervierteln, der das bandoneón versuchung und verhängnis wird, als musikalisch-melancholische metapher für die ganze stadt, mit all ihren legenden und all ihren dramen. unterstützt von michael zismans hervorragendem tango-orchester zaubert der choreograph oliver dähler jetzt einen hauch von buenos aires auf die bühne des churer theaters (ja, chur!), mit einfachsten mitteln: ein paar flackernde schwarz-weiss-projektionen von nächtlichen strassenzügen, fahlblaues laternenlicht, halbseidene milonga-eleganz. ins zentrum rückt er 14 menschen, ältere tänzerinnen und tänzer, allesamt laien – sie sind die bäume der stadt, die kamine, die grabdenkmäler. in ihren bewegungen und in den falten ihrer gesichter sind geschichten festgeschrieben, geschichten von hoffnungen und ängsten; diese geschichten aus chur vermischen sich mit den geschichten aus buenos aires. zwei sänger, zwei tango-profis und ein leider oft von der musik zugedeckter sprecher setzen zwischendurch eigene akzente zu diesem community dance, vokale und literarische reflexionen über die vergänglichkeit. so entsteht um maría ein mächtig mäandrierender tango-reigen. eine hymne an eine stadt. hymne und psychoanalyse gleichermassen.