Mittwoch, 22. Juni 2011

OSTFRIESLAND: INSTINKTIVE JÄHHEIT

"er dreht mit der instinktiven jähheit zur seite ab, die ihm für eine begegnung mit unbekannter, bewegter grösse zu gebote steht." alles klar, hoffentlich? so beschreibt der ostfriesische schriftsteller georg klein im nzz-feuilleton einen vogel, der zum ersten mal eine windkraftanlage erblickt. instinktive jähheit. muss man sich merken, für fast alle lebenslagen. die instinktive jähheit dürfte eng verwandt sein mit der rasch eskalierenden emotions-eruption. vermutlich die kleine freche schwester.

Dienstag, 21. Juni 2011

LYON: TRISTAN UND ISOLDE, PLEINE LUNE

es ist dunkel am meer und leer. umso bedrohlicher wirken die wellen aus der weite, die immer wilder werden. der fahle mond, der sich langsam über diese unwirtliche szene senkt, bringt licht, aber kein leben. dieser mond ist riesig, fast so hoch und fast so breit wie die ganze bühne der opéra von lyon. im zweiten akt zeigt dieser raumfüllende mond sein inneres und wird so burg und bunker für das sehnen, das leiden und die liebe von tristan und isolde. im dritten akt liegt dieser monster-mond auf der erde und scheint alles und alle zu erdrücken. macht der liebe. nacht der liebe. àlex ollé von den katalanischen theaterwunderkindern fura dels baus entwirft hier starke, symbolhafte, suggestive bilder. dieses szenische konzept entwickelt zusammen mit dem subtilen dirigat von kirill petrenko - das nicht vordergründig auf den romantischen rausch richard wagners setzt, sondern der partitur und dem orchester hochgradig kammermusikalische qualitäten abgewinnt - eine grosse, geradezu betörende kraft. man darf sich freuen, dass dieser junge herr petrenko im september 2013 die bayerische staatsoper übernimmt. unterschiedlich die stimmen: ann petersen als isolde und christof fischesser als könig marke mit farbe und hingabe und vielen nuancen, clifton forbis als tristan und stella grigorian als brangäne kraftvoll präsent, doch ziemlich eindimensional. doch gilt hier, wie immer bei wagner, nicht der einwand, nicht das kleine, sondern das ganze. und das ist in lyon: ein gesamtkunstwerk, ein viereinhalbstündiger liebestodestaumeltanz.

Sonntag, 12. Juni 2011

MÜNCHEN: DAS ANTI-OKTOBERFEST

„diandldrahn is a wichtigs element vo boarischn voikstänz. besondas vum schuahplattler und vo seim voagänger dem landler. in da heitign form des traditionelln gruppnplattlns draht si des diandl wia a surrende spindl um si säibst und um den buam. dabei spuit da rock a wichtige roin. er muss während’m drahn fost waagrecht in da luft liegn.“ (chiemgauer alpenverband) – feridun zaimoglu und günter senkel haben für die münchner kammerspiele einen „alpsegen“ gedichtet, der in der urbanen gegenwart die spuren der ländlichen vergangenheit sucht. das ergebnis ist knallhart, bitterbös, grenzwertig: der moderne mensch kann seine katholischen wurzeln nicht abschütteln, nicht verdrängen und er wird es nie können. das stück hat kaum handlung, dafür huscht die ganze religiöse gespenster- und terrorwelt der vergangenheit über die bühne – die heilige cäcilia, der fahle gimpel, die lange agnes, das selige fräulein, die weiz, die feurigen männer, die wäscherin an der furt. alles unscheinbare namen, hinter denen sich krater von plagen auftun, heimtücke, verklemmtheiten, drohszenarien. sebastian nüblings inszenierung entwirft dazu sagenhafte figuren, schwitzende schwerenöter, bleiche klapperer, bigotte muttchen – kurz: unsere verwandten, unsere nachbarn, uns!  „alpsegen“ ist quasi das anti-oktoberfest, die schattenseite der mainstream-folklore. sackstark. nur essen mochten wir nach dem theater nicht mehr so recht.

Samstag, 11. Juni 2011

ZÜRICH: DER STEIN IN MEINEM WEG

das kann nur tschechow! die grenze zwischen komödie und tragödie verwischt er meisterlich und bis zur unkenntlichkeit. seine melancholischen und depressiven figuren führt er alle und permanent an den abgrund und lässt sie dort schwindeln und tanzen, gleichzeitig. schon in seinem erstling „platonow“, den er noch als gymnasiast schrieb und der jetzt am schauspielhaus zürich gegeben wird, ist die verzweiflung oft zum brüllen komisch und der witz von tiefster tristesse. russische provinz im vorletzten jahrhundert, landleben, langeweile, lebensmüdigkeit. die zürcher intendantin barbara frey stellt das tschechowsche personal in einen grün getünchten runden raum, zeitlos, ortlos, ohne fenster: der wartesaal des lebens. ein ort von ausgesuchter hässlichkeit. da reden sie und reden und flirten und verachten sich. ein hervorragendes ensemble badet lustvoll in diesem wahnsinn, schwärmerisch und destruktiv. der ganze zerfall der ganzen gesellschaft in ganzen drei stunden: pas mal, herr tschechow, pas mal, frau frey! im zentrum turnt immer michael maertens als dorfschullehrer platonow herum, ein schleimiger fraueneroberer und widerlicher zyniker, brillant allerdings in seiner selbstdiagnose: „ich bin der stein in meinem weg!“ wenn in einem stück eine pistole vorkommt, muss auch geschossen werden, hat tschechow später einmal gesagt – und das hier bereits praktiziert. tot ist am ende: platonow. kein suizid.

Samstag, 4. Juni 2011

MÜNCHEN: PERSER IN DER BAYERN-KASERNE

geführte radtour über das areal der bayern-kaserne im norden der stadt. ein riesiges, unwirtliches, leeres gelände. nur irgendwo, versteckt in diesem labyrinth, eine flüchtlingsunterkunft. die gruppe macht auf der fahrt zwischen hässlichen hallen, pavillons und kampfbahnen immer wieder halt, worauf keine erklärungen folgen, sondern sound-installationen: kriegslärm, kampfgeräusche, texte aus bosnien und palästina, von massenmord, toten kameraden, alpträumen. diese kunstaktion funktioniert als krasse einstimmung auf „die perser“ von aischylos, die die münchner kammerspiele in einer der ungastlichen hallen der bayern-kaserne spielen. „die perser“ sind die älteste tragödie der welt, ein 2483 jahre altes klagelied gegen den krieg. johan simons stellt nicht die seeschlacht von salamis ins zentrum, den untergang des übermächtigen persischen heeres gegen die unterschätzten griechen, sondern die menschen, die dadurch traumatisiert wurden. zwei dutzend laien – aus der deutschen kriegsgeneration und junge flüchtlinge aus bosnien, somalia, uganda und dem irak – bewegen sich zwei stunden lang stumm zwischen den schauspielern und ihren texten, vom krieg versehrt. sie geben dieser sinnlosigkeit, dieser ratlosigkeit, dieser hilflosigkeit ein gesicht. viele gesichter. ein berührendes lamento.